Bischof Joachim Wanke: "Gott sucht in seinem Anruf an uns die freie Antwort unserer Liebe"

Predigt am ersten Weihnachtstag 2011 im Erfurter Dom St. Marien



Es ist offensichtlich und die täglichen Nachrichten beweisen es: Weihnachten kommt nicht dadurch zustande, dass auf einmal alle Menschen friedlich werden. Vielleicht ist es umgekehrt: Wir brauchen Weihnachten, um dem Frieden, dem inneren und dem äußeren Frieden in der Welt und in unserem Leben wieder eine Chance zu geben.

Mit meinen weihnachtlichen Grüßen an die Mitbürger in Thüringen, besonders auch die Nichtgetauften und Kirchenfernen habe ich in diesem Jahr besonders die Bitte verbunden, sich in diesen Tagen der Weihnacht wieder neu der Botschaft dieses Festes zu öffnen. Wie kann das gehen?

Zum einen: Angesichts der zunehmenden wirtschaftlichen Vermarktung des Weihnachtsfestes und seiner Reduzierung auf Kaufen und Schenken wäre es schon ein erster Schritt, wenn Menschen die Souveränität aufbringen, sich der kommerziellen Verflachung des Festes zu entziehen. Ob meine Beobachtung richtig ist? Der Mut zur Einfachheit und zum Verzicht inmitten eines Überangebots an Waren ist am Wachsen. Immer mehr Zeitgenossen erkennen: Man muss sich im Leben Ziele über Konsum und Verbrauch hinaus setzen, sonst verarmt man menschlich. Gerade auch junge Menschen, junge Familien spüren das. Natürlich wird es immer wieder Leute geben, bei denen nach alkoholisierten Feiern in den Weihnachtstagen und zum Jahreswechsel nur ein Gefühl der Leere und "der große Kater" zurückbleiben. Aber es gibt auch ein alternatives Verhalten - und ich denke dabei an junge Christen in unseren Gemeinden, auch an jene von Taizé geprägten jungen Leute, die sich in diesem Jahr zu Tausenden zum Jahreswechsel in Berlin versammeln werden.

Zum anderen, und das ist sicherlich die schwierigere Aufgabe: Ich lade meine nichtglaubenden Landsleute ein, ein neues Verständnis für den kirchlichen Gottesdienst zu gewinnen und dessen Fähigkeit, uns "im Ewigen" zu verankern. Ich weiß: Hinter jeder Kirchenfremdheit steht eine lange Geschichte, biographisch von eigenen, vielleicht bitteren Erfahrungen geprägt oder auch von atheistischen Familientraditionen.

Aber manchmal gibt es auch einen Neuanfang in religiöser Praxis, und mag es nur der Besuch des Weihnachtsoratoriums sein. Manche werden von Freunden und Verwandten gerade an den Weihnachtstagen zum Gottesdienst mitgenommen. Und wenn sie dort eine betende und ihren Gottesglauben bekennende Gemeinde antreffen, vielleicht den einen oder anderen Bekannten unter den Gottesdienstbesuchern entdecken, wenn es Anstöße zum Nachdenken aus dem eigenen Lebensumfeld gibt, gute Zeugnisse für glaubwürdiges Christentum, da kann ein Glaubensweg beginnen. Es kann die Erkenntnis reifen, dass die Gottesdienste in unseren Kirchen helfen, der Feier des Weihnachtsfestes echte Tiefe zu geben und wirklich zu einer geistlichen Besinnung in der Hektik und Mühsal des Alltags zu kommen.

Bei all dem müssen Erholung und Geselligkeit nicht zu kurz kommen. Die weihnachtliche Festkultur lebt vom zwecklosen Feiern. Die freien Tage laden ein, sich schönen und erfreulichen Dingen zuzuwenden, dem Erleben der Natur, der sportlichen Betätigung, der Pflege eines Hobbys, zu dem im Gedränge des Alltags sonst wenig Zeit bleibt. - Dem Weihnachtsfest durch den Gottesdienst Profil und Tiefgang geben!

Und ich möchte einen dritten Zugangsweg zum Weihnachtsgeheimnis ansprechen: Wichtig ist, dass die weihnachtlichen Tage uns helfen, aus äußerer und innerer Einsamkeit herauszukommen.

Immer wieder hören unsere Seelsorger die Klage: "Herr Pfarrer, ich bin so oft allein. Ich fühle mich schrecklich einsam. Keiner schaut nach mir!" Es ist erfreulich, dass gerade die weihnachtlichen Tage vielen ein Anlass sind, manche Verbindungen zur eigenen Familie, zu Nachbarn oder Freunden wieder zu stärken oder gar neu zu beleben. Zu meinen weihnachtlichen Grunderfahrungen gehört von den Tagen der Kindheit an: Nicht dass wir viele Dinge haben, macht uns reich, sondern dass wir einander haben.  

Diese Erfahrung verknüpfen wir Christen mit dem weihnachtlichen Festgeheimnis: Gott selbst hat uns aus unserer Isolierung und Einsamkeit herausgeholt. Er ist ein Gott der Gemeinschaft. Er ist und schafft Leben in Beziehungen. Denn nur in der Begegnung miteinander und in der Begegnung mit Gott finden wir die "Fülle" eines Lebens, nach dem wir uns im tiefsten Herzen sehnen.

Von Frère Roger, dem Gründer der Kommunität Taizé in Frankreich stammt das Wort: "Als Gott nicht mehr wusste, wie er sich uns noch anders verständlich machen sollte, da wurde er ein Kind." Ein wunderbares Wort! Es macht deutlich, worum es Gott geht. Er sucht in seinem Anruf an uns die freie Antwort unserer Liebe.

Wer kann dem Lächeln eines Kindes widerstehen? Wessen Herz bleibt kalt, wenn das kleine Enkelchen der Oma, die gerade im Begriff ist, sich zu verabschieden, bittend zuruft: "Hierbleiben!"

Ein Kind kann gar nicht leben ohne Beziehung. Es schreit nach Zuwendung, nach Liebe, nach Solidarität. Wehe uns, wenn die Kinder in unserer Gesellschaft nur noch als Kostenfaktor gesehen werden. Gottlob, das ist nicht so. Aber wird es immer so bleiben?

Weihnachten ist wieder ein Angebot. Diese Festtage können uns helfen, den wahren Reichtum unseres Lebens neu zu entdecken: Ich muss nicht allein bleiben. Ich habe Freunde. Ich bin angenommen - bei Menschen und von Gott, meinem Schöpfer.

Manche unserer nichtglaubenden Zeitgenossen spüren diese Botschaft. Aber sie wissen ihr keinen Namen zu geben. Sie halten das bloß für ein Gefühl, dass den Realitäten des Alltags nicht standhält. Ich meine: Darin täuschen sie sich.  

Und ich möchte diese Selbsttäuschung an einem Verhalten aufdecken, dass ich bei vielen Menschen, gerade auch bei Nichtreligiösen entdecke: Sie lassen sich nicht von den ohne Zweifel existierenden Enttäuschungen, den vielen kleinen und großen Katastrophen entmutigen. Sie fangen immer wieder neu an.

Sie lassen nicht nach in ihrem Einsatz für ein Miteinander in Frieden, in Gerechtigkeit, in Solidarität. Sie fangen an, die Natur zu schützen, und dann auch andere Dinge für schützenswert zu halten, einen gemeinsamen freien Sonntag z. B. oder Lebensmittel, die nicht nur aus Chemie bestehen, oder Heime, in denen das Pflegepersonal noch Zeit hat, sich über die Pflege hinaus den Senioren zuzuwenden. Angesichts der heutigen vielbeschworenen Zwänge, wie etwa den Finanzzwängen könnte ja durchaus einer mit einem gewissen Recht meinen: "Das alles hat ja doch keinen Zweck. Ich allein kann die Welt auch nicht ändern!" Die Folge solcher Resignation ist dann oft der Rückzug ins Private.

Ich staune immer wieder, wie viele Menschen dieser Versuchung nicht nachgeben. Sie bleiben trotz mancherlei Rückschlägen und Enttäuschungen dabei, die Welt durch ihren ganz persönlichen Einsatz heller, freundlicher, humaner zu gestalten. Dafür dürfen wir dankbar sein. Ohne diesen, weithin ehrenamtlichen Einsatz so vieler Mitbürger wäre Thüringen arm dran.

Der christliche Glaube macht Mut, mitten in der Dunkelheit an das Licht zu glauben. Wäre das nicht ein anderer Namen für Weihnachten: "Neu anfangen!" Das Böse, das Unmenschliche, der blindwütige Hass haben nicht das letzte Wort. Und das ist nicht nur eine ideologische Vertröstung auf einen imaginären Himmel - irgendwann jenseits der Todesgrenze. Nein: Jetzt schon kann ich helfen und manchmal auch erleben, dass sich das Licht der Menschenfreundlichkeit und Solidarität in meinem Umfeld durchsetzt - durch meine Hilfe. Wenn wir unvoreingenommen in unsere Umwelt schauen, merken wir: Das geschieht - und beileibe nicht nur zu Weihnachten.

Weihnachten neu entdecken - und andere an dieser Entdeckung teilhaben lassen! So kann das gehen:
- Sich dem ausschließlichen Konsum und Kommerz entziehen
- Den Gottesdienst entdecken als "Verankerung meines Lebens im Ewigen"
- Neue Brücken zu anderen bauen und Vereinsamungen aufbrechen
- und - allen Widerständen zum Trotz - "immer wieder neu anfangen!" , wie Gott es mit uns tut.

Das lasst uns nun dankbaren Herzens feiern. Amen.