"Das Sterben zulassen, aber den Sterbenden nicht allein lassen"

Predigt von Bischof Joachim Wanke im Gottesdienst anlässlich der Einweihung des christlichen Hospizes St. Martin in Erfurt

Schriftlesung: Lukas-Evangelium 22,39-46

Das Sterben ist die größte Kränkung, die der Mensch hinzunehmen hat. Er, der scheinbar alles kann und vermag - er kann sein Leben nicht festhalten. Er muss es loslassen, ob er will oder nicht.

Allein der Gedanke an das Sterben ist für manche unerträglich. Kein Wunder, dass man versucht, selbst sein Sterben noch in den Griff zu bekommen - im selbstbestimmten Tod, im eigenen Zugriff auf das Ende, bei dem Ärzte demnächst noch assistieren sollen.

Was wir heute tun - ein christliches Hospiz einweihen - widersteht dieser Versuchung, auch noch das Sterben zu manipulieren. Der Hospizgedanke hat eine andere Zielsetzung: Er lässt das Sterben zu, aber er will den Sterbenden nicht allein lassen. Natürlich: Ein Hospiz will dem Sterbenden auch medizinisch beistehen. Aber das ist nicht sein Hauptzweck. Hier geht es um mehr - und das macht den Hospizgedanken so kostbar: Hospize, sonderlich christliche Hospize sind Orte einer tiefen existentiellen Solidarität. Ihre Botschaft an die Sterbenden lautet: Du bleibst in deiner letzten Lebensstunde nicht allein. Du fällst nicht ins Leere. Du wirst gehalten - von uns, soweit wir können, von Gott, der alles kann.

Unsere Schriftstelle - die Ölbergszene - nimmt beide Aspekte in den Blick: das Sterben-Müssen als Ärgernis, als Versuchung, wie der Evangelist Lukas sagt - und das Sterben als ein gemeinsames, getrostes Loslassen in einen größeren Willen hinein: Jesus, der sich dem Willen des Vaters überlässt, und die Jünger, die lernen sollen, ihren geliebten Herrn und Meister loszulassen, ihn freizugeben für die Vollendung seines Lebensauftrags.

Die Ölbergszene ist oft in der christlichen Kunst dargestellt - ein Hinweis darauf, wie sehr die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden um die existentielle Bedrängnis des Sterbens weiß. Hier - im Loslassen-Müssen des geliebten Lebens - kommt die Stunde der Wahrheit. Da fällt alles Äußerliche von uns ab: die Betriebsamkeit, die Selbsttäuschung, das Verdrängen-Können, die Ersatzhandlungen, mit denen wir uns ablenken. Hier steht auch der Glaubende auf dem Prüfstand. Wenn der Arzt sagt: "Da kann ich nichts mehr machen!" - da entscheidet sich, ob der Glaube an Gottes österliches Leben nur Lebensfirnis ist oder dessen innerste Substanz, ob die Hoffnung auf Gottes Möglichkeiten nur antrainiertes Lippenbekenntnis ist oder echte Überzeugung des Herzens.

Auch dem menschgewordenen Gottessohn blieb diese Versuchung nicht erspart, nämlich zu fragen: Bin ich mit mir allein, war mein Glauben, mein Hoffen, mein Lieben Täuschung und Illusion - oder bin ich bei ihm, den Jesus "Vater" nennt, geborgen, angenommen und in einem letzten, unüberbietbaren Sinn zu Hause.

Das Bestehen einer solchen Prüfung unseres Glaubens gehört zum Gelingen unseres Menschseins, unseres Christseins. Durch dieses Feuer müssen wir hindurch, im Bild gesprochen: wie Gold, das im Feuer geläutert wird, wie eine Prüfung, die Liebende bestehen müssen, um in ihr die Wahrhaftigkeit, die Belastbarkeit, das Authentische ihrer Liebe zu erkennen. Im Loslassen, im Sich-Selbst-Verlieren gewinnen wir alles - den anderen und uns selbst.

Aber - das braucht eben solidarische Hilfe durch andere, durch Mit-Glaubende, Mit-Hoffende, Mit-Liebende, durch die Gemeinschaft der Kirche, durch Frauen und Männer, die nicht nur Schmerztabletten reichen und körperlich pflegen, sondern die auch der Seele des Sterbenden beistehen, die eine Hand halten und den Angstschweiß von der Stirn wischen können.

Warum nimmt Jesus eigentlich die drei Jünger mit? Reichte ihm nicht die Hoffnung, von einem Engel getröstet und gestärkt zu werden? Nein: Er bittet die Jünger: Steht mir bei in meiner "Versuchung", in meiner Anfechtung! Drückt euch nicht vor Ölbergstunden, ob es solche sind, die andere betreffen oder später einmal euch selbst. Haltet jetzt zu mir, damit ich einmal zu euch halte, wenn eure Stunde kommt!

Der Herr selbst wünscht sich in seiner Todesangst - Mitbetende! Das ist eine Botschaft, die in diese Stunde passt. Und das ist eine Einladung an uns alle, die wir dieses Hospiz tragen wollen, ob entfernter als Träger und Spender, oder direkt durch unseren Einsatz an den Betten der "Gäste", die mit ihren Angehörigen in unserem Hospiz einmal Zuflucht und Hilfe suchen. Diese "Gäste" sollen ja begreifen lernen, dass sie wirklich nur "Gäste" hier auf Erden sind. Sie sollen erfahren, ob sie nun Christen sind oder nicht, ob sie alt und lebenssatt sind oder jung und voller Sehnsucht, das Leben noch auskosten zu dürfen: Unser Lebenshunger geht nicht ins Leere, sondern zielt auf  ein Geheimnis, das wir Christen GOTT nennen.

Das ist wahrlich ein großer Anspruch an das Hospiz St. Martin. Neben dem Dank für die Einrichtung dieses Hospizes, der dann bei der Einweihung drüben im neuen Gebäude öffentlich zum Ausdruck kommen soll, braucht es vor allem den Segen Gottes:

für die, die in diesem Hospiz aus christlichem Geist heraus ihren Dienst an Sterbenden verrichten werden;

für uns alle, dass wir selbst lernen, mitten im Leben das große Loslassen-Können einzuüben, damit uns einmal selbst der Übergang in das bleibende Leben, in das Licht, das keinen Abend kennt, gelingen kann;

und es braucht den Segen dafür, dass wir miteinander solidarisch bleiben, nicht nur im Teilen der Güter dieser Erde, sondern auch im Teilen und Tragen der Angst und der letzten Versuchung, alles als sinnlos anzusehen, eine Versuchung, die keinem von uns erspart bleibt. Halten wir es aus, mit unserem Herrn, mit unseren Schwestern und Brüdern auch in Ölbergstunden einfach da zu sein, wach und hilfsbereit und - nicht zuletzt - als Betende. Amen.


Gehalten am 23. Februar 2011