Reformatorische Spuren im Katholischen

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr beim Ökumenischen Gottesdienst zum Kirchentag auf dem Weg am 27. Mai 2017 in der Erfurter Predigerkirche

Das Gleichnis vom Weinstock lädt dazu ein zu fragen, welche Reben heute Frucht bringen. Ich wurde eingeladen, darüber zu berichten, welche Überlegungen und Entwicklungen der Reformation heute in der katholischen Kirche Frucht bringen.

 

Die wichtigste und grundlegende Frucht der Reformation für die katholische Kirche ist sicher, dass sie viele Anliegen der reformatorischen Theologie in ihre Lehrtradition aufgenommen hat. Hier ist vor allem daran zu denken, dass auch die katholische Kirche deutlicher entdeckt hat, dass die Erlösung ein unverdientes Geschenk ist, das sich keiner verdienen kann. Gute Werke sind Ausdruck des Glaubens oder Antwort auf die unergründliche Liebe und Barmherzigkeit des himmlischen Vaters.

Darüber hinaus hat vor allem das Zweite Vatikanische Konzil deutlich ins Bewusstsein gehoben, dass im Sinne der biblischen Überlieferung alle Getauften am gemeinsamen Priestertum Anteil haben.

 

Dies ist nicht nur eine theologische oder ekklesiologische Einsicht, sondern hat Konsequenzen für die Erneuerung der Liturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Die Liturgie soll allen Gläubigen eine tätige Teilnahme ermöglichen. Getaufte und Gefirmte übernehmen liturgische Dienste. Wortgottesdienste werden als selbstständige liturgische Feiern gesehen, die auch von Laien geleitet werden können. In den Diasporagebieten der ehemaligen DDR wurde vor über 50 Jahren den sogenannten Diakonatshelfern die Erlaubnis erteilt, in solchen Wortgottesdiensten auch die Heilige Kommunion auszuteilen. Darüber hinaus wurde für alle Pfarreien die Mitwirkung der Pfarreimitglieder sowohl im pastoralen Bereich (Pastoralrat) als auch im Verwaltungsbereich (Verwaltungsrat) festgeschrieben. 

 

Die Bedeutung des Wortes Gottes, also der Bibel, für die Feier der Gottesdienste wurde im Zweiten Vatikanischen Konzil - auch aus der in Erinnerung gerufenen Praxis der Kirche der ersten Jahrhunderte - deutlich unterstrichen, nicht nur dadurch, dass eigenständige Wortgottesdienste ohne eucharistischen Teil, also ohne Feier des Abendmahles, eingeführt wurden; vielmehr wurde auch in der Feier der heiligen Messe der Wortgottesdienst hervorgehoben.

In der Sonntagsmesse wurden drei biblische Lesungen eingeführt und der Teil der biblischen Verkündigung einschließlich der Predigt nicht mehr als "Vormesse" bezeichnet, sondern als "Wortgottesdienst". Neben dem Tisch des Brotes, der Feier des Abendmahles, wurde so der Tisch des Wortes reichlicher gedeckt.

 

Schließlich möchte ich auf eine große Frucht der Reformation hinweisen, die nicht nur die Gottesdienste der katholischen Kirche bereichert hat, sondern auch die Frömmigkeit der Gottesdienstfeiernden wesentlich geprägt hat, nämlich die Einführung des Kirchenliedes. Nach wie vor singen wir in unseren Gottesdiensten Lieder, die von Reformatoren geschrieben wurden. Sie haben darüber hinaus viele inspiriert, Lieder für den Gemeindegesang zu schreiben, die seitdem die Gottesdienste in der katholischen Kirche in Deutschland bereichern und fast zu einem Alleinstellungsmerkmal der katholischen Kirche in Deutschland geworden sind.

 

Die Impulse der Reformation haben also nicht nur die Theologie der katholischen Kirche geprägt, sondern das Glaubensleben und die Gottesdienstpraxis.


30.05.2017