Alles Dunkle soll weichen

Gedanken zum Weihnachtsfest von Bischof Joachim Wanke, verfasst für die Ausgabe vom 24.12.2009 der Thüringischen Landeszeitung (TLZ)

Der "Wolfram-Leuchter" im Erfurter Mariendom (Foto) gehört zu den wenigen noch erhaltenen romanischen Vollplastiken in Deutschland. Fachleute datieren die Figur auf die Zeit um 1160. Der Name Wolfram weist auf den uns nicht näher bekannten Stifter hin. Der Name ist auf dem herabhängenden Gürtel der Gestalt in einer kurzen Gebetsanrufung vermerkt. Die Gestalt hebt mit beiden Händen die zwei Kerzen in die Höhe. Vermutlich befand sich auf dem Rücken des Wolfram ein Lesepult für den Vortrag der Bibeltexte beim Gottesdienst.

Ich betrachte gern diese altehrwürdige Figur - beim Gottesdienst, mit Gästen, beim persönlichen Verweilen im Dom. Es berührt mich sehr, wenn ich bedenke, dass diese bronzene Gestalt über 800 Jahre lang das Licht der Kerzen empor hält. Alles Dunkel soll weichen - und dies war und ist bis in unsere Gegenwart hinein eine bleibende Aufgabe.

In den weihnachtlichen Festtagen liest die Kirche besonders gern aus dem Prolog des Johannesevangeliums. Es handelt sich dabei im ein urchristliches Lied, das gleichsam eine Weihnachtserzählung anderer Art darstellt. Gewöhnt sind wir mehr an die bekannte Geburtsgeschichte Jesu aus dem Lukasevangelium mit Maria und Josef in Bethlehem, mit der Krippe, den Hirten und den Engeln.

Der Johannesprolog besingt in hymnischen Worten das Kommen Gottes in diese Welt. Er schaut auf die innerste Mitte des Weihnachtsfestes. Gott macht sich in Jesus Christus erkennbar, ja berührbar. Himmel und Erde sind nicht mehr getrennte Welten. Es kommt in alles Dunkel dieser Welt und Geschichte Licht von oben. Mit den Worten des alten Liedes aus dem Johannesevangelium gesprochen: "In ihm (dem Logos, dem Wort, das von Gott her kommt) war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst" (Joh 1,4f). Die Wolfram-Figur ist für mich so etwas wie ein zeitloser Lichtträger, der auf dieses Licht von oben hinweist.
 
In der Wolfram-Figur sehe ich meine Aufgabe als Bischof hier in Thüringen angedeutet. Ich möchte zusammen mit allen Christen helfen, dass möglichst viele Menschen dieses Licht von oben entdecken. Es ist mir ein Anliegen, dass sich in diesem Licht auch ihr Leben verändern kann. Das ist meine tiefste Überzeugung, die sich übrigens in vielen Biographien (auch berühmter Thüringer, auf die wir alle noch heute stolz sind) tausendfach bezeugt hat: Wer um den Himmel Gottes weiß, kommt mit dem Leben hier auf Erden besser zurecht. Er weiß, dass die Dunkelheiten in uns und um uns nicht das letzte Wort haben.

Vielen Menschen ist das kaum möglich zu glauben. Sie meinen, das sei ein frommer Wunsch. Soll das wirklich stimmen? Gibt es ein Licht, das nicht von uns angezündet wird, sondern uns aus einer anderen Dimension, gleichsam vom Urgrund des Lebens her anleuchtet?

Ich vergleiche diese, das Religiöse ausblendende Lebensform einmal mit dem Verweilen in einem Spiegelkabinett, wie sie sich in manchen barocken Schlössern befinden. Wer schon einmal in einem solchen Raum war, weiß um die merkwürdige Wirkung auf den Besucher. Wenn die verspiegelten Türen und Fenster geschlossen sind, sieht man, wohin man auch schaut, immer nur - sich selbst.

Das ist für mich ein sprechendes Bild. Viele heutige Zeitgenossen können nicht sehen, dass sich hinter den gesellschaftlichen und persönlichen "Spiegelungen", die die Befindlichkeiten, Ängste und Hoffnungen der Menschheit und des Einzelnen reflektieren, ein größerer Horizont auftut. Sie bleiben mit sich, ihren Fragen, Vorstellungen und Wünschen und manchmal auch mit ihren Illusionen allein.

Der christliche Glaube ist der energische Versuch, den Menschen in allen Generationen immer wieder neu Fenster und Türen zu öffnen, um die ganze Wirklichkeit des Lebens und der Welt wahrzunehmen. Sein Grundtenor ist die Botschaft: Du bist nicht mit dir allein! Die Wirklichkeit ist größer als du denkst. Es gibt einen größeren Horizont hinter dem, was wir wahrnehmen und begreifen können.

Als vor 20 Jahren die friedliche Revolution neue Lebensverhältnisse im Osten ermöglichte, hielt das vorher niemand für möglich. Die politischen Verhältnisse schienen festgezurrt im Mächtespiel der Großen. Und doch geschah das Wunder. Es gab einen neuen Anfang in Freiheit und für selbstbestimmtes Leben. Das war möglich durch tapfere Menschen, die sich von der Dunkelheit nicht beirren ließen und kleine Lichter der Hoffnung anzündeten.

Wir brauchen immer wieder Lichtträger. Auch solche, die auf das entscheidende Licht verweisen, dass von Gott ausgeht und sogar das Grab ausleuchten kann. Ich bin froh, dass wir wieder Weihnachten feiern können. Ich bin dankbar, dass im Erfurter Dom der Wolfram steht und uns auf das Licht inmitten aller Dunkelheit aufmerksam macht. Es lohnt sich, ihn zu betrachten.


Foto: Barbara Neumann, Erfurt / (c) Bistum Erfurt