Liebe Schwestern und Brüder im Herrn, liebe Kolpingfamilie, liebe Gemeinde aus Ost und West!
Das ist wahrlich ein besonderer Ort für eine Eucharistiefeier: Eine ehemalige Panzerhalle wird zum Ort des Gotteslobes. Ein Platz, der einstmals der Absicherung einer höchst brisanten Grenze diente, versammelt nun Menschen grenzüberschreitend als eine betende Gemeinde. Hier, wo man über Panzerangriffe und Atomwaffeneinsatz ernsthaft nachdachte - hier werden auf einmal die Seligpreisungen der Bergpredigt verkündigt.
Lasst mich zunächst meiner Freude Ausdruck geben, dass dies möglich ist. Auch 20 Jahre nach der friedlichen Revolution im Osten Deutschlands, die diese Grenzöffnung bewirkte, ist das für mich immer noch ein Wunder. Wir haben wahrlich Grund, dafür Gott, dem Herrn aller Geschichte, zu danken, auch wenn wir wissen, welchen Anteil an diesem Geschehen damals glückliche politische Umstände und tapfere Menschen hatten.
Nun möchte ich mit dieser Predigt nicht allein den Blick zurücklenken, so wichtig es ist, das Damals nicht zu vergessen. Der Lauf der Welt ist nach dem Herbst 1989 weitergegangen. Neue Herausforderungen stehen an, die bewältigt werden müssen.
Ich möchte gern mit Ihnen, die Sie besonders dem Werk Adolf Kolpings verpflichtet sind, mit Hilfe einiger Worte dieses Seligen unserer Kirche auf das veränderte Hier und Heute schauen.
Die Veränderungen sind deutlich spürbar. Sie brauchen nur auf Ihre Kinder und Kindeskinder schauen. Die haben oft keine Vorstellung mehr von früher. Manche können sich gar nicht mehr vorstellen, dass hier eine Grenze war, an der auf Flüchtende geschossen wurde. Alles ist jetzt so schrecklich normal geworden. Wir im Osten brauchen keine Angst vor der Partei und der Stasi haben, wir können frei unseren Glauben bekennen, können reisen, wohin wir wollen. Und ihr im Westen könnt ohne Probleme die Menschen im Geisaer Land besuchen, selbst jene im ehemaligen 5-km-Sperrgebiet.
So ist das eben mit der Freiheit: Wenn man sie nicht hat, erscheint sie als höchstes Hoffnungsgut. Hat man sie aber, wird sie selbstverständlich und macht viele Leute träge. Ich übertrage diese Erfahrung einmal auf uns als Christen und das religiöse Leben in unseren Gemeinden.
Von Vater Kolping stammt das Wort:
"Die Religion ist die höchste Gabe des Himmels. Durch sie ist der Mensch das, was er ist."
Das haben wir, liebe Schwestern und Brüder aus Thüringen, damals erfahren: Wer sich an Gott und die Kirche hielt, war gegenüber der alten Ideologie widerstandsfähiger. Er war nicht so schnell bereit, alles mitzumachen oder gar seine Gewissensüberzeugungen zu verraten. Sicher, das war nicht einfach. Das kostete Mut. Aber der Glaube gab Kraft, dort, wo es Not tat, auch einmal Nein zu sagen.
Wie ist das heute? Sind unsere Kirchen, sind noch die "Mannhäuser" am Sonntag morgens zur heiligen Messe gefüllt? Kommen noch die Kinder, die Jugendlichen? Bleiben wir treu im Empfang der heiligen Sakramente? Wissen wir noch um die Heiligkeit der Ehe? Wird Gott auch im Alltag durch Gebet und Werke der Nächstenliebe die Ehre gegeben?
Der Mensch ist nicht groß durch das, was er hat oder kann oder schafft, sondern er ist groß, weil er Gottes Geschöpf ist, von Gott gewollt, von ihm geliebt und bestimmt ist für seinen Himmel, den er allein zu geben vermag. Ihr merkt doch, wohin uns der Zeitgeist drängen will: Unterhaltung, Zerstreuung, Konsumieren und das Böse in uns und um uns verleugnen, als ob es dies nicht gäbe. Jetzt kommt noch hinzu ein neuer aggressiver Atheismus, beinahe wie damals in der DDR, der Religion als falsches Denken deklariert, für rückschrittlich, ja für gefährlich hält.
Hat uns Gott die Freiheit gegeben, damit wir jetzt in der Freiheit den Glauben unserer Väter und Mütter aufgeben? Erreichen die SED-Ideologen von damals mit ihrem Kampf gegen die Kirche nun doch noch ihr Ziel?
Ich rufe euch auf: Zeigt auch in der offenen, freien Gesellschaft, was Treue im Glauben, im Christsein heißt. Natürlich erhoffen wir uns auch von der sozialen Marktwirtschaft, dass sie sozial bleibt und allen ein gedeihliches Auskommen ermöglicht. Aber wir glauben nicht an den Euro, sondern wir glauben an das, was Gott zu schenken vermag: sein Reich, sein Leben, seine Liebe, die allein unsere tiefste Sehnsucht stillen kann. Helft mit, dass hier in der Rhön, hier in Thüringen und Hessen über allen Menschen der Himmel offen bleibt.
Was ist da zu tun? Dazu zitiere ich ein zweites Wort von Vater Kolping:
"Du musst prägen, sonst prägen andere!"
Wir gehen in der Kirche Zeiten entgegen, in denen die Getauften und Gefirmten ein neues Selbstbewusstsein gewinnen müssen. Ich füge gern hinzu: ein demütiges Selbstbewusstsein, weil alles Gnade ist und alles Gute uns von Gott ermöglicht wird.
Damit meine ich: Wie es mit der Kirche in Geisa und Rasdorf, in Zella oder Gersfeld weitergehen wird, hängt weithin von euch ab, die ihr in euren Gemeinden den Kern bildet - natürlich zusammen mit den Priestern und denen, die sich in der Seelsorge abmühen.
Vieles wird sich ändern und hat sich schon geändert. Die Messzeiten sind nicht mehr so bequem wie früher und der nächste Pfarrer wohnt weiter weg, als euch lieb ist. Aber heißt das, dass damit das Kirchenjahr abgeschafft ist? Bedeutet das, dass wir das gemeinsame Beten einstellen und die Prozessionsfahnen einrollen können?
"Du kannst prägen!" das ruft uns Kolping zu. Und er hat die Kirche seiner Zeit geprägt, nicht nur durch den Gesellenverein, sondern auch durch seine selbstverständliche Frömmigkeit und sein gesundes katholisches Selbstbewusstsein.
Diese Aufgabe sehe ich heute für uns Christen: Wir müssen das Herz auftun und durch Wort und Tat zeigen, was wir glauben und bekennen. Das fängt in der Familie an, das geht am Arbeitsplatz weiter, das setzt sich im Vereinsleben und in der Kirchgemeinde fort. Setzt Zeichen des Glaubens in diesem Land, haltet fest an der Gottesdienstpraxis am Sonntag, der Feier der kirchlichen Feste, dem katholischen Brauchtum, dem Gebet in der Familie - denn wenn ihr nicht prägt, prägen dieses Land andere.
Das ist es, was wir Christen brauchen, seien wir evangelisch oder katholisch: demütiges Selbstbewusstsein, sanfte Entschiedenheit und ein Engagement, das - bei aller Gelassenheit und Lockerheit - sich nicht einschüchtern lässt. Es braucht Glaubenszuversicht, dass Gott nicht nur in der Vergangenheit Wunder getan hat, sondern dass er solche auch heute tun kann - wenn wir ihm vertrauen.
Das lässt mich an ein drittes Wort von Vater Kolping denken:
"Wer Mut zeigt, macht Mut!"
Heute ist sicher von uns Christen noch eine andere Art von Mut gefragt als in der alten DDR-Zeit oder gar damals in der NS-Zeit. Der Gottesglaube als Ganzer steht neu auf dem Prüfstand. Es geht nicht nur um eine intellektuelle Herausforderung, den Glauben vor dem eigenen kritischen Denken zu verantworten. Es geht noch mehr angesichts des Pluralismus und der Vergleichgültigung von Überzeugungen und Traditionen um eine vertiefte Begründung des Gottesglaubens im eigenen Herzen. Ihr kennt ja die Sprüche: "Das ist heute alles ganz anders!" "Beichten ist altmodisch geworden!" "Der liebe Gott wird bei mir schon mal eine Ausnahme machen!" usw.
Ich gebe zu: Den Gottesglauben haben wir nie ohne Anfechtungen. Auch mich beschleicht manchmal Zweifel, besonders wenn ich das Leid so vieler Menschen sehe, das Leid Unschuldiger.
Dann kann ich nur auf das Kreuz unseres Herrn schauen und bitten: "Herr, gib mir Mut, an Deiner Barmherzigkeit nicht zu zweifeln. Gib mir Kraft, auch das eigene Leid als einen Weg zu Dir, in Deinen heiligen Willen hinein zu begreifen."
Die allgemeine menschliche Erfahrung zählt auch im religiösen Leben: Wer Mut zeigt, macht Mut. Und da kann auch ein mit Tapferkeit getragenes und ausgehaltenes Lebenskreuz anderen Mut machen. Dir kauft man vielleicht sogar ein Glaubenszeugnis eher ab als einem Pfarrer oder einem Bischof, bei dem so manche denken: Der muss ja so reden.
Aber wenn Du, ein gestandener Mann, eine gestandene Frau, den Mund und das Herz auftust und einmal sagst und zeigst, woraus Du lebt, was Deine Lebensquellen sind, woraus Du Deinen Mut speist - das wird nicht ohne Wirkung bleiben, auch bei Deinen Kindern und Enkeln.
Ja, das gibt es: ein echtes Interesse der Menschen an solch einem glaubwürdigen Zeugnis für Gott und seine Verheißungen. Es gibt für den christlichen Glauben nicht nur Gegenwind, sondern auch Seitenwind, ja sogar Rückenwind.
Das ist am Wachsen: ein Gespür für die Kostbarkeit der Schöpfung; die Verantwortung, die wir füreinander, als Völkergemeinschaft insgesamt haben. Selbst in manchen liberalen Parteien merkt man, dass man den Menschen in seiner Würde und Einmaligkeit stärker als bisher schützen muss, auch am Lebensanfang. Die Begegnung mit fremden Religionen lässt uns mehr und tiefer begreifen, welchen Reichtum wir auch kulturell und gesellschaftlich im christlichen Glauben besitzen. Darum: Zeigt Mut, dann werden auch andere Mut fassen.
Liebe Mitchristen,
der heutige Tag der deutschen Einheit soll uns stets daran erinnern: So wie wir die Einheit zwischen Ost und West nicht mehr aufgeben wollen, so auch nicht die Verbundenheit von Erde und Himmel, von Gott und uns Menschen. Gott hat uns in unserer Lebenszeit das Geschenk der politischen Einheit gemacht. Vergessen wir nicht, dass er uns noch viel mehr zu geben vermag, wenn wir uns von ihm nicht trennen lassen. Dieses "Mehr" dürfen wir jetzt schon im sakramentalen Vorgriff dankbar feiern.
Aber das lässt uns auch hoffnungsvoll wieder in unseren Lebensalltag zurückkehren. Und dabei nehmt dies als letztes Wort von Vater Kolping mit:
"Tue jeder in seinen Kreisen das Beste, so wird es bald in der Welt auch besser werden!"
Amen.
Website der Gedenkstätte Point Alpha: www.pointalpha.com