Jesu Lebenshingabe als einmaliges Opfer

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr beim Semestereröffnungsgottesdienst am 09. April 2018 (Fest Verkündigung des Herrn**)

Marienkirche, Peuerbach. Bild: Martin Manigatterer; in: Pfarrbriefservice.de

Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,

es freut mich, dass ich zum Fest der Verkündigung des Herrn in diesem Jahr einen Gottesdienst mit theologisch interessierten und versierten Mitchristen feiern kann. So kann ich den Inhalt dieses Festes als bekannt voraussetzen. Alle sechs Stunden vergewissern wir uns ja beim Gebet des Angelus, dass mit der Botschaft des Engels an Maria die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus beginnt. Welche tiefgreifenden theologischen Implikationen dies hat, erschließt die 2. Lesung des Festtags, die dem Hebräerbrief entnommen ist. Der Hebräerbrief vergleicht im 9. und 10. Kapitel die Lebenshingabe Jesu Christi am Kreuz mit den Opfern des Bundesvolkes Israel. In dem Abschnitt, den wir als Lesung gehört haben, bezweifelt der Verfasser des Hebräerbriefes, dass die alljährlich nach strengen liturgischen Regeln dargebrachten Schlachtopfer von Stieren und Böcken die Versöhnung der Opfernden mit Gott bewirken können. Er zitiert dann Psalm 40 mit der Erkenntnis, dass an solchen Schlacht- und Speiseopfern Gott kein wirkliches Gefallen hat. Es braucht vielmehr einen, der – wie es in Psalm 40 heißt – sagt: „Ja ich komme […] um deinen Willen, Gott, zu tun.“ (Ps 40,8). Derjenige, der gekommen ist, den Willen Gottes ganz zu erfüllen und damit die Versöhnung mit Gott zu bewirken ist Jesus Christus.

Allerdings geht der Verfasser des Hebräerbriefes in seiner Kritik am Opferkult nicht so weit wie der Verfasser des Psalms 40. Dort wird die Bedeutung von Schlacht- und Speiseopfern einfach zur Seite gewischt: „An Schlacht- und Speiseopfern hast du kein Gefallen, Brand- und Sündopfer forderst du nicht.“ (Ps 40,7). Dem gegenüber steht die Hellhörigkeit für die Weisung Gottes und die Bereitschaft seinen Willen zu tun: „Deinen Willen zu tun, mein Gott, macht mir Freude, deine Weisung trage ich im Herzen.“ (Ps 40,9). Der Beter bedankt sich bei Gott, dass ihm dafür das Gehör eingepflanzt wurde (Ps 40,7). Hier macht der Verfasser des Hebräerbriefes eine kleine, aber entscheidende Änderung. Er gibt den Psalm 40 nicht korrekt wieder. Dort heißt es: „Doch das Gehör hast du mir eingepflanzt, darum sage ich: Ja ich komme“ (Ps 40,7f). Im Hebräerbrief heißt es: „Doch einen Leib hast du mir geschaffen.“ (Hebr 10,5). Während in Psalm 40 die Bereitschaft, sich Gott hinzugeben, auf sein Wort zu hören und seinem Willen zu folgen, eine rein geistige ist, führt der Hebräerbrief an dieser Stelle eine leibhaftige Dimension der Hingabe an den Willen Gottes ein. Waren die Opfer der Vorzeit leibhaftig, körperlich, materiell mit einer geistigen Dimension, so ist die Hingabe Jesu an den Willen Gottes geistig mit einer leiblichen Dimension. Aus den vorigen Kapiteln und theologischen Erwägungen des Hebräerbriefes wird deutlich, dass damit auf den Kreuzestod Jesu Christi verwiesen wird. So heißt es auch im letzten Satz der heutigen Perikope: „Aufgrund dieses Willens, sind wir durch die Opfergabe des Leibes Jesu Christi (am Kreuz) ein für alle Mal geheiligt.“ (Hebr 10,10). Die Lebenshingabe Jesu am Kreuz hat die Versöhnung mit Gott bewirkt. Es ist ein einmaliges Opfer, in des Wortes doppelter Bedeutung: Es wurde nur ein einziges Mal dargebracht und ist von überragender Bedeutung. Das Leben Jesu ist im Wesentlichen eine geistige, geistliche, existentielle Überlassung an den Willen Gottes, die im Kreuzestod kulminiert. Aber sie hat auch eine leibhaftige, körperliche Dimension, durch die Jesus nicht nur in den Strom der Geschichte eingestiegen ist, sondern in alles, was das Leben in einem menschlichen Körper ausmacht. So kann der Verfasser des Hebräerbriefes seinen judenchristlichen Lesern sagen, dass die rituell dargebrachten Opfer nicht einfach nur aufgehoben sind, sondern dass das, was sie bewirken sollten, durch das Leben und Sterben Jesu Christi verwirklicht wurde: Die Versöhnung mit Gott. Die leibhaftige Dimension der Hingabe an den Willen Gottes, die in der Vorzeit oft so im Vordergrund stand, dass sie die innere Haltung verdrängte, ist auch im Opfertod Jesu Christi und in seinem ganzen Leben eine wichtige Dimension, auch wenn die Hingabe an den Willen Gottes und das Leben aus der Gemeinschaft mit ihm deutlich im Vordergrund stehen. Die synoptischen Evangelien verwenden den Begriff „Willen“ (thelema) bis auf eine einzige Ausnahme (Lk 12,47) nur für den Willen Gottes.

Dieser kleine theologische Ausflug beleuchtet die Bedeutung des heutigen Festtages aus einer sehr speziellen Perspektive. Heute feiern wir den Anfang der irdischen leibhaftigen Existenz Jesu Christi.

Die orthodoxe Kirche, in der das Fest der Verkündigung von keinem anderen verdrängt wird, betet in der Vesper: „Das Zelt unserer Existenz wird durch die Vergöttlichung der angenommenen Körperlichkeit zum Tempel Gottes. Oh Mysterium! Unbegreiflich ist die Art der Herablassung, unaussprechlich der Reichtum der Gnade. Ein Engel dient dem Wunder: Der Schoß der Jungfrau empfängt den Sohn. Der Heilige Geist überschattet sie. Der Vater in den Himmelshöhen hat daran seinen Wohlgefallen. Und gemeinsamem Ratschluss gemäß vollzieht sich die Vereinigung. In ihr und durch sie gerettet rufen wir zusammen mit Gabriel der Jungfrau zu: „Gegrüßet seist du Beglückte, denn von dir kommt das Heil, Christus unser Gott. Da er unsere Natur annahm, hat er sie zur seinigen emporgehoben. Bitte ihn unsere Seelen zu retten.“ (Apostichon des Andreas von Jerusalem aus der Vesper von Verkündigung)


** Da in diesem Jahr der Palmsonntag auf den 25. März, das eigentliche Datum des Hochfestes Mariä Verkündigung, fiel, musste dieses auf den 9. April als nächstmöglichen Termin weichen. Das Osterfest mit der Karwoche und der Osteroktav ist das höchste christliche Fest; in dieser Zeit kann kein anderes Fest begangen werden.