Die eine Heilige Schrift - die geteilte Christenheit! Fünf Jahrhunderte hat uns Christen das unterschiedliche Verständnis der Bibel voneinander geschieden. Es ist meine feste Überzeugung: Die Bibel hat auch das Potential, uns wieder zusammenzuführen. Diesem Anliegen wollen die diesjährigen Erfurter Fastenpredigten dienen: zwei evangelische, zwei katholische- aber mehr noch: vier Predigten, die sich gemeinsam an der Bibel orientieren!
Mein Anliegen heute: Lasst uns wieder neu auf die Heilige Schrift hören, in ihr lesen - durchaus auch allein, aber möglichst auch gemeinsam, vor allem auch ökumenisch gemeinsam! Das ist Ökumene, "Arbeit an der Einheit" im besten Sinne des Wortes.
Eine solche Einladung - zumal durch einen katholischen Prediger - ist nicht selbstverständlich. Die Älteren unter uns erinnern sich: Es gab vor nicht allzu langer Zeit Warnungen unserer Kirche vor der Lektüre nichtkatholischer Bibelübersetzungen. Das hing mit der Sorge zusammen, dass Heilige Schrift und Kirche gegeneinander ausgespielt werden könnten - so wie seinerzeit Luther in vielen Schriften und Religionsdisputen darauf bestand: Es sollte im Glauben nur gelten, was aus der Bibel beweisbar ist. Darüber im 2. Teil meiner Predigt.
Zunächst möchte ich in einem 1. Teil daran erinnern, was für uns Christen in allen Konfessionen die Heilige Schrift so kostbar macht. Es geht hier um das Wort Gottes! Ja, das ist richtig. Aber wie ist denn überhaupt der Zusammenhang von Bibel und Wort Gottes zu verstehen? Was ist gemeint, wenn nach dem Vortrag der Lesung in unserem Gottesdienst gesagt wird: "Wort (Singular!) des lebendigen Gottes"? Dieser Ruf erinnert zunächst an eine wichtige Unterscheidung:
1. "Wort Gottes" meint mehr als die einzelnen Wörter und Sätze der Heiligen Schrift.
Natürlich ist die Hl. Schrift "Wort Gottes". Aber eben doch nicht in dem Sinn, als ob der Text der Hl. Schrift und das Wort Gottes identisch wären (so wie manche Überlieferungen im Islam den Koran als unmittelbare Stimme Gottes verstehen: Gott hat arabisch gesprochen!). Nein: Gott spricht nicht hebräisch, griechisch oder deutsch. Die Bibel ist das Medium des Wortes Gottes, gleichsam sein "Gefäß", seine Hülle.
Das "Wort Gottes" ist also nicht unmittelbar die gedruckte oder vorgelesene Hl. Schrift. Das "Wort Gottes" ist in den Worten der Bibel enthalten.
Das ist so, wie wenn ich einen Brief erhalte oder schreibe. Da stehen zwar auf dem Papier Wörter und Sätze. Die haben eine konkrete Situation als Hintergrund. Da geht es vordergründig um Dieses oder Jenes. Aber hinter den Sätzen des Briefes, der Art und Weise, wie er geschrieben ist, hinter der "Melodie" des Textes steckt die eigentliche Botschaft, z. B. diese: "Ich denke an dich!" Oder: "Du fehlst mir sehr!" Oder: "Ich hab dich gern!" Oder: "Das Vergangene soll vergessen sein. Lass uns miteinander wieder neu anfangen!"
Das gilt es also zu unterscheiden: Das eine sind die Worte auf dem Papier, das andere ist die "Melodie", die in den Worten anklingt, die unser Herz erwärmt, erfreut, tröstet - oder auch aufrüttelt, vorausgesetzt, ich lasse diese "Melodie" an mich heran.
Am eindringlichsten ist ja eine Botschaft, wenn man sie persönlich überbracht bekommt. Bei wichtigen Dingen, die zwischen Regierungen zu klären sind, schickt man keinen Brief, sondern man schickt einen Diplomaten, einen Botschafter. Oder der Regierungschef fährt persönlich in das andere Land und sagt, was Sache ist. Einem Redenden beim Sprechen ins Gesicht zu schauen, offenbart schon etwas mehr von dem, was er eigentlich sagen will. (Der Apostel Paulus klagt manchmal, dass er den Gemeinden "nur" schreiben kann. Lieber würde er persönlich anwesend sein...)
Wir wissen: Die Evangelisten etwa haben ihre Berichte nicht geschrieben, um unsere historische Neugier zu befriedigen, sondern um zum Glauben an Jesus Christus als den von Gott verheißenen Retter und Heiland zu führen. Aber die Evangelisten wussten auch: Zum Glauben kommt man nicht durch Papier und Druckerschwärze. Im Gegenteil. Manchmal ist es sogar so: Je mehr Worte gemacht werden, desto misstrauischer wird man. Es ist eigentlich ein Notbehelf, dass die Frohbotschaft aufgeschrieben wurde.
Gott hat es anders gemacht als wir Menschen uns das ausdenken konnten. Er hat uns kein kluges Buch geschenkt. Er hat uns keinen Brief geschrieben. Gott hat sich vielmehr uns gegenüber in seinem "Sohn" Jesus Christus ausgesprochen. Jesus selbst ist das eine, bleibende "Wort", das wir mit Verstand und Herz, mit den Augen und - wenn wir an die eucharistischen Gaben denken - mit den Händen ergreifen, "begreifen" können, gleichsam mit allen Sinnen. Der 1. Johannesbrief sagt es im Rückblick auf das Leben Jesu so: "Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens" (1 Joh 1,1). Der Kirchenvater Irenäus von Lyon hat dies noch kürzer so ausgedrückt:
2. "Jesus Christus ist das Wort in den vielen Wörtern".
Das ist die zweite wichtige Einsicht, an die uns der Zuruf des Lektors/der Lektorin "Wort des lebendigen Gottes!" erinnert. Die Heilige Schrift will nichts anderes, als uns zu helfen, Jesus Christus zu begreifen als das uneinholbare, letzte und bleibend gültige "Wort" des himmlischen Vaters. Sie will helfen, Jesus Christus immer tiefer kennen- und lieben zu lernen, sich ihm in der eigenen Lebenshaltung anzugleichen, ihm ähnlich zu werden, um so andere auf ihn aufmerksam zu machen, aber auch so selbst in ihm Seligkeit und Lebensfülle zu finden. Und das gilt auch für die Schriften des Alten Testaments, die für den Christen das Verständnis dafür wecken, dass unser Herr aus dem Volk Israel, dem von Gott bis heute geliebten Volk der Verheißung gekommen ist. Darum sind übrigens gläubige Juden für uns nicht Fremde, sondern "ältere Geschwister im Glauben" (Papst Paul VI.).
Es gilt also: Die Person Jesu Christi ist wichtiger als der Bibeltext. Das mag eine Binsenwahrheit sein, aber in unserem Zusammenhang unserer Frage nach dem Stellenwert der Bibel von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Eine alltägliche Beobachtung: Ich merke manchmal (mit Abstrichen natürlich ), dass ich meine Lektüre danach ausrichte, was mir von Personen, die ich schätze, empfohlen wird. "Ja, wenn der oder die das empfiehlt, da musst du dir das auch mal zu Gemüte führen!" Das ist wohl eine Erfahrung, die uns nicht fremd ist. Auf unser Thema bezogen: Bücher leben davon, empfohlen zu werden. Nur nebenbei: Wenn Jesus in seinen Erdentagen selbst aus dem Psalter gebetet hat, wäre das übrigens auch für mich vielleicht ein geeignetes Gebetbuch!
Nochmals: Texte fangen an zu sprechen durch Personen. Jesus hat Jünger herangebildet - keine Texte verfasst. Er hat Menschen beten gelehrt, und dabei lernten sie das "Vater Unser" und so überlieferten sie es uns. Jesus hat sich der der Menschen erbarmt - und darum verstanden die Jünger, was er mit dem Gleichnis vom bösen Knecht sagen wollte. Wir erinnern uns: Dem wurde eine Riesenschuld nachgelassen, aber zu eigener Großherzigkeit gegenüber seinem Mitknecht in einem viel geringeren Fall fand er nicht die Kraft. Wer eine ähnliche Großherzigkeit selbst einmal an sich erfahren hat, kann ganz anders - überzeugender, engagierter - über dies Gleichnis reden.
Das bedeutet: Eigentlich ruft die Bibel nach Zeugen, nicht nach Buchhändlern. Die Schriften der Bibel wollen uns helfen, gleichsam mit der "Brille" Jesu auf den Gott der Verheißung, wie er sich im Alten und Neuen Testament bezeugt, zu schauen. Deshalb muss man in die "Schule Jesu" gehen, um ein rechtes Verständnis von diesem Gott zu gewinnen. Etwa: dass für Gott Liebe vor Anspruchsdenken geht, und dass Erbarmen wichtiger ist als Prinzipien hochzuhalten. Man muss Jesus gehört, verstanden und im eigenen Leben mit ihm Erfahrungen gemacht haben, um anderen davon etwas weitergeben zu können. Wir Christen selbst mit unseren Erfahrungen sind also die eigentlichen Interpreten der Bibel - mit unserem Glauben, Hoffen und Lieben, mit unserem eigenen und gemeinsamen Leben, und zwar mit all seinen Höhen und Tiefen. Damit meine ich - und dies ist meine dritte Erinnerung:
3. Die Bibel ist der Kirche anvertraut.
Kirche meint hier das ganze Volk Gottes in seiner geistlichen Buntheit und vielfältigen Gnadenbegabung. Wenn eine Frau und Mutter einmal den Mund aufmacht und sagt, was für sie in ihrem Lebensalltag das Osterlicht bedeutet; wenn ein Mann der Politik bezeugt, wie er Gott vorzuordnen versucht vor der gebotenen Loyalität zum eigenen Parteiprogramm; wenn ein Jugendlicher merkt, dass es wertvoller ist, einen wirklichen Freund zu haben als viele Dinge zu haben - dann geschieht das, was immer in der Glaubensgeschichte passiert ist: Dann werden Menschen nachdenklich. "Du bist nicht fern vom Reiche Gottes!" sagt Jesus dem fragenden Schriftgelehrten (Mk 12,34).
Jesus hat erleben müssen, dass manche den großen Wurf der Glaubensnachfolge nicht wagten, etwa der reiche Jüngling, dem es unvorstellbar war, sich von seinem Reichtum zu trennen (Lk 18,23). Wir wissen nicht, wie es mit dem jungen Mann weiterging. Nur eines wissen wir: Jesus hat ihm keine gedruckte Sammlung seiner Gleichnisse mitgegeben. Vielleicht hat er ihm einen seiner Jünger hinterhergeschickt.
Der chancenreichste Einstieg in Biographien findet die biblische Botschaft, wenn sie sich auf der Beziehungsebene zwischen Menschen einnisten kann. Es gibt nichts Interessanteres als das Leben von Mitmenschen. "Wie ist es Dir mit deiner Ehe ergangen?" "Wie kommst Du mit den Kindern zurande?" "Wie hast Du diesen Schicksalsschlag verkraftet?" "Wie kommt es, dass Du, der Du doch sonst ganz vernünftig bist, ständig zur Kirche rennst?" Wir kennen solche Fragen und Sticheleien zur Genüge. Worte allein reichen hier nicht als Antwort. Es bedarf der Berührung des anderen mit der eigenen Person. Das Miteinander-Bibel-Lesen braucht ein (Mindestmaß an) Miteinander-Leben.
Jesu Art und Weise, in sein eigenes Gottesverhältnis einzuführen, bestand ja darin, die Jünger an seinem Leben, seinem Beten, seinen Freuden und Schmerzen, selbst an seinen Versuchungen Anteil zu geben. "Kommt und seht!", sagt Jesus denen, die auf ihn aufmerksam werden. "Da gingen sie mit und sahen, wo er wohnte" (Joh 1,39).
Wir glauben niemals allein. Wir glauben mit dem Glauben der anderen. Wir glauben mit dem Glauben derer, die uns "im Glauben vorangegangen sind", wie es einem eucharistischen Hochgebet heißt. Wir glauben zusammen mit den Heiligen, mit denen, die im Kalender stehen, und den unzähligen, die Gott allein kennt. Wir glauben im Letzten den Glauben Jesu mit, der ja nach Hebr 12, 2 der "Urheber und Vollender des Glaubens" ist, eine sehr merkwürdige, aber mich nachdenklich machende Christusbezeichnung.
Damit bin ich schon (im 2. Teil meiner Predigt) bei dem, was manchmal als evangelisch-katholische Differenz im Blick auf den Umgang mit der Heiligen Schrift angesehen wird: die Rolle, die die Kirche bei der Schriftauslegung spielt. Manche evangelische bzw. freikirchliche Mitchristen meinen, bei uns Katholiken schiebe sich zwischen Christus und den Einzelnen in ungebührlicher Weise die Kirche als eine Christus verdunkelnde Heilsanstalt. Ich versuche dies hier einmal richtig zu stellen.
Das Thema Schrift und Tradition, unter dem diese Problematik theologisch verhandelt wurde, hat in der Vergangenheit zwischen Katholiken und Protestanten heftige Kontroversen ausgelöst. Dazu hat nicht zuletzt beigetragen , dass in der älteren katholischen Theologie oft eine "Zwei-Quellen-Theorie" vertreten wurde, wonach die göttliche Offenbarung teils in der Schrift, teils in der mündlichen Tradition enthalten sei. Diese "Denkfigur" entwickelte sich aus Situationen, in denen seinerzeit einzelne Theologen bzw. theologische Denkschulen die Hl. Schrift gegen die Glaubensüberzeugung der Kirche in Stellung brachten, die Theologie aber damals noch nicht in der Lage war, darauf sachgerecht und vor allem unpolemisch zu antworten.
Das bekannteste Beispiel dafür ist sicherlich die Szene: Luther auf dem Reichstag in Worms. Luther beruft sich in der Frage der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade allein auf die Schrift. Und die Kirche weiß noch nicht richtig auf die Frage zu antworten, ob nicht auch die von der Gnade Gottes ermöglichten Werke des Menschen etwas mit der ganz und gar geschenkten, gnadenhaft uns zukommenden Rechtfertigung zu tun haben könnten. Vielleicht vergleichsweise so, wie der Dank wie selbstverständlich mit zum Vorgang des Beschenkt-Werdens gehört .... Heute können wir dies besser als damals theologisch reflektiert formulieren. (Das ist jetzt in einer gemeinsamen evangelisch-katholische Verständigung über die Rechtfertigungslehre geschehen, der sich übrigens auch erfreulicherweise die methodistische Weltgemeinschaft ausdrücklich angeschlossen hat).
Halten wir fest: Es gibt nur die eine "Offenbarung", die uns in der Schrift und der Glaubensüberlieferung der Kirche vorliegt.
Die kirchliche Überlieferung hat freilich zwei wichtige Aufgaben: 1. gibt sie der Kirche Klarheit über den verbindlichen Kanon der inspirierten Schriften, also was eigentlich zur Bibel dazugehört und was nicht. Sodann hilft sie 2. der Kirche, in der Gewissheit des Glaubens an die in der Hl. Schrift enthaltene Offenbarung Gottes zu verharren und darin sich nicht irre machen zu lassen. Dass die Hl. Schrift für mich also eine Wahrheit für Leben und Sterben ist, bezeugt mir nicht der gedruckte Bibeltext, sondern der sich darin und darüber hinaus auf vielfältige Weise zeigende, feste, ununterbrochene Glaube der Kirche von den Zeiten der Apostel an. Das will unser katholischer (und hoffentlich bald auch gemeinsamer katholisch-evangelischer) Glaube festhalten: Das untrennbare Ineinander von mündlichen und schriftlichen "Verkörperungen" des einen apostolischen Glaubens im Wort der Schrift und deren Überlieferung ("traditio") durch die Jahrhunderte. Nur nebenbei sei angemerkt: Zu diesen "Verkörperungen" des Glaubens gehört - neben manchem Anderen - auch die kirchliche Kunst und Musik: etwa Bach und Mozart!
Auch in den Kirchen der Reformation ist in neuerer Zeit die Wertschätzung für die grundlegende Bedeutung der Glaubensüberlieferung, der "Tradition" gestiegen. Denn diese Überlieferung ist ein Werk des Heiligen Geistes. Sie manifestiert sich in den verschiedenen Lebensäußerungen der Kirche, etwa in der Verkündigung (Predigt), in der Feier der Sakramente, in Beratungen von Synoden, in der Katechese, in der Mission, in der theologischen Reflexion und im sog. Glaubenssinn ("Glaubensgespür") aller Christusgläubigen. Wir sehen: Das alte kontroverstheologische Problem hat sich also entscheidend "entkrampft". Es hat heute (im Gegensatz zu früher) keine substantiell kirchentrennende Bedeutung mehr.
Das dürfen wir nicht vergessen: Die Kirche ist um des Evangeliums willen da. Evangelium meint in diesem Zusammenhang nicht nur die Botschaft des irdischen Jesus von Nazareth, wie sie uns in den vier Evangelium aufgezeichnet ist. Evangelium meint Jesus Christus selbst und die österliche "Wende", die er gebracht hat. Paulus etwa versteht das, was er "Evangelium" nennt, als Beginn eines grundlegenden Machtwechsels. Durch Jesu Ostersieg sind alle weltlichen Mächte und Gewalten aus ihren Machtpositionen abgelöst. Nicht mehr der Kaiser in Rom ist der eigentliche Herr über die Welt. Gott hat vielmehr den Auferstandenen zum Herrn und Kyrios eingesetzt, auch über die Kirche, die als "Geschöpf Christi" ("creatura Christi") dabei hilft, die Reich-Gottes-Anwärter aus der Menschheit aller Zeiten und Länder zu sammeln. Dieser "Wende-Botschaft", diesem Evangelium soll in jeder Generation neu durch die Kirche (wie bei einem kostbaren Instrument) ein "Resonanzraum" geschaffen werden. Darum geht es also: Sich in seinem Leben neu, österlich ("nachwendemäßig"!) auszurichten.
Und dazu dient auch die Bibel: Sie soll helfen, in jeder Generation neu die gemeinsame und je einzelne Antwort auf Gottes Anruf, auf seine "Melodie" hervorzulocken. Es geht um ein "Mit-Einstimmen" in diese Melodie, und zwar hier und heute. Das Evangelium ist nicht Theorie, nicht Lehre, nicht Weltanschauung. Es ist zutiefst Praxis.
So sehe ich das Verhältnis von Heiliger Schrift und Kirche. Ich meine, das kann auch ein evangelischer Christ bejahen, für den die Kirche zumindest mehr ist als nur ein Verein Gleichgesinnter zur Förderung der eigenen religiösen Bedürfnisse. Ohne den Glauben der Kirche wäre die Bibel reine Literatur. Und Bibelauslegung wäre dann nur ein Spezialfall von Literaturwissenschaft!
Wir können unsere Überlegungen so zusammenfassen: Wir empfangen die Hl. Schrift von der Kirche. Deren ununterbrochenes Glaubenszeugnis seit den apostolischen Zeiten stellt sie uns als "Wort Gottes" vor. Aber ebenso gilt: die Kirche erkennt sich in der Heiligen Schrift. Diese reinigt und nährt unaufhörlich den Glauben der Kirche an das Evangelium durch alle Generationen hindurch bis heute. Und dabei kommt es mir auf jedes der beiden Worte an: reinigen (etwa von Aberglauben und Irrtum) und - positiv - nähren, stärken, verbreiten. Ohne die Heilige Schrift kann die Kirche nicht das tun, was ihr aufgetragen ist, ja, wozu sie eigentlich da ist: dem Evangelium zu dienen und es immer neu zu bezeugen. Wir können also als Katholiken durchaus die bekannte reformatorische Umschreibung von Kirche als "creatura verbi", "Geschöpf des Wortes (Gottes)", mitbejahen!
Mein Plädoyer lautet also: das Lesen der Bibel dort verankern, wo es das Leben zu bestehen gilt. Die Bibeltexte fangen dort zu sprechen an, wo Menschen gemeinsam danach fragen, wie sie mit dem Leben eigentlich zurechtkommen sollen. Ihre Sehnsüchte, ihre Ängste und ihre Freuden, oder besser gesagt: unsere gemeinsam geteilten und mitgeteilten Siege und Niederlagen sind das Rohmaterial, auf dessen Hintergrund biblische Texte zu leuchten beginnen.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dies sehr gut beim gemeinsamen Bibelgespräch gelingt. Denn dort wird Bibellektüre nicht nur zu einem "Bibel-Teilen", sondern zu einem Vorgang des "Leben-Teilens". Meine Einladung heute ist es, dies in den Pfarrgemeinden und Verbänden, in den diversen geistlichen Gemeinschaften, Familien- und Nachbarschaftskreisen und anderer, besonders ökumenischer Gruppen wirklich zu tun. Setzen wir uns gemeinsam der Botschaft der Heiligen Schrift aus! Ob in der Fassung der Lutherbibel oder der der Einheitsübersetzung - das ist dann nahezu nebensächlich. Das gemeinsame Hören und das "Einstimmen" in die von der Bibel vorgegebene "Melodie Gottes" werden uns dem Ziel der Einheit im Glauben näher bringen. Und das wäre ja durchaus ein wertvoller Beitrag für das Reformationsgedenken 2017.
Die Predigt kann hier als PDF-Datei heruntergeladen werden.
21.03.2017