Dem Nächsten gut sein wollen - wie sich selbst

Predigt von Bischof Joachim Wanke im Wortgottesdienst vor dem Elisabethempfang des Bistums Erfurt 2011

Schrifttext: Römerbrief 13,8-10

Der Apostel Paulus bringt es auf den Punkt: "Bleibt niemand etwas schuldig; nur die Liebe schuldet ihr einander immer." Der Apostel will die innere Verbundenheit der verschiedenen Gebote der 2. Tafel des Dekalogs aufzeigen, die bekanntlich das Verhalten zum Mitmenschen regeln: Nicht die Ehe brechen, nicht töten, nicht stehlen, nicht (auf Kosten des anderen) begehren - diese Verhaltensweisen lassen sich zusammenfassen in dem einen Gebot: Du sollst deinem Nächsten gut sein - so wie du dir selbst gut bist.

So möchte ich einmal diesen Satz des christlichen Hauptgebotes übersetzen, um damit das Missverständnis auszuräumen, es gehe hier um eine gefühlsmäßige, affektive Zuneigung zum anderen. Die kann man bekanntlich weder verordnen noch sich selbst befehlen.

Nein: Du sollst dem Menschen das gleiche Gute wünschen, das du dir selbst wünschst. Das meint "Liebe zum Nächsten": dass der Andere neben mir ebenso wie ich Anteil hat an den Gütern der Erde, an sauberer Luft, an politischer Freiheit, dass er ein unangefochtenes "Zuhause" besitzt, seine Würde geachtet bleibt und er jene Hilfe erfährt, die auch ich mir erhoffe, wenn ich sie brauche.

Das, dieses Wollen, diese Bereitschaft, meint der Apostel, schulden wir einander immer. Davon kann sich niemand dispensieren. Die normalen Schulden kann man durchaus abgelten. Sie sind begrenzt. Sie hören einmal auf. Man kann irgendwann sagen: Jetzt bin ich mit dem anderen quitt. Da hört das "immer" im Wort des Apostels auf.

Anders hier: "Die Liebe schuldet ihr einander immer!" Ist das überhaupt möglich - selbst wenn wir dieses Lieben als ein "dem anderen Gut-sein-Wollen" interpretieren? Wir wissen ja, wie schnell wir in dieser Bereitschaft erlahmen können. Macht der andere ein schiefes Gesicht, erweist er sich als undankbar, unbelehrbar, als hoffnungsloser Fall - da hört unsere Bereitschaft zum Gutsein bald auf.

Vielleicht ist das mit rationalen Gründen allein auch nicht zu begründen, noch weniger durchzuhalten. Ich versuche einmal einen anderen Zugang.

Unter meiner Schreibtischplatte liegt ein Wort von Charles de Foucauld, eines französischen Offiziers und Lebemannes, der sich später bekehrte und ein Ordensgründer wurde. Dieses Wort lautet: "Man versteht das Evangelium nur, wenn man es tut!"

Was gemeint ist, verstehen wir. Ich muss mich auf manche Dinge konkret einlassen. Erst dann verstehe ich, worum es geht. Über den Beruf des Lehrers kann man kluge Artikel schreiben und lichtvolle Vorträge halten. Aber was diesen Beruf eigentlich ausmacht, kann wohl nur der erfassen, der sich Tag für Tag darauf einlässt: mit Kindern und Jugendlichen zusammenzusein, ihren Weg zu begleiten, mit ihnen zu arbeiten, mit ihnen das Leben zu teilen, sie wachsen und reifen zu sehen. Dann zeigt sich, gleichsam im Nachhinein: Ja, das macht Sinn. Das ist meine Berufung. So allein kann Erziehung gelingen.

Paulus will uns zum Tun bewegen. Er appelliert an eine Lebenspraxis, damit wir nach und nach verstehen lernen: Ohne das sich gegenseitig Gut-Sein-Wollen kann eine Gesellschaft nicht menschlich bleiben und - noch tiefer - können wir dem Gott, der dieses Gut-Sein uns gegenüber praktiziert, nicht gefallen.

Darum also die Einladung: einander das Gute gönnen und wollen, dass nicht nur ich es erlange, sondern auch der andere. Und damit auch der Letzte das versteht, fügt der Apostel im Umkehrschluss ausdrücklich hinzu: Die Liebe, also diese alle sonstigen Schuldigkeiten übersteigende grundlegende Haltung des "Ich gönne auch dir, was ich mir gönne!" - diese Liebe tut dem Nächsten nichts Böses! Das wäre ja doch schon einmal ein Anfang.

Man kann das als überzogene Spinnerei abtun, als Sozialromantik, die nicht mit den uns angeborenen Egoismen rechnet. Ist es nicht doch so: Der Mensch bleibt dem anderen Menschen ein Wolf, wie es schon die Antike formulierte? Doch frage ich zurück: Ist nicht vieles uns angeboren - und dennoch nicht gut? Es macht den Menschen zum Menschen, dass er dies erkennen und so über seine Veranlagungen und Triebe hinauswachsen kann.

Hier gilt nun freilich die eben genannte Erfahrung: Man kann über moralische Einstellungen und gerechte soziale Ordnungen lang und breit diskutieren. Es geschieht dann nichts. Das Reden bleibt folgenlos. Veränderung geschieht allein, wenn man das Gute und Angemessene einfach tut. Und vor allem sich traut, damit notfalls als Einzelner anzufangen.

Elisabeth etwa hat es auf der Wartburg getan. Und sie hat damit unsere Kultur geprägt. Sie hat nicht nur über die Nächstenliebe theoretisiert (wie ich es hier tue), sie hat sie geübt (und ob ich das heute getan habe, darüber muss ich mir am Abend bei meiner persönlichen "Tagesschau" vor Gott Rechenschaft geben).

Übrigens möchte ich jene, welche die hier auf Grund der Bibel entwickelte Denkrichtung nicht überzeugt, auf den amerikanischen Kommunitarismus aufmerksam machen. Das ist eine interessante gesellschaftliche Bewegung, die dem von Paulus skizzierten Gebot sehr nahe kommt: Jede konkrete Tat der Nächstenliebe, die einem Einzelnen aufhilft, jedes gerechte Gesetz, das Übervorteilungen abwehrt und Lasten gerecht verteilt, jede Initiative, die Zugangswege für viele bei der Teilhabe an den gesellschaftlichen Gütern ermöglicht - all das ist besser, als darüber nur in Feuilletons kluge Artikel zu schreiben. (Und ich füge hinzu: Predigten zu halten!).

Der Volksmund sagt: "Der Geschmack kommt beim Essen!" Charles de Foucauld sagt: Man versteht das Evangelium nur, wenn man es tut.

Eine christliche Gemeinde darf sich nicht allein auf den Gottesdienst beschränken. Sie muss auch konkret und beispielhaft Menschen in den Bedrängnissen des Alltags beistehen. Sie muss gleichsam auf zwei Lungenflügeln atmen: der Gottesliebe und der Nächstenliebe. Sonst wird sie asthmatisch. Übrigens: Wenn eine Gemeinde sozialen Einsatz zeigt, wird auch ihr Gottesdienst glaubwürdiger.

Und Politiker - sie müssen sich ja nicht gleich sympathisch finden. Aber sie sollten dem anderen zugestehen, was er oder sie sich selbst wünscht: fair behandelt zu werden, vor Unrecht und persönlicher Entwürdigung bewahrt zu bleiben und nicht falsche Motive untergeschoben zu bekommen. Ich meine, so ein Verhalten überzeugt auch Wähler.

Darum ist es gut, heute wieder an die hl. Elisabeth zu denken. Mehr noch: sie zu feiern und - das ist meine Einladung - ihrem Lebensbeispiel zu folgen. Besonders wir Thüringer (und die in Thüringen leben und arbeiten) sind es ihr schuldig. Amen.


Predigt gehalten am 17.11.2011 in der Erfurter Brunnenkirche