In diesem Jahr wurde viel über Heimat geredet und geschrieben. Viele Menschen wurden dazu angeregt, durch Begegnungen mit Flüchtlingen, die ihre Heimat verlassen mussten und hierhergekommen sind. Andere machen sich Sorgen um ihre Heimat und haben Angst vor Überfremdung. Weihnachten beleuchtet mehrere Aspekte unseres Heimatgefühls: Jesus wurde zwar in Bethlehem geboren, ging aber als "Jesus von Nazareth" in die Geschichte ein. Nicht der Geburtsort prägt uns Menschen, sondern der Ort, an dem wir aufwachsen und erwachsen werden. Wir sind geprägt von der Familie, aber auch von den anderen Menschen, ihrer Mentalität und Kultur, ihrer Religion und Tradition. Auch wenn ich selbst bisher die meiste Zeit meines Lebens in Mainz verbracht habe, ist mein Heimatort nach wie vor Worms, weil ich dort bis zum Abitur gelebt habe und in vielfältiger Weise dort geprägt wurde. Deswegen erschüttert mich auch das Schicksal der jugendlichen Flüchtlinge, die ganz alleine zu uns hierhergekommen sind. Laut Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind in diesem Jahr bis zum 31. Oktober 32.464 jugendliche Flüchtlinge zu uns gekommen.
Das Weihnachtsevangelium aus dem Johannesprolog zeigt aber auch, dass Heimaterfahrung nicht nur positive Seiten haben kann: "Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf." (Johannes 1,11). Dies trifft auch auf Nazareth zu, weil Jesus dort die Schattenseiten von Heimat erfahren hat: "Jesus kam in seine Heimatstadt und lehrte die Menschen dort in der Synagoge. Da staunten alle und sagten: Woher hat er diese Weisheit und die Kraft, Wunder zu tun? Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria und sind nicht Jakobus, Josef, Simon und Judas seine Brüder? Leben nicht alle seine Schwestern unter uns? Woher also hat er das alles? Und sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab." (Matthäus 13,54-57). Jesus steckte in einer Schublade und da kam er nicht heraus. Diese Erfahrung musste er auch außerhalb von Nazareth machen. Wenige Verse nach dem schönen Johannesprolog heißt es im Johannesevangelium: "Philippus traf Nathanael und sagte zu ihm: Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazareth, den Sohn Josefs. Da sagte Nathanael zu ihm: Aus Nazareth? Kann von dort etwas Gutes kommen?" (Johannes 1,45-46).
Die Antwort des Philippus kann alle solche Schubladen sprengen: "Komm und sieh!" (Johannes 1,46). Die Aufgeschlossenheit für Neues, das neugierige Interesse an Unbekanntem, eröffnet die Möglichkeit zur Horizonterweiterung, zu bereichernden Begegnungen und zu vertiefter Kenntnis der Wirklichkeit. Dies trifft auf die Begegnung mit Menschen genauso zu wie auf die Begegnung mit dem Göttlichen. In der Begegnung mit Menschen kann sie den Satz des Philosophen Karl Jaspers bestätigen: "Heimat ist da, wo ich verstehe und verstanden werde." Und in der Begegnung mit dem Göttlichen ist Weihnachten die Einladung, sich vertieft auf den einzulassen, der als kleines Kind in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt. Es ist die Einladung, dem Herrn Jesus Christus in Gebet und Gottesdienst zu begegnen und in der Lektüre der Evangelien sein Wirken und seine Botschaft umfassend und vertieft kennenzulernen. Die erneuerte Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift ist eine ganz konkrete Einladung dazu.
Die Nachrichten der letzten Woche erinnern uns äußerst schmerzlich daran, dass Jesus nicht in eine heile Welt gekommen ist und kommt. Die Nachrichten über Kriegsgräuel und Terrorakte machen das überdeutlich. Jesus hat sich dieser Welt ausgesetzt. Er ist nicht aus Abenteuerlust Mensch geworden, sondern um uns Menschen und unsere Welt von innen heraus zu erlösen und zu einer Zivilisation der Gerechtigkeit und des Friedens zu befähigen. Die ersten Christen haben schon sehr bald den Zusammenhang zwischen Krippe und Kreuz gesehen: Als Neugeborener wurde Jesus in eine Krippe aus Holz gelegt. Als erwachsener Mann wurde er an einem Kreuz aus Holz hingerichtet. Er war als Säugling auf Hilfe, Zuwendung und Liebe angewiesen und er war als Erwachsener verletzbar und sterblich. Er begegnet uns in den Hilfsbedürftigen und in den Opfern. Der Weihnachtsfriede, den die Engel auf den Feldern von Betlehem verkündeten, bedeutet nicht nur Abwesenheit von Krieg oder gerechten Ausgleich der Interessen, sondern behutsamen Umgang mit der Verletzbarkeit des Anderen und die Bereitschaft, Vergebung zu erbitten und zu gewähren.
23.12.2016