Man ist gewohnt, in Papstschreiben fromme Zitate aus der Hl. Schrift zu finden bzw. auch Worte der Kirchenväter. Zu meiner Überraschung fand ich im diesjährigen Wort von Papst Franziskus zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel ein Shakespeare-Zitat, vermutlich angeregt durch das Gedenken an den Tod des Dichters vor 300 Jahren. Das Zitat lautete: "Die Barmherzigkeit ist keine Pflicht. Sie fällt vom Himmel, wie die Erquickung des Regens auf die Erde träufelt. Sie ist ein zweifacher Segen: Sie segnet den, der sie gewährt, und den, der sie empfängt" (Der Kaufmann von Venedig, 4. Akt, 1. Szene). In den vergangenen Monaten des "Barmherzigkeitsjahres", das Papst Franziskus ausgerufen hat, hatte ich mehrfach über das Thema Barmherzigkeit zu sprechen. Dabei kam mir zugute, dass wir uns im Bistum Erfurt schon 2007 anlässlich der Feier des "Elisabethjahres" intensiv mit dem Stichwort "Barmherzigkeit heute" beschäftigt hatten. Noch heute wird allenthalben nach den "Sieben Werken der Barmherzigkeit für Thüringen heute" gefragt, dem damaligen Versuch einer Aktualisierung von Barmherzigkeitswerken für unsere gesellschaftliche Gegenwart. Mit diesem Vortrag möchte ich gern einige Einsichten zusammenfassen, die mir aus der erneuten Beschäftigung mit diesem nicht einfachen, ja umstrittenen Stichwort "Barmherzigkeit heute" zugewachsen sind. Sie könnten uns selbst zu einer besseren Einsicht in das Anliegen des Papstes verhelfen, aber auch Hilfen beim öffentlichen Argumentieren für eine Kultur der Barmherzigkeit " in unbarmherzigen Zeiten" sein. Meine Überlegungen beleuchten das Thema aus drei unterschiedlichen Fragestellungen: • Warum eine religiöse Begründung für Barmherzigkeit? • Wie verhalten sich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zueinander? • Ist Barmherzigkeit vornehmlich nur eine individuelle Tugend, vor allem für "Ehrenamtler"?
Warum eine religiöse Begründung für Barmherzigkeit?
Die bekannte kritische Frage lautet: Warum eigentlich barmherzige Mitmenschlichkeit mit Gott und Religion vermengen? Oder anders gefragt: Was hat Zuwendung zum Nächsten mit Gott zu tun, was Mitmenschlichkeit mit Religion? Sollten "Sozialarbeiter" nicht alle Anstrengung darauf verlegen, fachlich gute Arbeit zu leisten, als Einzelne und in den Einrichtungen gemeinsam? Geht es nicht vornehmlich darum, effektiv und nachhaltig zu helfen - wo und wie immer das möglich ist? Ist nicht Frömmigkeit und die Rede von Gott nur so etwas wie eine "fromme Soße", die über das Ganze kirchlicher Sozialarbeit gegossen wird, die aber eigentlich auch entbehrlich wäre?
Ich frage einmal - statt einer langen Antwort - zurück: Könnten wir uns Elisabeth ohne Christusfrömmigkeit vorstellen? An ihrer Person wird klar, warum es doch sehr heilsam ist, die Gottesquelle auch im eigenen Leben als kirchliche Sozialfrau, als Caritasmann offen zu halten.
In der Biographie Elisabeths, dieser Frau, die ja auch Politikerin war, die Macht ausübte und das Land in der Abwesenheit des Landgrafen Ludwig zu regieren hatte, leuchtet etwas auf von der Vision einer barmherzigen, humanen Gesellschaft. Bei Elisabeth ist sicherlich ihre Gottesliebe der bleibende Quellgrund ihrer Menschenliebe. Sie blieb barmherzig, auch wenn sie dafür Anfeindungen zu ertragen hatte, ja letztlich deswegen von der Wartburg verjagt wurde. Elisabeth wusste sich vom Himmel her geliebt, das machte ihr möglich, durch Barmherzigkeit ein Stück Himmel auf die Erde zu holen. Das zeigt exemplarisch, warum für den Christen die vorgängige Erfahrung, von Gott bedingungslos geliebt und angenommen zu sein, so wichtig ist. Die heute so gefragte, aber auch kritisch hinterfragte Barmherzigkeit hat in der christlichen Glaubensverwurzelung ein solides, tragfähiges, nachhaltig motivierendes Fundament - und das gilt für hauptberufliche und ehrenamtliche "Caritäter" bzw. sozial Engagierte in gleicher Weise.
Ich nenne einmal einige Gründe, die diese Erfahrung verständlich machen: - Ohne die Mahnung Jesu zu barmherzigem Handeln könnten wir vergessen, dass zu jeder Not immer ein konkretes menschliches Gesicht gehört. - Ohne das eigene Sich-Festmachen in Gottes Liebe könnte es sein, dass uns angesichts der vielgestaltigen Not in der Welt der Atem zum Helfen ausgeht. - Ohne eigene Gottesberührung könnte es sein, dass der Umgang mit fremdem Leid uns selbst zunehmend hart und mitleidsunfähig macht. - Ohne das Wissen um Gott und seine ungeschuldete (!) Zuwendung zu uns Sündern könnte es sein, dass man sauer und ungenießbar wird, wenn gesellschaftliche Anerkennung und öffentliche Belobigung ausfallen. - Und schließlich: Ohne Gott ist es vermutlich - ich formuliere sehr vorsichtig - ganz unmöglich, sogar für feindselig eingestellte Menschen Gutes zu erbitten oder ihnen gar zu tun.
Das sind Gründe, warum es gut ist, dass Menschen überhaupt, besonders aber sozial engagierte Personen eine solide Frömmigkeitsgrundlage haben. Ich gebe zu: Solche Argumente werden einen Agnostiker oder Atheisten nicht unbedingt überzeugen. Aber manchmal sollte man, besonders in der Auseinandersetzung mit Außenstehenden, auch solche Argumente einmal nennen. Das heißt ja nicht, dass wir uns über andere überheben wollen. Aber man darf doch auch einmal sagen, was einem selbst aus eigener Erfahrung wertvoll und hilfreich ist und der Mitmenschlichkeit in der Gesellschaft aufhilft.
Damit berühren wir eine der Herausforderungen, die sich letztlich auch dem heutigen, säkularen Menschen stellt: Wie kann das gehen - mich selbst insoweit "loszulassen", dass ich frei werden für Menschen an meiner Seite, dem ich ein Helfer, eine Helferin werden kann, wenigstens zeitweise? Wie ist das möglich - nicht ständig in Angst um sich selbst zu sein und dennoch in der Zuwendung zu anderen Freude und innere Erfüllung zu erfahren? Das wirft die Frage auf, aus welchen Quellen sich das Selbstverständnis des Menschen letztlich speist. Es gibt scheinbar doch mehr als nur diese eine ethische Alternative: Fremdbestimmung einerseits gegen Selbstbestimmung andererseits; von außen aufgezwungene ("andressierte") Moral gegen die hochgelobte "Ethik der Selbstentfaltung". Es gibt offen¬sichtlich ein Leben, das gerade durch seine Fähigkeit, sich an andere zu verlieren, in seiner Intensität und Liebenswürdigkeit gesteigert werden kann. Elisabeths Biographie ist dafür ein Beispiel: "Mit dem zweiten Auge", dem religiösen Auge "sieht man besser!", zumindest mehr als man denkt, ohne sich den Realitäten dieser Welt zu verschließen. Barmherziges Handeln hat eine Selbstevidenz, die nicht rein rational ableitbar ist. Freilich, das füge ich hinzu: Ich kenne durchaus auch Menschen, die aus nichtreligiösen, humanistischen Motiven heraus barmherzig sind und Barmherzigkeit leben. Das kann ich durchaus respektieren, ja anerkennen. Glaubende und nichtglaubende Menschen sollten sich freilich gegenseitig helfen, dass ihre jeweiligen "Barmherzigkeitsquellen" nicht austrocknen! Übrigens sind solche Menschen nach Aussage der Heiligen Schrift- ohne es zu wissen - dem Evangelium nicht fern. Dafür steht die wichtige Perikope Mt 25,31-46 vom Endgericht. Dort sind die vom Endzeitrichter anerkannten Menschen jene, die Christus überhaupt nicht kannten - und doch auf geheimnisvolle Weise ihm in den Geringesten und Notleidenden gedient haben.
Wie verhalten sich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zueinander? Barmherzigkeit hat heute kaum Konjunktur. Das Schlüsselwort des heutigen gesellschaftlichen Grundgefühls lautet: Gerechtigkeit. "Ich muss mir meine Rechte einfordern!" "Das steht mir gesetzlich zu!" Nichts gegen Gesetze. Es ist schon gut, wenn die Grundrechte der Menschen, der Behinderten z. B. oder der Kinder gesichert werden. Es ist gut, wenn man sich auch vor Gerichten gegen Willkür und Benachteiligungen wehren kann.
Aber jeder Einsichtige wird zugeben: Allein durch Paragraphen wird unsere Welt nicht menschlicher. Neben der Gerechtigkeit braucht es das Erbarmen, braucht es die Liebe, die dem Nächsten einfach gut sein will - auch wenn dafür keine Belohnung ausgesetzt ist und keine gesetzliche Strafandrohung dies erzwingt. Wie kostbar Erbarmen ist, kann jeder für sich am ehesten durchbuchstabieren, wenn er sich vorstellt, einem unbarmherzigen Menschen ausgeliefert zu sein.
Das Problem ist nur: Gerechtigkeit kann man einfordern. Barmherzigkeit nicht. "Sie fällt" - frei nach Shakespeare - "vom Himmel, wie die Erquickung des Regens ..." Genau das ist das Problem: Gerechtes Handeln ist eine Pflicht, Barmherzigkeit hingegen scheinbar nicht - oder doch? Gerechtes Handeln ist eine sittliche Pflicht, Barmherzigkeit hingegen scheinbar nicht - oder doch? Für die Gerechtigkeit sind Rechtsanwälte, Richter und Verteidiger, Sozialämter zuständig. Wer ist für die Barmherzigkeit zuständig?
Zeigen wir nicht sofort mit dem Finger auf andere. Fragen wir uns selbst: Kann ich - ob professionell oder ehrenamtlich sozial tätig - barmherzig sein? Am leichtesten gelingt dies, wenn man das selbst schon einmal erfahren hat: angenommen zu werden, unerwartet Hilfe zu erfahren, Schuld vergeben zu bekommen, einen Neuanfang machen zu dürfen, weil ein anderer, eine andere mit mir barmherzig umgegangen ist.
Die Bereitschaft, selbst anderen gegenüber barmherzig zu handeln, hat dort eine Chance, wo ich selbst am eigenen Leibe einmal Barmherzigkeit erfahren habe. Das ist beinahe so etwas wie eine Eignungsvoraussetzung für einen Sozialberuf. Denn überspitzt gesagt: Barmherzigkeit erlernt man nicht, man erfährt sie - und verliert so nach und nach die Angst, durch Verzicht auf eigene Ansprüche selbst auf Dauer zu kurz zu kommen. Ja, die nichtgeschuldete solidarische Zuwendung zu einem anderen schenkt auf merkwürdige Weise Freude und innere Erfüllung, manchmal sofort, manchmal auch erst im Nachhinein, "leise", aber durchaus nachhaltig.
Das Stichwort " Barmherzigkeit", das Papst Franziskus mit dem derzeitigen Themen-Jahr der Welt eindringlich vor Augen stellt, hat freilich auch eine höchst aktuelle politische Dimension. Das zeigt sich sehr deutlich beim Umgang mit der Flüchtlingsfrage. Die Erinnerung an barmherzige, also nichtgeschuldete Solidarität angesichts der konkreten Not von Mitmenschen verhindert, dass wir in die "Ideologiefalle" tappen - egal ob linker oder rechter Couleur. Die ideologische Betrachtung der Welt hat die fatale Eigenart, die Menschen zu klassifizieren, sie in Schubkästen einzuordnen, ihnen Etiketten anzuheften, derzeit etwa: "die Flüchtlinge!"
Wir erleben augenblicklich, wie sich politische Einstellungen lautstark zu Wort melden, die jede Empathie, jedes Mitgefühl mit der konkreten Not des einzelnen Menschen vermissen lassen. Die Flüchtlinge werden in ihrer Gesamtheit als kulturelle, wirtschaftliche oder politische Gefahr betrachtet, als Sicherheitsrisiko, das unseren derzeitigen status quo in Frage stellt - aber es wird vergessen, dass jeder Flüchtling ein individuelles Gesicht hat, dass er eine Leidensgeschichte hinter sich hat und jetzt konkret Hilfe braucht.
Die Ideologie verallgemeinert - die Barmherzigkeit sieht den einzelnen Menschen in seiner Not. Dass dann auch klug überlegt werden muss, wie dieser Not politisch, administrativ und im Rahmen des uns Möglichen zu heben ist, wirft sofort wichtige Folgefragen auf, aber eben Folgefragen (z.B. jene nach der europäischen Solidarität). Und auf solche Fragen gibt es keine schnellen Antworten.
Hier zeigt sich übrigens noch einmal die wichtige Rolle, die der christliche Glaube für die Abwehr einer ideologischen Sicht eines isolierten Gerechtigkeitsverständnisses hat. Jesus Christus hat bekanntlich die Gottes- und Nächstenliebe als herkömmliche Gebote aus der Frömmigkeitstradition seines Volkes übernommen. Was freilich direkt auf ihn zurückgeht ist die Bedeutung, die er beiden Geboten im Blick auf die anderen Forderungen der Tora, der Gesamtheit jüdischer Gesetzesvorschriften, gegeben hat. Er hat diesen Geboten bzw. Verboten das Liebesgebot vorgeordnet (so ähnlich, wie bei einer Verfassung bzw. einem Vertragstext die Präambel allen Einzelstimmungen der Verfassung bzw. des Vertrages vorgeordnet bleibt und diese interpretiert). Jesu Intention ist zu zeigen, dass jede Menschenfeindlichkeit, jede Unbarmherzigkeit der Intention seines Vaters im Himmel widerspricht. Denn Gottes Wille ist das Heil des Menschen. Ihn treibt die Sorge um den Menschen um, und in dieser Sorge um den Menschenbruder soll jeder Jünger Jesu dem barmherzigen Gott ähnlich werden.
Das ist also meine These: Unsere Gesellschaft braucht mehr (!) als Gerechtigkeit. So notwendig diese auch ist - auf dem Fundament der Gerechtigkeit braucht unser gesellschaftliches Haus auch Barmherzigkeit und Solidarität für jene, die allein nicht mit dem Leben zurechtkommen. Gerade im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen gilt es, der oft anzutreffenden gesellschaftlichen Kälte zu widerstehen und Räume zu bewahren und auszubauen, in denen der Mensch Zuwendung und Wärme empfangen kann. Hier öffnet sich übrigens ein weites Feld der Zusammenarbeit von Christen und Nichtchristen, etwa für ein Thüringen "mit Herz", ganz im Sinne der hl. Elisabeth. Ich habe den Eindruck, dass solche Einladungen durchaus gehört werden.
Barmherzigkeit - nicht nur dem Ehrenamt reserviert Ich möchte auf dem Hintergrund dieser Problematik barmherzigen Handelns in einer Welt beschränkter Möglichkeiten noch einen weiteren Spannungsbogen sozialethischer Natur ansprechen. Dieser ist mehr struktureller Art: Die Spannung zwischen beruflicher, für Sozialarbeit und Katastrophenhilfen zuständige Professionalität einerseits, zumeist in staatlicher bzw. gesellschaftlicher Verantwortung, und andererseits das ehrenamtliche, bürgerschaftliche Engagement Einzelner bzw. von Gruppen, Kirchgemeinden und Verbänden.
Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, wie wichtig etwa für Sozialverbände, beispielsweise auch die Caritas unserer Kirche, die Gewinnung und anhaltende Motivierung von ehrenamtlichen Diensten ist. Als nach der friedlichen Revolution in Thüringen wieder ein Caritasverband gegründet werden konnte, galt es in den Kirchgemeinden der Tendenz zu widerstehen, das gewohnte ehrenamtliche Engagement aufzugeben und alles der professionell arbeitenden Caritas und ihren diversen Fachabteilungen zuzuschieben. Bis heute höre ich immer wieder bei Nachfragen nach ehrenamtlichem sozialen Engagement diese Entschuldigung: "Dafür ist doch die Caritas zuständig!" Das liegt natürlich auch im Trend derzeitiger gesellschaftlicher Nörgelei: "Warum geschieht da eigentlich nichts? Da muss doch jemand zuständig sein! Die sollen sich gefälligst dieses Problems annehmen ...!"
Daran ist sicher auch etwas richtig gesehen. Sicherheitsfragen etwa (z.B. die Erfassung von Asylsuchenden und die Gewährung von Bleiberechten) sind staatliche Hoheitsaufgaben. Sie setzen staatliche Autorität und Professionalität voraus und sind nicht Sache von Ehrenamtstätigkeit. Die Integration von Flüchtlingen mit anerkanntem Bleiberecht dagegen ist beispielsweise eine gemeingesellschaftliche Aufgabe, bei der professionell arbeitende Sozialberufe mit Ehrenamtlichkeit zusammen wirken müssen, damit gesellschaftliche Eingliederung nachhaltig gelingen kann.
Derzeit findet das Ehrenamt durchaus Anerkennung. Allenthalben wird sein Lob gesungen. Immer wieder wurde darauf verwiesen: Ohne den engagierten Einsatz so vieler ehrenamtlich Tätiger in der Betreuung, besonders der Erstbetreuung von Flüchtlingen beim jüngsten Ansturm von Flüchtlingen wären die Behörden überfordert gewesen.
Natürlich ist richtig: Berufliche Professionalität ist für einen funktionierenden Sozialstaat ebenso notwendig wie ehrenamtliches Engagement aus der Mitte der Zivilgesellschaft heraus. Freilich möchte ich unterstreichen: Das Ehrenamt ist wichtig nicht nur in dem Sinne einer quantitativen Ausweitung der Möglichkeiten sozialen Handelns (wie das zeitweilig durchaus notwendig sein kann, etwa bei der Bewältigung von Katastrophen).
Solidarität und Zuwendung zum hilfebedürftigen Nächsten müssen noch aus einem tieferen Grund "mit zwei Lungenflügeln atmen", also berufliche, staatlich abgesicherte Professionalität als den einen "Lungenflügel" und (!) ehrenamtliches Engagement als den anderen "Lungenflügel" einschließen. Warum? Weil m.E. die Ehrenamtlichkeit ein notwendig belebendes Moment für Professionalität darstellt. Sie hilft, dass der "Blutkreislauf" des Sozialen im gesellschaftlichen Körper wirklich zirkuliert und ggf. auch Bereiche dieses Gebildes erreicht, die professionelles, auf Gesetz, Recht und Ordnung beruhendes und durch Bürokratie abgesichertes Handeln manchmal aus dem Blick verliert.
Ich will freilich sofort hinzufügen: Die staatlich abgesicherte Professionalität sozialer Dienste ist durchaus wichtig, ja unersetzlich. Selbst die viel gescholtene Bürokratie ist wichtig. Sie sichert Nachhaltigkeit, Beständigkeit, Gerechtigkeit. Wer möchte schon gern einem nur ehrenamtlichen Chirurgen in die Hände fallen, oder auf ein Sozialamt angewiesen sein, wo ich von der Sympathie oder Antipathie der Person hinter dem Schalter abhängig bin.
Doch gilt sicher auch: Berufliche Professionalität, wie sie etwa in Sozialverbänden anzutreffen ist, aber auch jene, die durch staatliche Administration und Bürokratie garantiert wird, muss immer wieder konfrontiert werden mit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit; denn diese wandelt sich und rückt neue Fragestellungen in den Blick. Ein Beispiel dafür ist die jüngst erfolgte Neuordnung in der Pflegeversicherung, die etwa auch die Pflegebedürftigkeit bei mentalen Ausfällen des Menschen neu bewertet. Ich meine: Ohne die Erfahrungen und Nöte jener, die etwa mit Demenzerkrankten umgehen, ob familiär- ehrenamtlich oder natürlich auch beruflich, wäre eine solche gesetzliche Neuordnung der Pflegeleistungen wohl nicht erfolgt.
Kurz: Ehrenamtlichkeit verhindert, dass berufliche Professionalität in sich erstarrt bzw. in eine partielle "Blindheit" zurückfällt, die die Veränderungen in der Lebenswirklichkeit des heutigen Menschen nicht mehr voll bzw. nur ungenügend wahrnimmt.
Natürlich leisten auch hauptberuflich Tätige Ehrenamtsdienste. Es ist ja immer derselbe Mensch, der auch in die Ehrenamtsarbeit seine berufliche Erfahrung mit einbringt, beispielsweise wie beim "THW - Technischen Hilfswerk", wo Ingenieure und Facharbeiter bei Katastrophen bzw. in Notgebieten dank ihres beruflichen Könnens wertvolle ehrenamtliche Dienste anbieten.
Es geht mir hier also nicht um eine Schwarz-Weiß-Malerei, die das Ehrenamt in ein falsches "Barmherzigkeitslicht" rückt. Doch man muss sich nur einen Augenblick lang vorstellen, wir würden in einer Welt leben, in der alles staatlich bzw. auch durch hauptberufliche Sozialdienste abgedeckt wäre, und zwar ausschließlich. Abgesehen davon, dass dies den sofortigen Kollaps unserer Sozialsysteme herbeiführen würde, wäre das dann in der Tat auch eine Horrorvision der "brave new world" , der "schönen neuen Welt" im Sinne des grausig-bitteren utopischen Romans von Aldous Huxley. In einer solchen Welt möchte ich nicht leben.
Daher meine Empfehlung: Motivieren wir das Ehrenamt im Umfeld von Caritas und Pfarrgemeinde mit "demütigen Selbstbewusstsein"; nicht nur mit dem Argument: "Ohne uns ginge vieles nicht!", sondern vor allem: "Ohne uns ginge vieles nicht so unkompliziert, nicht so menschlich, nicht so barmherzig!" "Ohne uns bliebe unsere Gesellschaft insgesamt nicht empathiefähig, nicht wachsam und hellhörig für sich wandelnde menschliche und gesellschaftliche Not!" Die Professionalität, repräsentiert durch den Staat , seine Sozialgesetze, seine Beamten und Angestellten, aber eben auch die sozialen Vollzeitberufe innerhalb und außerhalb der Verbände sind im Bild gesprochen, das "Skelett" des gesellschaftlichen Körpers. Aber wir wissen: ein Skelett als solches ist auf Dauer nicht gut anzuschauen. Es sollte von einem wohl gestalteten Körper umgeben sein, sonst bekommt man das Fürchten! Und dieser lebendige, bewegliche, flexible und vor allem auch - gut anzuschauende "Körper" ist das ehrenamtliche Handeln, der dem Ganzen des Sozialen, also auch in seiner politisch-gesellschaftlichen Gestalt seine Abrundung, wenn man will: seine "barmherzige Gestalt", seine "Menschlichkeit" gibt.
Blicken wir zurück: Wir haben miteinander drei - zugegebener Massen - recht unterschiedliche Aspekte des heutigen Barmherzigkeitshandelns betrachtet. - Wir haben (hoffentlich) im Blick auf die religiös-christliche Begründung unserer Barmherzigkeitsressourcen und das Gespräch mit atheistischen bzw. agnostischen Zeitgenossen als gläubige Christen wieder neues Selbstbewusstsein gewonnen, - wir sind der Spannung zwischen einem verengten Gerechtigkeitsverständnis und einer "steilen" Forderung nach Barmherzigkeit nachgegangen und haben deren notwendige Zusammengehörigkeit tiefer zu verstehen gesucht, - und wir haben gesehen, dass Barmherzigkeit beileibe nicht nur dem ehrenamtlichen Handeln des Einzelnen vorbehalten ist, sondern als humanisierendes "Ferment" zum Ganzen des gesellschaftlichen "Hauses" gehört, auch in dessen Grundkonstruktion.
Gerade in der Unterschiedlichkeit der hier betrachteten Perspektiven können uns diese Überlegungen helfen, der komplexen Realität einer Welt zu begegnen, die in der Gefahr steht, immer wieder in Unmenschlichkeit und Hass zu versinken. Und um diese Gefahr mit allen Kräften zu wehren, sind wir - nicht zuletzt - in der Caritas gemeinsam und als Einzelne "angetreten".
Der Vortrag als PDF-Datei