Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
an der Nordwand des Langhauses im Mariendom hängen drei geschnitzte Holzreliefs mit Szenen aus dem Leben Mariens. Sie gehörten ursprünglich wohl zu einem Marienaltar, der im 15. Jahrhundert entstanden ist und vermutlich in einer Erfurter Werkstatt gefertigt wurde. Ich empfehle Ihnen, in den Weihnachtstagen das Relief von der Geburt Christi zu betrachten. Zu sehen sind die üblichen Ausstattungsdetails: Im Hintergrund sieht man Olivenbäume, Schafe und einen Hirten. Ochs und Esel sind sehr realistisch und lebhaft dargestellt. Auf der linken Seite sieht man die berühmte Krippe mit Maria und dem Jesuskind. Das Jesuskind ist nicht auf Stroh gebettet, sondern liegt in einem goldenen Strahlenkranz, der seine Göttlichkeit darstellt. Demensprechend kniet Maria mit gefalteten Händen neben dem Kind.
Auf der rechten Seite ist der Teil des Krippenbildes dargestellt, der mir am besten gefällt und den ich gerne Kindern zeige: Der heilige Josef kniet nämlich nicht wie Maria neben dem göttlichen Kind. In gebückter Haltung wendet er sich vielmehr ab. Man sieht einen Beutel, den er am Gürtel befestigt hat und der möglicherweise einen Geldbeutel darstellt. Nicht nur Kinder, sondern auch erwachsene Betrachter treten instinktiv näher an das Bild heran mit der Frage: Weshalb wendet sich Josef von Maria und dem Jesuskind ab? Was macht er da? Ein genauer Blick beantwortet die Frage: Josef hält eine kleine Pfanne in der rechten Hand und einen Löffel in der linken Hand. Diese Pfanne hält er über ein Feuer. Ein kleiner Engel ist ihm mit einem kleinen Blasebalg zu Hilfe geeilt, um das Feuer anzufachen. Der heilige Josef kocht einen Brei für das Jesuskind! Er versinkt nicht anbetend in Betrachtung, sondern kümmert sich um das leibliche Wohl.
Nicht nur Kindern macht diese schöne Krippendarstellung deutlich, dass wir Menschen uns eben auch um die banalen Dinge des Alltags kümmern müssen und dass auch Kinder dazu einen Beitrag leisten müssen, weil das bei uns leider nicht die Engel übernehmen. Auch an stimmungsvollen und harmonischen Weihnachtstagen muss der Tisch gedeckt und die Spülmaschine ausgeräumt werden.
In einer verallgemeinernden Weise zeigt dieses Bild: Frömmigkeit und Anbetung gehören zum Christentum genauso wie die Sorge füreinander. Kontemplation und Aktion gehören nicht nur zueinander, sondern sie bereichern sich auch gegenseitig: Wenn wir uns in den Weihnachtsgottesdiensten und dem persönlichen Gebet dem menschgewordenen Gottessohn zuwenden, dann sind dies hoffentlich Erfahrungen, die unser Leben bereichern. Wir spüren, dass wir zerbrechliche Menschen von der unendlichen Liebe Gottes umfangen sind, dass wir nicht nur ein Wimpernschlag in der Geschichte sind, sondern Gottes geliebte Geschöpfe, für die Christus Mensch geworden ist. Diese geistliche Erfahrung wird von alleine zur Triebfeder, dass auch wir uns auf den Weg zu den Menschen machen. Der belgische Ordensmann Phil Bosmans hat es so gesagt: „Weihnachten ist nicht nur eine schöne Erinnerung an ferne Vergangenheit, sondern ein Geschehen, das weitergeht. Die Liebe soll auch heute Hand und Fuß bekommen. Mach´s wie Gott - werde Mensch!“
Umgekehrt ist jede Zuwendung zum Menschen immer auch eine Zuwendung zum menschgewordenen Gottessohn Jesus Christus. Im Gleichnis vom Weltgericht sagt der Menschensohn: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40). Das gilt auch, und gerade für diejenigen, die gar nicht wussten, dass ihr Werk der Barmherzigkeit nicht nur dem Menschen in Not hilft, sondern auch Jesus Christus, der als Menschensohn dem Weltgericht vorsitzt.
Wenn ich Erwachsenen das schöne Holzrelief mit der Darstellung der Geburt Christi zeige, erkläre ich ihnen auch einen weiteren Hintergrund dieser Darstellung: Bis zur Erfindung des DNA-Tests galt der alte römische Rechtsgrundsatz: Pater semper incertus est. Auf Deutsch: Es ist immer ungewiss, wer der Vater ist. Auch unsere heutige Rechtsprechung kennt den Unterschied zwischen rechtlicher und biologischer Vaterschaft. Vater eines Kindes ist der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. Im Mittelalter galt der Grundsatz: Wenn der Mann sich um das Kind kümmert, bedeutet das, dass er seine Vaterschaft anerkennt. Indem Josef für das Jesuskind einen Brei kocht, anerkennt er seine rechtliche Vaterschaft und übernimmt die rechtlichen Pflichten für das Kind und seine Mutter. Vielleicht ist deswegen auf dem Weihnachtsbild so deutlich der Geldbeutel des heiligen Josef dargestellt.
So ist dieses Bild auch eine Darstellung der Größe des Menschen, der ohne Wenn und Aber und ohne jede zeitliche Befristung Verantwortung übernehmen kann. Die minimalistische Definition von Familie ist tatsächlich, dass Menschen in der Familie Verantwortung füreinander übernehmen. Verantwortung ist für uns Menschen nicht nur Last. Sie kann auch Bereicherung und Erfüllung bringen.
Ich wünsche allen, die in einer Familie leben können, dass diese wunderbare Seite der Verantwortung füreinander die gemeinsame Zeit der Weihnachtstage prägt. Der heilige Josef hat es verdient, einmal in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt worden zu sein.