Kirche ist auch eine sündige Kirche

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr im Wallfahrtsgottesdienst am 19.September

Bischof Neymeyr bei einer Predigt 2014Bild: Jens-Ulrich Koch/Bistum Erfurt

Jesus hat ein Kind in die Mitte seiner Jünger gestellt und sich mit diesem Kind identifiziert: „Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf.“ (Mk 9,37) In vielfältiger Weise ist unsere Kirche für Kinder, Jugendliche und Hilfsbedürftige da: in Familien, in Kindergärten und Schulen, in caritativen Einrichtungen und in der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit. Ich danke allen, die aus ihrer christlichen Berufung heraus für die Kinder, Jugendlichen und Hilfsbedürftigen da sind. Und ich danke allen, die in der Welt der Kinder und Jugendlichen Zeugen des Glaubens sind. In den letzten Jahren haben die Verantwortlichen und die Öffentlichkeit erfahren, dass auch in unserer Kirche Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen sexualisierte Gewalt angetan wurde. Das Entsetzen innerhalb und außerhalb der Kirche ist berechtigt – auch über den Umgang der Verantwortlichen mit Beschuldigten und mit Betroffenen. Es gibt daran nichts zu beschönigen.

Es ist aber nicht so, dass die Bischöfe und viele in der Kirche diese Verbrechen einfach nur mit Entsetzen zur Kenntnis genommen hätten. In allen kirchlichen Einrichtungen und Organisationen stehen Fachleute mit ihrer Kompetenz den Betroffenen als Ansprechpersonen zu Verfügung. Ich danke Frau Samietz und Herrn Kellert, die diese wichtige Aufgabe in unserem Bistum wahrnehmen. Keine andere Organisation in Deutschland hat solch ein System überall eingerichtet. Seit elf Jahren gibt es in unserem Bistum eine Missbrauchskommission, in der Fachleute jeder einzelnen Beschuldigung gemäß einer detaillierten veröffentlichten Ordnung nachgehen. Den Betroffenen werden nicht nur Therapiekosten erstattet, sondern sie erhalten auch Geldleistungen zur Anerkennung des erlittenen Leids gemäß einer ebenfalls veröffentlichten Ordnung, auch wenn der Beschuldigte verstorben ist. Keine andere Organisation in Deutschland hat solche Verfahren etabliert; auch im Bereich der Prävention, der Verhinderung von sexualisierter Gewalt hat die katholische Kirche große Fortschritte erzielt, auch wenn wir noch nicht alles erreicht haben. Dieses Anliegen muss allen in unserer Kirche wichtig sein, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, auch denen, die sich ehrenamtlich engagieren. Schutzkonzepte, Präventionsschulungen und Führungszeugnisse sind unerlässliche Bausteine. Zudem wird auch in unserem Bistum eine unabhängige Kommission mit Beteiligung von Betroffenen im Oktober damit beginnen, das Geschehene aufzuarbeiten, soweit es möglich ist. Wir sind nicht tatenlos. Manches dauert zu lange, aber wir können nicht auf Erfahrungen anderer zurückgreifen.

Zweifelsohne haben katholische Amtsträger schwere Schuld auf sich geladen. Unsere Kirche ist dadurch eine sündige Kirche geworden. Das nicht wahrzunehmen, ist die tiefste systemische Ursache des Missbrauchsgeschehens in unserer Kirche. Von Paulus haben wir dazu in der Lesung gehört: Den Schatz des Evangeliums „tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen“ (2 Kor 4,7) Zerbrechliche Gefäße können zerbrechen und sie sind zerbrochen. Paulus schreibt aber weiter: „Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen; so wird deutlich, dass das Übermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt.“ (2 Kor 4,7) Die Kraft, die Kirche Jesu Christi zu sein, kommt von Gott und nicht von uns. Die Kraft zum christlichen Glaubens- und Lebenszeugnis kommt von Gott und nicht von uns. Die Kraft, die Welt im Sinne Gottes zu gestalten, kommt von Gott und nicht von uns. Zu dieser geistlichen Kraftquelle müssen wir uns ständig auf den Weg machen, denn je weiter wir uns von der Quelle entfernen, desto trüber wird das Wasser.

Was heißt das konkret? Die Kraft, die von Gott kommt, erschließt sich uns im Gottesdienst und im Gebet, ganz besonders bei der Feier der Sakramente. Dass die Infektionsschutzmahnen gegen das Corona-Virus die gemeinsame Feier von Gottesdiensten so erschweren, ist eine Last, die wir seit anderthalben Jahr tragen müssen. Das Grundgesetz gibt uns das Recht zur ungestörten Religionsausübung. Mit diesem Recht gehen wir sorgsam um und verhindern, dass wir das Virus verbreiten, während wir um ein Ende der Pandemie beten. Zugleich begreifen wir das vom Grundgesetz vorgegebene Recht als einen Auftrag der Gesellschaft, die Nöte und Sorgen der Menschen im gemeinsamen Gebet vor Gott zu tragen. Ich danke allen sehr, die das Schutzkonzept für die Gottesdienste in unserem Bistum umsetzen, besonders allen, die die Ordnungsdienste übernehmen. Bis zur Liturgiereform im Jahr 1972 war die unterste Stufe der sogenannten niederen Weihen auf dem Weg zur Priesterweihe das Amt des Türhüters. Der Bischof betete bei ihrer Weihe: „Allmächtiger Vater, ewiger Gott, segne und heilige diese deine Diener zum Amt des Ostiariers, damit sie unter den Türhütern deiner Kirche als treu erfunden werden und unter deinen Erwählten Anteil erhalten am ewigen Lohn.“

Neben den gemeinsamen Gottesdiensten in der Kirche sind auch das Gebet in der Familie und das persönliche Beten unersetzliche geistliche Kraftquellen. Ich freue mich, dass viele Gläubige in der Pandemiezeit neue Formen des Betens entdeckt haben, sei es im Fernsehen, im Radio oder im Internet, sei es durch Anregungen zum Beten, die sie aufgreifen, oder sei es durch die altbewährten Gebetsformen wie dem Rosenkranz, dem Angelusgebet, Kreuzwegandachten und anderen Andachten im Gotteslob. Und ich danke allen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die auch in Zeiten des Lockdowns den Kontakt zu den Gläubigen gepflegt haben und ihnen Inspirationen für ihr Gebet geben.

Die göttliche Kraftquelle erschließt sich aber nicht nur im Gebet. Wir haben im Evangelium den Satz Jesu gehört: „Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.“ (Mk 9,37) Eltern, Erzieherinnen und Erzieher in den Kindergärten und Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen vollbringen Großartiges in der Betreuung und Bildung der Kinder und Jugendlichen. Für uns Christen ist das auch ein Engagement für Jesus Christus, von dem – wie Paulus sagt – „das Übermaß der Kraft“ (2 Kor 4,7) kommt.

Ich möchte Ihnen auch die Menschen ans Herz legen, die in der Zeit der Pandemie einen geliebten Menschen verloren haben. Oft konnten sie den geliebten Menschen auf seinem letzten Abschnitt in diesem Leben nicht begleiten, weil das im Krankenhaus oder im Pflegeheim nicht möglich war. Der Gedanke an die Einsamkeit des geliebten, sterbenden Menschen ist kaum zu ertragen. Die Bestattung konnte nur in ganz kleinem Rahmen stattfinden, sodass auch das Mitgefühl lieber Menschen nicht tröstend erlebbar war. Wir dürfen diesen Schmerz nicht übersehen. Als gläubige Christen erfahren wir Trost nicht nur aus dem Mitgefühl und der Sympathie von Menschen, die unsere Trauer mittragen, sondern wir erfahren auch den Trost aus unserem Glauben. Paulus hat es im zweiten Korintherbrief so geschrieben: „Wie uns nämlich die Leiden Christi überreich zuteilgeworden sind, so wird uns durch Christus auch überreicher Trost zuteil.“ (2 Korinther 1,5) Die Gnadenbilder an unseren Wallfahrtsorten führen uns den Trost unseres Glaubens vor Augen: Sie zeigen uns Christus, der den Tod erlitten hat, so wie unsere lieben Verstorbenen; und sie zeigen uns auch Maria, die den Schmerz der Trauer aus eigener Erfahrung kennt und uns Fürsprecherin und Trösterin ist.

Die göttliche Kraftquelle können wir auch in der Schöpfung erleben. Das Leitwort der kirchlichen Präsenz auf der Bundesgartenschau lautet: „ins Herz gesät“. Evangelische und katholische Christen laden im Kirchenpavillon die Menschen ein, diese Kraft von Gott zu erspüren und sie geben selbst Zeugnis von der Hoffnung, dass Gottes Lebenskraft stärker ist als alles Vernichtende. Die Blumen und Kräuter in all ihrer Farbenpracht, Vielfalt und Lebendigkeit sind ein schönes Sinnbild für das Übermaß der Kraft, das von Gott kommt. Wir wissen mittlerweile, dass wir umkehren müssen, weil wir viel zu lange gegen die Schöpfung gelebt haben und nicht mit ihr. Jeder Mensch kann und muss dazu beitragen, den Auftrag des Schöpfers zu erfüllen, der ganz am Anfang der Bibel steht: „Gott der Herr nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz im Garten von Eden, damit er ihn bearbeite und hüte.“ (Gen 2,15) Man muss ergänzen: und nicht ausbeute und zerstöre. In unserem Bistum unterstützen wir mit dem Projekt „öko + fair vor Ort“ Kirchengemeinden, die achtsamer mit der Schöpfung umgehen wollen. Sowohl für die Schöpfung als auch für unsere Kirche beten wir mit Psalm 80: „Gott der Heerscharen, wende dich uns wieder zu! Blick vom Himmel herab und sieh auf uns! Sorge (…) für den Garten, den deine Rechte gepflanzt hat.“ (Ps 80,15)