Ansprache von Bischof Ulrich Neymeyr am Donnerstag, 18. November 2021, in der Erfurter Brunnenkirche
Was ist nur bei Euch in Thüringen los? So werde ich oft gefragt, wenn ich unterwegs bin. Oft ist diese Frage nur oberflächlich daher gesagt, manchmal ist sie aber Ausdruck eines echten Interesses. Dann erläutere ich gerne Hintergründe der Besonderheiten in den sogenannten neuen Bundesländern. Aus eigener Erfahrung als „Wessi“ weiß ich, dass das Thema der Wiedervereinigung für die meisten Menschen in den alten Bundesländern abgehakt war, nachdem man sich an die neuen fünfstelligen Postleitzahlen gewöhnt hatte. In dieser Zeit wurde den Menschen in den neuen Bundesländern deutlich, dass der 3. Oktober 1990 nicht ein Tag der Wiedervereinigung war, sondern, wie es ja auch korrekt heißt, ein Tag des Beitritts zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Was anschließend über die Menschen in den neuen Bundesländern hereinbrach, ist mit dem Begriff „Transformation“ fast schon sarkastisch beschrieben. Der Begriff „Tsunami“ beschreibt eher die Lebenserfahrung der Menschen in dieser Zeit. Übrig geblieben davon ist eine Skepsis gegenüber dem „System BRD“ und damit auch gegenüber der parlamentarischen Demokratie. Auch die Wahlergebnisse sind zum Teil Ergebnis dieses Protestes. Der Satz „Ich werde nicht gehört“ oder: „Die da in Erfurt wissen doch gar nicht, wie es wirklich aussieht“, drückt das Lebensgefühl vieler Menschen aus.
Ein Zweites prägt die Einstellung vieler „gelernter DDR-Bürger“. Der westlich geprägte, ja auch englischsprachige Begriff der „political correctness“ ist vielen Menschen aus ihrer DDR-Erfahrung mehr als suspekt. In der DDR-Zeit wussten die meisten sehr genau, wann man seine Meinung offen sagen und wo man sie besser für sich behielt. Man wusste genau, dass ein offenes Wort zur falschen Zeit schlimme Folgen haben konnte. Viele haben sich dieses feine Gespür bewahrt und reagieren vorsichtig, wenn Widerspruch allzu mächtig daherkommt. So gehört es zum Lebensgefühl nicht Weniger: „Ich soll oder ich darf meine Meinung nicht sagen.“
Diese beiden Lebensgefühle haben in drei großen politischen Themenbereichen die Debatte geprägt und zum Teil extrem verschärft. Es sind die drei Themenbereiche: Islam, Corona, Klima. Diese Themen hier inhaltlich näher zu erörtern, würde zu weit führen. Es mag vielleicht erstaunen, dass ich vom Themenbereich Islam spreche, und nicht von Fremden, Migranten oder Flüchtlingen oder von Rassismus und Antisemitismus, aber aus meiner Sicht ist die Debatte hierzulande fokussiert auf den Islam und damit auf die Muslime. Das Angstpotential ist hierzulande größer, nicht obwohl in Thüringen verhältnismäßig wenige Muslime wohnen, sondern weil das so ist.
Die beiden Lebensgefühle „Ich werde nicht gehört“ und „Ich darf meine Meinung nicht sagen“ sind eine Herausforderung für unser Miteinander auf allen Ebenen. Nicht nur in der politischen Diskussion, sondern auch im privaten, freundschaftlichen oder familiären Umfeld. Zumal die Diskussionskultur in den sogenannten sozialen Medien ruhige und sachliche Diskussionen erschwert. Wir dürfen uns damit nicht abfinden. Es ist die Aufgabe von uns allen, diese Lebensgefühle wahrzunehmen, uns für die Menschen dahinter wirklich zu interessieren, ohne dem Gegenüber das Gefühl zu geben, es ohnehin besser zu wissen.
Was ich im gesellschaftlichen Miteinander erlebe, erfahre ich, wenn auch nicht so drastisch, auch im Miteinander in der katholischen Kirche. Die Diskussion, ob das Priesteramt unverheirateten Männern vorbehalten bleiben soll, wird äußerst emotional geführt. Auch in anderen Fragen fordern die Einen grundsätzliche Reformen, während die Anderen die Meinung vertreten, in der Katholischen Kirche habe sich noch nie etwas verändert und dürfe sich auch nichts verändern. Die Einen orientieren sich an dem, was der Papst und die Bischöfe sagen, die Anderen fordern ein Mitbestimmungsrecht auf allen Ebenen und eine Beschränkung der Amtszeit der Bischöfe auf zehn Jahre. Mit Blick auf die Katholische Kirche als Weltkirche sind solche Debatten noch weitaus vielfältiger und differenzierter.
In dieser Situation hat Papst Franziskus für Oktober 2023 zu einer internationalen Bischofssynode eingeladen, in der es um diese Frage gehen soll: Wie können wir heute das gemeinsame Gehen der Kirche gestalten? Die Themenfelder, die im Vorbereitungsdokument für diese Synode allen Katholiken zur Diskussion und Meinungsbildung gestellt werden, sind natürlich zum Teil spezifisch christlich oder katholisch. Einige Themenfelder können aber durchaus auch wichtige Anregungen für das Miteinander in der Gesellschaft geben.
Im ersten Themenfeld fragt der Papst im Blick auf das Miteinander in der Kirche: Wenn gesagt wird, „Unsere Kirche – wer gehört dazu? Wer sind die Reisegefährten, auch außerhalb des kirchlichen Sprengels?“ In unserer Kirche sagt man in Diskussionen auch schon einmal verschärft: „Du bist nicht mehr katholisch.“ Hier in Thüringen leben mehrere Tausend polnische Mitbürger, die bei ihrer Anmeldung nicht angegeben haben, Mitglied der Katholischen Kirche zu sein. Die meisten von ihnen werden sich aber trotzdem selbstverständlich als Katholiken verstehen. Auch in der Gesellschaft stellt sich die Frage, wer dazu gehört: Wer gehört zu unserem Dorf? Sind es alle Menschen, die hier leben? Wer ist Deutscher? Genügt die deutsche Staatsangehörigkeit? Was ist mit den deutschen Staatsbürgern, die im Ausland leben? Inwieweit gehören sie dazu? Wer ist Thüringer? Meine Großmutter ist in Pößneck aufgewachsen. Macht mich das zu einem Thüringer? Nicht jeder Eichsfelder bezeichnet sich als Thüringer. Wichtig ist ein offener Diskurs über die Frage, wer dazu gehört. Jeder, der im Lauf seines Lebens seinen Wohnort gewechselt hat, wird die Frage nach seiner Identität differenziert beantworten und damit auch die Frage nach seiner Zugehörigkeit zu einer Stadt, zu einem Land oder zu einem Volk. Im besten Fall kann dieser Diskurs die Toleranz wecken oder stärken, auch diejenigen zu akzeptieren, die man nicht haben möchte oder die man ablehnt. Diesen Diskurs müssen wir führen. Er ist eine zentrale Aufgabe der Zukunft unseres Landes.
Das zweite Themenfeld, das Papst Franziskus zur Stärkung des Miteinanders anspricht, steht unter der Überschrift „Zuhören“. Es heißt da: „Das Zuhören ist der erste Schritt. Es erfordert aber, ohne Vorurteile offenen Geistes und Herzen zu sein.“ Ein solches Zuhören ohne Vorurteile, aber mit offenem Herzen und offenem Geist erfordert natürlich eine entsprechende Diskussions- und Debattenkultur. Über jedem Parlamentsraum sollte ein Schild hängen mit der Aufschrift: „Lautstärke ist kein Argument.“ Und wenn es in einer öffentlichen Debatte persönlich wird, sollte das nicht bedeuten, dass der Gesprächspartner persönlich attackiert wird, sondern vielmehr, dass die persönliche Motivation eines Redebeitrages auch ausgesprochen wird. Die Diskussion im Deutschen Bundestag über assistierten Suizid war eine Sternstunde der Demokratie, weshalb ich es sehr bedauert habe, dass das Bundesverfassungsgericht diese jenseits von Fraktionsgrenzen geführte Parlamentsdebatte bei seiner Entscheidung kaum berücksichtigt hat. Ich fürchte, die Folgen dieser Entscheidung werden unsere Gesellschaft in einer Weise verändern, die wir uns heute noch nicht im Ansatz vorstellen können. Darüber wird noch viel zu sprechen sein. Aber zurück zum Zuhören. In der politischen Debatte bedeutet das Zuhören als erster Schritt auch das Hören auf Fakten. Wenn es keine klare Faktenlage gibt, muss man dies eben transparent machen. Dann ist es umso wichtiger, möglichst viele Aspekte, Meinungen und Argumente zu berücksichtigen, um zu einer Entscheidung zu kommen. Wenn es dabei nicht gelingt, parteipolitische Erwägungen und strategische Machtspiele zurückzustellen, erleidet die parlamentarische Demokratie Schaden. Vor allem auf der kommunalen Ebene ist es mitunter fast schon skurril, wenn vernünftige Projekte abgelehnt werden, bloß weil sie von der falschen Partei eingebracht werden. Die Menschen erwarten zurecht etwas anderes. Sie erwarten, dass die von ihnen gewählten Politikerinnen und Politiker einander zuhören und Lösungen entwickeln. Egal, ob die Mehrheitsverhältnisse eindeutig oder eher ungewohnt sind.
Ein drittes Themenfeld, dass Papst Franziskus für den Synodalen Weg der Katholischen Kirche vorgibt, ist überschrieben mit „Das Wort ergreifen“. Es heißt: „Alle sind eingeladen, mit Mut und Freimut zu sprechen, das heißt Freiheit, Wahrheit und Liebe zu integrieren.“ Es wäre wirklich großartig, wenn dies gelingen würde, nicht nur in unserer Kirche, sondern auch in unserer Gesellschaft. Das heißt, wenn alle, die sich zu Wort melden, dies in Freiheit, Wahrheit und Liebe tun. In unserem Land herrscht Meinungsfreiheit, manchmal sogar in extremen Maß, weil sie auch die Beleidigung von Menschen oder die Verletzung religiöser Gefühle zulässt. Es ist schlimm, wenn Menschen sich nicht mehr für ein öffentliches Amt zur Verfügung stellen, weil sie Beschimpfungen und Bedrohungen befürchten müssen. Wer mit Freimut und in Freiheit spricht, für den sollten auch die Attribute der Wahrheit und der Liebe gelten. Die wissentliche Lüge, die ungeprüft aufgestellte Behauptung oder die verdrehte Darstellung von Tatsachen untergraben die Freiheit der Meinungsäußerung. Wichtig ist auch der Hinweis auf die Liebe. Mit Liebe ist hier weniger eine intensive menschliche Beziehung gemeint, als vielmehr das Wohlwollen dem Anderen gegenüber. Dies muss eine Grundtugend auch von Parlamentarierinnen und Parlamentariern sein. Sie setzen sich sonst dem Verdacht aus, dass sie das parlamentarische System als solches missachten. Die Integration der Liebe in die politische Meinungsbildung umfasst natürlich auch die Liebe zu den Bürgerinnen und Bürgern, die den Politikerinnen und Politikern bei der Wahl das Mandat gegeben haben. Sie müssen im Mittelpunkt der Entscheidungen stehen. Nur dann kann es gelingen, mit verschiedenen Parteien - auch mit einer Minderheitsregierung - gemeinsame Wege zu finden.
Schließlich ist noch ein weiteres Themenfeld des Synodalen Weges unserer Kirche auch für unsere Gesellschaft ein wichtiger Hinweis. Das Vorbereitungsdokument der Bischofssynode nennt dieses Thema „Feiern“. Im Sinne dieses christlichen Weges ist dabei natürlich in erster Linie an Gottesdienste gedacht, in denen die Gläubigen ihren Bund mit Gott feiern. Aber dies kann durchaus auch eine Anregung für eine säkulare Gesellschaft sein, das zu feiern, was sie verbindet, was sie erfreut und was gelungen ist. Ich denke zum Beispiel an die Gründung des Freistaates Thüringens am 1. Mai 1920 und seine Wiedergründung am 3. Oktober 1990. Wenn im kommenden Jahr der Tag der Deutschen Einheit in Erfurt begangen wird, sollte dies auch ein Fest der Wiedergründung des Freistaats Thüringen sein. Das würde sicher die Bedenken mancher Thüringer gegenüber einer großen Feier der Wiedervereinigung mindern. Wir haben in Thüringen so Vieles, worüber wir uns freuen und das wir feiern können. Gott sei Dank konnte uns Corona nicht die Freude an der Bundesgartenschau nehmen und die Bundesgartenschau ist ja nicht einfach vorbei. Sie hat bleibende Spuren vor allem im Norden Erfurts hinterlassen. Als man von der neuen blauen Brücke über die Gera den neugestalteten Gerastrand sehen konnte, hat mir ein älterer Herr erklärt, dass dort die erste Kläranlage Erfurts errichtet worden war, die dann aber mit dem Bau einer neuen Kläranlage weiter im Norden einfach sich selbst überlassen worden ist und völlig überwuchert war: „Dass das hier einmal so schön wird, hätte ich mir niemals träumen lassen“, sagte dieser Herr voller Begeisterung zu mir. Voller Begeisterung denke ich auch an unser Themenjahr „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ und die Übergabe der neuen Tora-Rolle an die Jüdische Landesgemeinde vor einigen Wochen. Ein Gemeindemitglied sagte mir: „Dass wir mitten in der Stadt die Vollendung der Tora-Rolle und ihre Einbringung in die Synagoge mit einem so fröhlichen Fest feiern können, ist für mich ein Wunder.“
So können Anregungen für den gemeinsamen Weg in unserer Katholischen Kirche durchaus auch Anregungen enthalten für den gemeinsamen Weg der säkularen Gesellschaft. Ich möchte nicht schließen, ohne Ihnen allen zu danken für Ihr Engagement in der Bewältigung der Corona-Pandemie. Es waren und sind sehr schwere Entscheidungen, die Sie treffen müssen. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Mut, Entscheidungen auch zu revidieren, und wünsche uns allen, dass es uns gelingt, die Pandemie zu überwinden und wieder zu einem Leben ohne Maske und ohne Abstandsgebot zurückzukehren. Ich freue mich auf die Begegnungen und Gespräche am heutigen Abend und auch auf Ihre Meinungen zu dem, was ich in meinem kurzen Vortrag gesagt habe.