Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,
am 8. Juli 1994, am Fest des Heiligen Kilian, wurde das Bistum Erfurt gegründet. Nach vielen Diskussionen und Beratungen wurde entschieden, das kirchlich-katholische Leben, das sich trotz widriger Umstände in der Zeit der SED-Diktatur zwischen Werra und Saale entwickelt hatte, in einem eigenständigen Bistum weiterzuentwickeln. Seitdem sind die Katholiken im größten Teil Thüringens als katholische Kirche von Erfurt pilgerndes Gottesvolk durch die Zeit.
Das II. Vatikanische Konzil bevorzugt unter den vielen Bildern, mit denen die Bibel die Kirche beschreibt, das Bild vom pilgernden Gottesvolk. Das Konzil beschreibt zunächst Leben und Wirken des Gottesvolkes und erst im anschließenden Kapitel die hierarchische Verfassung der Kirche.
Das pilgernde Gottesvolk im Bistum Erfurt hat in den vergangenen 25 Jahren viele Entwicklungen erlebt und gestaltet: Durch die friedliche Revolution in der DDR und die dadurch möglich gewordene Deutsche Einheit gab es grundlegende Umformungen in der Gesellschaft und in der Wirtschaft. Mittlerweile ist eine Generation herangewachsen, die die DDR nicht mehr erlebt hat.
Auch im Bistum gab es grundlegende Veränderungen. Lebten 1994 noch 190.000 Katholiken im Bistum, so sind es jetzt 150.000. Allerdings ist der Anteil der Katholiken an der Thüringer Bevölkerung von 7-8 % konstant geblieben.
Aus 130 Pfarreien wurden in den letzten 25 Jahren 46 Kirchengemeinden. Und statt 169 Priester im aktiven Dienst im Jahre 1994 arbeiten jetzt 85 Priester in der Seelsorge unseres Bistums.
Viele von Ihnen erleben dies als einen Niedergang. Ich will die Entwicklung auch nicht schönreden. Sicher, an nicht wenigen Orten wird das Charisma der Getauften entdeckt und gefördert, aber es braucht auch den priesterlichen Dienst der Verkündigung des Evangeliums, der Heiligung durch die Feier der Sakramente und der geistlichen Leitung als ständige Sorge um das Leben und die Einheit der Kirche.
Das Gebet um Priesterberufe ist dringender denn je. Die Pfarreien in ganz Deutschland sind aufgerufen, am Weltgebetstag für Geistliche Berufe ein 24 Stunden-Gebet am 11./12. Mai 2019 zu halten.
Bei allen Veränderungen, die es in unserem Bistum gibt, ist es erstaunlich, dass die Herausforderungen dieselben geblieben sind wie bei der Bistumsgründung. In einem Vortrag im Jahre 1994 hat Bischof Wanke gesagt: „In der Pastoral wird, noch stärker als bisher ins Bewusstsein gedrungen, das Denkmodell der „pastoralen Betreuung“ aufgelöst werden zu dem Grundmodell: Jeder trägt den Glauben des anderen mit und zwar durch die Gaben und Möglichkeiten, die ihm von Gott her geschenkt sind. Alle (!) sind gemäß den ihnen gegebenen Möglichkeiten Träger der Grundvollzüge des Gemeindelebens.“
Weiter sagte Bischof Joachim Wanke: „Ich suche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die die Balance zwischen Bewahren und Verändern suchen und aushalten wollen; die geistig und geistlich so wach sind, dass sie nicht vor der Perspektive erschrecken, dass man in Thüringen auch mit noch weniger hauptamtlichen Frauen und Männern in der Pastoral Christus und sein Evangelium bezeugen und Kirche bauen könnte.“* Diese Sätze gelten für mich 25 Jahre später immer noch.
Das II. Vatikanische Konzil schreibt in der dogmatischen Konstitution über die Kirche: „Bestimmt zur Verbreitung über alle Länder, tritt sie in die menschliche Geschichte ein und übersteigt doch zugleich Zeiten und Grenzen der Völker.“ (LG 9). Zur Verbreitung des Glaubens sind wir mit allen Christen gemeinsam berufen. Gerade in der doppelten Diaspora Thüringens ist ein gutes ökumenisches Miteinander Voraussetzung für ein fruchtbares Glaubenszeugnis. Ich danke vor allem den konfessionsverbindenden Ehen und Familien, die dies exemplarisch leben.
Zum Glaubenszeugnis des Wortes muss sich das Glaubenszeugnis der Tat gesellen. Die Österliche Bußzeit ist nicht nur eine Zeit des Fastens und des Betens, sondern auch eine Zeit der Reflexion, ob wir uns genügend für unsere Mitmenschen einsetzen.
Als Gottesvolk stehen wir im Strom der Geschichte und sind herausgefordert, unsere Gesellschaft nach Kräften im Geist des Evangeliums zu gestalten. Ich danke allen, die sich in den Einrichtungen des Caritasverbandes und der Diakonie sowie in unseren Schulen und Kindergärten dafür einsetzen, in diesen Einrichtungen Kirche erlebbar zu machen und den Menschen das Evangelium anzubieten. Ich danke auch allen, die sich aus christlicher Berufung in der Politik engagieren, auch wenn sie nicht immer erreichen können, was sie erreichen wollen. Politik ist die Kunst des Möglichen.
Wir alle sind in diesem Jahr bei drei wichtigen Wahlen aufgerufen, unser Gemeinwesen mitzugestalten. Vergessen wir nicht, dass vor 30 Jahren die Menschen mit hohem persönlichem Risiko für freie Wahlen demonstriert haben. Die Kommunalpolitiker, die sich am 26. Mai zur Wahl stellen, verdienen unseren Respekt, weil sie sich für das Zusammenleben der Menschen vor Ort engagieren. Dabei werden sie oft von Bürgerinnen und Bürgern kritisiert, ja sogar beschimpft, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Dieser Egoismus, der zunehmend das menschliche Miteinander prägt, bestimmt auch immer mehr das Verhältnis der Völker Europas zueinander. Daher verdienen auch die Politiker unsere Unterstützung, die sich für ein gemeinsames europäisches Haus einsetzen und dafür bei der Europawahl am 26. Mai kandidieren.
Da katholische Christen Glieder des weltumspannenden Gottesvolkes der Kirche sind, gilt der Grundsatz: Katholizismus und Nationalismus gehen nicht zusammen.
Und wenn wir am 27. Oktober aufgerufen sind, den neuen Thüringer Landtag zu wählen, müssen wir uns ebenso wie bei den Kommunal- und Europawahlen ein Bild machen vom politischen Programm der zur Wahl stehenden Parteien und verantwortungsvoll von unserem Wahlrecht Gebrauch machen.
Alle, die sich zur Wahl stellen, rufe ich auf, einen fairen, respekt¬vollen und der Wahrheit verpflichteten Wahlkampf zu führen.
Bei der Bistumswallfahrt nach Erfurt am 15. September 2019 werden wir miteinander das 25-jährige Jubiläum unseres Bistums begehen, um daraus den Elan und den Optimismus zu schöpfen, dass wir auch in den kommenden 25 Jahren als pilgerndes Gottesvolk dem dreifaltigen Gott einen Platz in Thüringen geben werden und aus dem Geist des Evangeliums unser Leben, unsere Kirche und unsere Gesellschaft mitgestalten.
Möge uns die Zeit der Vorbereitung auf Ostern und die Feier der Auferstehung unseres Herrn die Augen dafür öffnen, dass wir den Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe nicht allein gehen, sondern in Gemeinschaft mit unserem auferstandenen Herrn, Jesus Christus.
Ich möchte Sie noch mit einem Wort des II. Vatikanischen Konzils ermutigen: „So ist denn dieses messianische Volk, obwohl es tatsächlich nicht alle Menschen umfasst und gar oft als kleine Herde erscheint, für das ganze Menschengeschlecht die unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils. Von Christus als Gemeinschaft des Lebens, der Liebe und der Wahrheit gestiftet, wird es von ihm auch als Werkzeug der Erlösung angenommen und als Licht der Welt und Salz der Erde in alle Welt gesandt.“ (LG 9). Diesem Auftrag wollen wir uns stellen!
Liebe Schwestern und Brüder, ich wünsche Ihnen eine gesegnete österliche Bußzeit und erbitte für Sie den Segen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Ihr Bischof Ulrich Neymeyr
* Joachim Wanke, Ein Bistum für Thüringen – zeitgemäß ? in: Pastoralblatt 11(1994)337-343.