Was Weihnachten mit Freiheit zu tun hat

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr an Weihnachten, 25. Dezember 2019

Bild: Friedbert Simon; in: Pfarrbriefservice.de

Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
angenommen, wir könnten uns entscheiden, wann wir geboren werden, in welcher Familie und in welchem Volk – das wäre eine großartige Freiheit. Sie würde nur noch dadurch überboten, dass wir entscheiden könnten, ob wir überhaupt geboren werden wollen. Nach unserer christlichen Glaubensüberzeugung hat Jesus diese Freiheit gehabt. Er ist Gottes Sohn. Er lebt in Ewigkeit. Er konnte über seine Menschwerdung selbst entscheiden. Für seine Geburt hat er eine der wenigen Zeiten der Weltgeschichte gewählt, in der Frieden herrschte, der Frieden unter dem römischen Kaiser Augustus, die Pax Augusta. Er hat sich für das Land Israel entschieden. Wenn ich zu entscheiden hätte, in welchem Land ich geboren werde, würde ich auf das Klima achten und auf den Wohlstand. Dann käme Israel zur  Zeit Jesu durchaus in Frage. Ausschlaggebend für die Wahl Jesu war aber, dass das Volk Israel seine wechselhafte Geschichte jahrhundertelang mit Gott gelebt hatte und bis heute das erwählte Volk Gottes ist. Die Frage, in welcher Familie ich geboren werden möchte, ist nicht leicht zu beantworten. Nach einigem Nachdenken würde ich es allerdings vorziehen, nicht hochwohlgeboren zu sein. Eine angesehene Handwerkerfamilie wäre mir lieber. So kann ich die Entscheidung Jesu für den Zeitpunkt, das Land und die Familie seiner Geburt durchaus nachvollziehen.

Das Erstaunliche an unserem christlichen Weihnachtsglauben ist die Entscheidung Jesu, überhaupt Mensch zu werden. Als Gottes Sohn weiß er, was in der Welt vor sich geht und wie die Menschen miteinander umgehen. Er weiß, dass die Freiheit der Menschen Gottes Schöpfung immer wieder aus dem Lot bringt. Und Jesus Christus ist trotzdem Mensch geworden. Das ist das Erstaunliche und Erfreuliche der christlichen Weihnachtsbotschaft. Das Befreiende und Erlösende der Menschwerdung Gottes ist allerdings die Botschaft Jesu Christi, dass er nicht Mensch geworden ist, obwohl die Menschen so schlecht und so böse sein können, sondern weil die Menschen so schlecht und so böse sein können. Gott ist nicht auf die Welt gekommen, um die Menschen zu bestrafen, sondern um ihnen den Weg zum richtigen Leben zu eröffnen. Es heißt im Johannes-Evangelium: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“ (Johannes 3,17).
 
Bei diesem Rettungs- oder Erlösungswerk wurde uns Menschen nicht die Freiheit genommen. Wir können uns nach wie vor gegenseitig Schlimmes antun, das bestimmt nicht im Sinne Gottes ist. Wir können uns nach wie vor völlig von Gott abwenden. Gott tastet die Freiheit des Menschen nicht an. Er weist den Weg zum Leben durch die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat. Mehr noch – er macht auch den Sündern und Verbrechern das Angebot, durch Umkehr und Glaube die ausgestreckte Hand des barmherzigen Vaters zu ergreifen; ob es ein Zöllner war, der seine Machtposition rücksichtslos missbrauchte oder ob es der Verbrecher war, der mit ihm zusammen gekreuzigt wurde. Durch die Menschwerdung in Jesus Christus bietet Gott den Menschen die Erlösung an, ohne ihre Freiheit anzutasten. Weihnachten ist das Fest der Freiheit des Menschen.

Freiheit wird besonders dann großgeschrieben, wenn man sie nicht hat. Das wissen alle, die die DDR erlebt und erlitten haben. Der Ruf nach Freiheit brachte die menschenverachtende Mauer zwischen beiden Teilen Deutschlands zum Einsturz. Gott sei Dank leben wir in einem freien Land. Wir haben freie Wahlen und Reisefreiheit. Wir haben die Freiheit der Berufswahl und Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit geht sogar so weit, dass sie religiöse Gefühle verletzen oder Politikerinnen beschimpfen darf. Es ist skurril zu behaupten, die Meinungsfreiheit sei heute so eingeschränkt wie zu Zeiten der SED-Diktatur, bloß weil andere anderer Meinung sind. Freiheit bedeutet auch die Freiheit, eine Meinung abzulehnen und mit friedlichen Mitteln zu bekämpfen.
 
Der Freiheit geht es wie der Gesundheit. Wenn man sie hat, merkt man sie nicht. Wir müssen uns unserer Freiheiten bewusst werden, damit wir uns daran freuen können. Das Leben bietet uns unzählige Möglichkeiten. Wir haben die Freiheit, auch grundlegende Lebensentscheidungen selbst zu fällen. Viele von Ihnen haben sich in Freiheit entschieden, dem Lebenspartner lebenslange Treue zu versprechen. Ich habe mich frei entschlossen Priester zu werden. Den Ruf nach Erfurt hätte ich auch ablehnen können. Nicht nur bei großen Lebensentscheidungen haben wir Freiheiten. Auch das alltägliche Leben bietet uns unendlich viele Möglichkeiten, uns in Freiheit zu entscheiden, was wir mit unserer Zeit anfangen, wie wir mit den Menschen umgehen, welche Rolle Gott in unserem Leben spielt, wofür wir unser Geld ausgeben. Weihnachten ist auch das Fest der Freiheit des Menschen. Es ist auch ein Anlass uns daran zu freuen, welche Freiheit uns Gott einräumt. Er nimmt dafür sogar in Kauf, dass seine Schöpfung aus den Fugen gerät. Um seine Schöpfung zu retten, schafft Gott die Freiheit des Menschen nicht ab, sondern wird selbst ein Mensch. So kostbar ist für Gott unsere Freiheit.

Die Kehrseite der Freiheit ist die Verantwortung. Je mehr Freiheiten wir haben, desto größer wird unsere Verantwortung für das, was wir tun und lassen; unsere Verantwortung für uns selbst, unsere Mitmenschen, die Gesellschaft, in der wir leben und die Schöpfung, die uns anvertraut ist. Dies betrifft jeden einzelnen Menschen in seinem persönlichen Lebensstil. Für uns als Christen bedeutet dies, dass wir die Botschaft des Evangeliums in uns aufnehmen und nach Kräften mitbauen an einer Welt, wie Gott sie eigentlich geschaffen hat, dass wir den Sauerteig der Sünde entfernen und Platz schaffen für das Reich Gottes. Das ist eine große Herausforderung, die uns immer wieder fragen lässt, welche Freiheiten, welche Möglichkeiten und welche Verantwortung wir in unserem Leben haben. Der Blick auf die Weihnachtskrippe lehrt uns, dass auch das Kleine und Unscheinbare zählt. Der Erlöser der Welt kam als Säugling, der, in Windeln gewickelt, in einer Krippe lag. Nur ein paar Hirten hörten das große himmlische Heer, das Gott lobte und sprach: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.“ (Lukas 2,14).