"Den Herrn lieben und andere zu solcher Liebe anstiften"

Predigt von Bischof em. Joachim Wanke, beim Dankgottesdienst anlässlich des 25j. Bischofsjubiläums von Heinrich Mussinghoff und des 50j. Bischofsjubiläums von Gerd Dicke im Dom zu Aachen am 15.02.2020

Bild: Peter Weidemann In: Pfarrbriefservice.de

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,
im zweiten Hochgebet der Messliturgie betet der Priester: „Gütiger Vater, wir danken dir, dass du uns berufen hast, vor dir zu stehen und dir zu dienen.“  Zwei unter uns haben heute Anlass, diese Worte besonders andächtig zu beten, gedenken sie doch ihrer jeweiligen Bischofsweihe: Bischof Heinrich vor 25 Jahren, Bischof Gerd vor 50 Jahren. Für uns alle ist das ein Grund zu herzlicher Mitfreude und Gelegenheit, aus diesem Anlass beiden zu gratulieren, vor allem aber auch mit ihnen gemeinsam Gott für die vergangenen Jahre ihres Dienstes zu danken.

                                                               I.
Ich bin als ein Ihnen fremder Prediger eingeladen, diesen Gottesdienst mitzufeiern – komme ich doch für Menschen aus dem Rheinland von weit her: von Thüringen, aus Erfurt, irgendwo im Osten! Das hat für mich freilich den Vorteil, dass ich der Pflicht enthoben bin, vor Ihnen das Leben und die Verdienste beider Jubilare lang und breit zu würdigen. Das möge an anderer Stelle geschehen und würde zudem hier vor Ihnen, die Sie beide Jubilare gut kennen, dem Vorhaben gleichen, „Eulen nach Athen zu tragen“!

Aber ich möchte doch kurz andeuten, warum ausgerechnet ich heute hier predigen darf.  Mit Bischof  Heinrich saß ich 17 Jahre lang, von 1995 bis 2012, Stuhl an Stuhl in den vielen Konferenzen der Deutschen Bischofskonferenz zusammen, dazu längere Zeit gemeinsam in diversen Kommissionen. Und wir merkten bald, dass wir nicht nur durch die Bischofsweihe verbunden waren, sondern auch in der gemeinsamen Einschätzung mancher anstehender Fragen und Problemlagen.

Zum anderen: Bischof Heinrich hat uns „Erfurtern“ als zuständiger Bischof für Hochschulfragen sehr geholfen, zu einer katholisch-theologischen Fakultät an der wiedergegründeten Erfurter Universität zu kommen. Diese Fakultät ist die einzige ihrer Art im ganzen Osten. Und diese hat Bischof Heinrich dann im Jahr 2002 zu unserer Freude höchstpersönlich in Erfurt mit uns „aus der Taufe gehoben“.

Und was verbindet mich mit Gerd Dicke? Dass er von Geburt ein Erfurter ist und bis 1947 dort lebte. Das wird vielleicht manchen von Ihnen nicht bekannt sein. Aber von daher rührt Bischof Dickes Interesse an uns Katholiken in Thüringen. Das wurde durch seine mehrfachen Besuche im Osten (als diese noch ein Abenteuer waren!) und durch immer neues Anteilnehmen an unserer jeweiligen Situation deutlich. So wird verständlich, dass ich als einer, der aus der Ferne kommt, dennoch heute zusammen mit Ihnen allen die beiden Jubiläen mitfeiern darf.

Nun ist das heutzutage nicht so einfach, katholische Bischöfe in das Licht öffentlicher Aufmerksamkeit zu rücken. Sagen wir es rund heraus: Katholische Bischöfe  – unabhängig von Ihrer Person und Ihren jeweiligen Verdiensten – haben an allgemeiner gesellschaftlicher Reputation verloren. Ihnen, oder sagen wir es genauer: dem Bischofsamt als solchem wird derzeit kein so selbstverständliches Vertrauen entgegengebracht wie früher. Das hat viele Gründe, unter anderem sicher auch in früheren bischöflichen Fehlurteilen oder in Missständen, die als solche in der Vergangenheit nicht richtig eingeschätzt bzw. – aus heutiger Sicht – nicht konsequent genug bekämpft wurden.

Beinahe mehr noch als in alten Zeiten gilt der Satz aus dem 1. Timotheusbrief: „Wer das Amt eins Bischofs anstrebt, der strebt nach einer großem Aufgabe“ (1 Tim 3,1). Nun – mit der „großen Aufgabe“ ist das so eine Sache! Ich illustriere das einmal mit einer Episode aus dem Leben meiner längst verstorbenen schlesischen Mutter, Jahrgang 1907, also noch aus wilhelminischen Zeiten stammend. Als Mutter 1980 die Nachricht erhielt, ihr Sohn Joachim sollte in Erfurt Bischof werden, da hat sie – so berichtete mir meine Schwester – geweint!  Mutters Bischofsbild war noch geprägt vom Breslauer Kardinal Bertram. Dieser war beinahe noch ein „Fürstbischof“, Mitglied im Preußischen Oberhaus, damals einer der führenden Bischofsgestalten Deutschlands.

Dass ich Pfarrer werden wollte, das hat Mutter gern mitgetragen. Das war in ihren Augen ein ehrenwerter Beruf. Aber Bischof? Wir spüren, wie tiefgreifend sich Mentalitäten und Einschätzungen auch im Gottesvolk im Blick auf die konkrete Kirche und ihre Ämter verändert haben. Man kann bei vielem nur sagen: Gottlob! Umso mehr lässt es uns fragen, was eigentlich geistliche, beispielsweise bischöfliche Autorität ausmacht.

In der Diaspora speziell des damaligen kommunistischen Ostens bestand sicher keine Gefahr, sich als Bischof noch Reste eines „fürstbischöflichen“ Verhaltens zu konservieren. Und zudem: Es gab auch in früheren Zeiten in ganz Deutschland viele positive Beispiele von Bischöfen, die überzeugende, glaubwürdige  Hirtengestalten waren. Ich hatte das Glück, als Bischof in Erfurt Hugo Aufderbeck zu erleben, der uns Theologen und jungen Kaplänen in vieler Hinsicht  ein gutes, an der Bibel ausgerichtetes Vorbild war. Und hier in Aachen darf ich in diesem Zusammenhang an Bischof Klaus Hemmerle erinnern, den wir heute ebenfalls in unser Beten einschließen. Und mancher von Ihnen mag auch an andere prägende Bischofs- und Priestergestalten denken, die ihm oder ihr in ihrer je eigenen religiösen Biographie Halt und Hilfe waren. - Darum nochmals die Frage: Was meint eigentlich geistliche Autorität?  Was macht sie aus? Aus welchen Quellen speist sie sich?

                                                           II.
Da verweise ich auf das heute verlesene Evangelium aus Johannes 21: Simon Petrus, der vom Herrn als Glaubensfels Berufene und der angesichts des Kreuzes zum Versager wurde – er wird vom Herrn zum zweiten Mal zum Glaubensfels der Kirche eingesetzt.

Es ist bezeichnend, wie das geschieht. (Und diese Perikope ist – nur nebenbei gesagt – nicht als erbauliche, fromme Episode aus alten, längt vergangenen Zeiten  zu lesen. Nein, man sollte sie so lesen, wie man heute einen Rechtstext zur Kenntnis nimmt, die  Präambel etwa einer Verfassung. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ein solcher Satz ist mehr als Lyrik. Er beansprucht grundsätzliche Geltung. Er ist – wie unsere biblische Perikope – zeitlos gemeint. Also: Wer zum „Petrus“ berufen wird, zu einem Hirten im Sinne Jesu, ausgestattet mit geistlicher Autorität, hat sich das, was hier zu lesen ist, sehr zu Herzen zu nehmen.

Wir würden uns vermutlich andere Fragen vorstellen, die Jesus dem Simon in der Stunde der erneuten Einführung in sein Amt hätte stellen sollen. Etwa: Simon, Sohn des Johannes, was hast du für ein pastorales Programm? Oder: Welche besonderen Fähigkeiten qualifizieren dich zum Leitungsdienst in der Kirche?  Oder: Werden dich die anderen in deinem Hirtenamt akzeptieren? Oder gar: Wirst du in den Medien eine gute Figur machen? Aber nichts von diesen oder ähnlichen Fragen. Was der Herr wirklich wissen will, steckt in dieser einzigen (nicht umsonst dreimal gestellten)  Frage: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?

Das kann erschrecken – und dennoch zugleich trösten. Erschrecken, weil diese Frage kein Versteckspiel, keine falsche Selbstpräsentation zulässt. Es ist zu vermuten, dass Petrus auch bestimmte Qualifikationen für sein Amt mitgebracht hat: Führungsstärke, Organisationstalent, Überzeugungskraft und Engagement   – aber all das scheint letztlich zweitrangig zu sein angesichts der Frage Jesu, die durch das Äußere hindurch auf die Mitte zielt: Petrus, wo ist dein Herz? Gehört es mir? Bin ich dir mehr wert als alles andere in der Welt, als Ansehen, Besitz, als Menschen? Wer möchte da nicht erschrecken, wenn so radikal gefragt wird?

Aber zugleich ist diese Frage Jesu auch tröstlich, denn: sie zeigt uns, was der Herr von denen will, die seinem Volk in geistlicher Autorität dienen sollen. Sie sollen sich nicht einzureden, sie müssten die Kirche durch ihr Können, ihre Klugheit oder ihr Geschick über Wasser halten. Die Frage Jesu an seinen Oberhirten kann uns kleinen „Unterhirten“ eine tiefe Gelassenheit geben: Wir stehen nicht unter Erfolgszwang und Leistungsdruck, als hinge die Zukunft der Kirche von uns ab. Unsere einzige und wichtigste Sorge soll es nach dem Willen des Herrn sein: dass wir ihn lieben.

Freilich – das ist kein Alibi für Bischofskandidaten, die die Erwartungen an ihre Amtsführung charismatisch herunterschrauben wollen – nach dem Motto: Hauptsache fromm!  Denn: Was könnte fordernder sein als eine Liebe, die sich selbst vergessen soll, um sich ganz dem Herrn zur Verfügung zu stellen, und zwar mit allem, was ein Mensch besitzt: mit Verstand und Gemüt, mit Können, Zeit und Leistungskraft? Nein, die Frage Jesu ist kein Ruhekissen. Dennoch meine ich, gibt der Herr hier eine wunderbare Verheißung. Er sagt: Wenn du mich liebst, kannst du getrost an die Aufgabe gehen, zu der ich dich rufe – und zwar ohne dich als „Großinquisitor“, als Aufpasser und Richter über andere aufzuspielen!

Woher diese Zuversicht? Zum einen: Weil die Kirche von der Liebe lebt, mit der Christus uns liebt. Wir könnten auch sagen: Die Kirche ist umso lebendiger, je mehr in ihr und durch sie auf Christi Liebe liebend geantwortet wird. Denn das ist der letzte Daseinszweck der Kirche. Sie will den Raum schaffen, besser: sie ist selbst der Raum, in dem die hingebende, bis zum Äußersten gehende Liebe Jesu Christi ein Echo, also Nachahmung finden soll. So wie die Sonne aus dem Ackerboden Leben hervorlockt, so wie die Zuwendung der Mutter das erste Lächeln auf dem Angesicht des kleinen Kindes hervorzaubert, so entspringt das Leben der Kirche der Liebe Jesu Christi.

Sicher, wir brauchen in der Kirche auch Büros und Computer, wir brauchen Planung und Organisation. Aber ist je gehört worden, dass jemand sich deswegen zu Gott bekehrt hätte? Nein, allein die Liebe Christi führt zur Bekehrung, zu Umkehr und Neuanfang – und diese Liebe erreicht uns im Wort des Evangeliums, wenn dieses unser Herz berührt, in den Sakramenten, die der Herr uns als Angeld des Künftigen feiern lässt, und in Menschen, die mit der Nachfolge Christi ernst machen und so auch andere aus falscher Selbstgenügsamkeit aufscheuchen.

Soziologen begreifen das nicht, wenn sie die konkrete Kirche unter ihr Seziermesser nehmen. Sie sehen „Menschliches“, „Allzumenschliches“. Das ist so, wie wenn man ein Weizenkorn unter das Mikroskop legt! Diese Art von forschendem Blick verrät gerade nicht, warum das Korn im Frühjahr wächst und dann reift und schließlich Frucht bringen kann, eben – weil die Kraft der Sonne letztlich so nicht erfasst werden kann. Es bleibt dabei: Die Kirche lebt – nicht, weil wir gut sind, sondern weil Christi Liebe in ihr und durch sie hindurch am Werk ist, in jeder Generation neu.

Und zum anderen erkenne ich in der Fragestellung  Jesu eine listige göttliche Pädagogik: Petrus wird auf seine Liebe hin befragt, damit ihm deutlich wird, womit er „binden“ und „lösen“ kann. Er kann dies, weil auch andere, die ihm später Anvertrauten, Christus lieben.

Mir begegnet manchmal die treuherzige Erwartung, man habe als Bischof nur anzuordnen und zu befehlen, dann gehorcht alles in der Kirche. „Herr Bischof, da müssten Sie einmal etwas sagen ..., dort müssten Sie einmal eingreifen, zur Ordnung rufen!“ usw. Sicher, es gibt eine Ordnung in der Kirche, für die der Bischof zu sorgen hat. Aber der Gehorsam, der in der Kirche dem Bischof zu leisten ist, ist ein Glaubensgehorsam. Er gilt nicht der besonderen Klugheit des Bischofs oder seinem besonderen Führungsgeschick, er gilt dem Herrn! Darum kann ein Bischof, wenn er kraft seines Amtes Gehorsam erwartet, sich im Grunde bei den Angesprochenen nur auf deren Glauben und deren Liebe zum Herrn berufen. Weil auch die ihm Anvertrauten Christus lieben, gehorchen sie dem, der vom Herrn das Amt der Leitung empfangen hat. Somit ist Gehorsam und Leitungstätigkeit in der Kirche letztlich doch etwas anderes als das Einhalten und Durchsetzen einer Parteidisziplin oder einer Straßenverkehrsordnung.
Zugegeben: ein Bischof ist gut beraten, wenn er diese seine geistliche Autorität nicht andauernd herauskehrt. Er muss selbstkritisch bleiben. Wir wissen: Es gibt auch Missbrauch von Autorität, in der Welt und – Gott sei es geklagt – auch in der Kirche. Nicht alle Weisheiten, die aus bischöflichem Mund fließen, sind Offenbarungswahrheiten. Die Kirche tut gut daran, auf die Beachtung von gestufter Verbindlichkeit von kirchlichen Weisungen zu achten, ja deren Missachtung ggf. auch zu sanktionieren. Aber jeder Bischof wird dort, wo ihn seine eigene Liebe zum Herrn drängt, ein Wort der Mahnung oder der Ermunterung zu sagen, darauf angewiesen sein, dass die ihm Anvertrauten dieses Wort annehmen, nicht als Menschenwort, sondern als „Wort des Herrn“.

Wir haben alle die etwas kleinlaut klingende Antwort des Petrus auf die dritte Wiederholung der Frage im Ohr. Es ist freilich eine Antwort, die in ihrem Vertrauen auch großartig ist: „Herr, du weißt alles, du weißt auch, dass ich dich liebe.“ Der Satz aus dem 1. Johannesbrief, den wir in der heutigen Lesung hörten, klingt wie ein Echo auf diese Petrusantwort:  „Wenn das Herz uns auch verurteilt – Gott ist größer als unser Herz. Er weiß alles“ (1 Joh 3,20).
So gehört beides zusammen: das Wissen um unser Ungenügen – und das Vertrauen auf den immer größeren Gott, der auch aus unserer Schwachheit etwas machen kann  und (im Blick auf uns emeritierte Bischöfe)  gemacht hat.

Aber wer sagt eigentlich, dass wir  Senioren- Bischöfe von geistlicher Autorität „emeritiert“, also entlastet sind? Wir bleiben auch im „Ruhestand“ unserer Berufung verpflichtet – den Herrn zu lieben und andere zu solcher Liebe anzustiften. In diesem Sinn, lieber Bischof Heinrich, lieber Bischof Gerd, gilt auch für Euch der Wunsch: Ad multos annos! Auf noch viele gesegnete Jahre eines solchen heilsamen geistlichen Dienstes!  Amen.