Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
heute möchte ich Ihr Augenmerk auf ein großartiges Stück Kirchenmusik richten, das wir gerade gehört haben. Nur an wenigen kirchlichen Hochfesten ist eine sogenannte Sequenz vorgesehen – ein Gesang nach den Lesungen und vor dem Hallelujaruf. Seit der Liturgiereform des 2. Vatikanischen Konzils ist nur noch am Pfingstfest die Sequenz „veni sancte spiritus“ verbindlich vorgesehen. An Fronleichnam und am Fest der sieben Schmerzen Mariens ist es freigestellt, ob die zum Festtag gehörende Sequenz gesungen wird oder nicht. Die Ostersequenz „victimae paschali laudes“ hat eine großartige, mitunter fanfarenmäßige Melodie, die lange im Ohr nachklingt. Der Text beschreibt das Osterereignis und seine Dramatik. Die Ostersequenz ist fast 1000 Jahre alt. Sie ist unter dem Namen des Dichters und Geschichtsschreibers Wipo von Burgund überliefert, der nach 1046 verstorben ist.
Der Text beginnt mit einem Loblied des Osterlammes, das die Sünder mit Gott versöhnt hat. Die Bezeichnung Jesu Christi als Lamm Gottes geht auf Johannes den Täufer zurück, der zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu seine Jünger auf Jesus hingewiesen hat: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29). Die Johannesjünger sahen damals einen vermutlich 30 jährigen theologisch sicher gut gebildeten Zimmermannssohn aus Nazareth. Das Bildwort vom „Lamm Gottes“ musste ihnen unverständlich bleiben. Es erschließt sich erst am Karfreitag, als Christus, der ohne Sünde war, als Verbrecher unter Verbrechern hingerichtet wurde, um uns Menschen von unseren Sünden und Verbrechen zu erlösen. Das Gemälde von Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar führt das vor Augen. Johannes der Täufer steht neben dem Kreuz und zeigt auf den Gekreuzigten. Unter dem Kreuz sieht man das Lamm Gottes, dessen Blut in den Kelch fließt. Dies greift die Liturgie der Kirche auf, indem der Priester unmittelbar vor dem Empfang der Kommunion der Gemeinde die Hostie zeigt und sie darauf hinweist, das darin Christus als Lamm Gottes gegenwärtig ist, der die Sünde der Welt hinwegnimmt. Die Ostersequenz „victimae paschali laudes“ beschreibt also gleich zu Beginn die ganze Tiefe dessen, was wir im österlichen Geheimnis feiern.
Die zweite Strophe macht sowohl vom Text als auch von der Melodie her in fast unüberbietbarer Weise deutlich, dass das Erlösungsgeschehen kein selbstverständlicher Vorgang war, der so ablaufen musste, wie er abgelaufen ist. Die Ostersequenz scheut sich nicht, von einem Duell zwischen Leben und Tod zu sprechen: „mors et vita duello, conflixere mirando“ (Tod und Leben, die kämpften einen unbegreiflichen Zweikampf). Als Jesus Christus am Kreuz starb, hätte die Welt ins Nichts fallen können, vielleicht sogar müssen. Dass der Schöpfer der Welt sein Schöpfungsgeschehen nicht abgebrochen hat, haben wir wohl der Fürsprache Jesu Christi zu verdanken. Nach dem Glaubensbekenntnis der Kirche ist Jesus Christus „hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Die Osterikone der orthodoxen Kirche zeigt, wie Christus aus dem Totenreich heraufsteigt, mit Adam und Eva an der Hand. Der Zweikampf - das Duell - ist gewonnen, der Tod in seiner letzten Radikalität besiegt. Dies wird in der Ostersequenz mit großer Radikalität und Emphase sowohl im Text als auch in der Melodie zum Ausdruck gebracht, als wolle es alle stärken, die dem Tod ins Angesicht schauen müssen, weil sie unheilbar krank nur noch wenige Tage zu leben haben oder weil sie im Hospiz oder in der Familie Menschen auf diesem Weg begleiten.
Nach dem theologischen und emotionalen Auftakt wird die Ostersequenz biblisch. Sie lässt Maria Magdalena erzählen, wie sie das Grab Jesu Christi offen vorfand und darin einen jungen Mann mit einem weißen Gewand, der ihnen sagte, dass Jesus Christus nach Galiläa vorausgeht und dass ihn dort seine Jünger wiedersehen werden. Es ist erstaunlich, dass die Ostersequenz, die mit so viel Kunstfertigkeit das Ostergeheimnis beschreibt, ausgerechnet hier das Markusevangelium zitiert. Wir sind zurzeit im Lesejahr B, in dem die Sonntagsevangelien in der Regel dem Markusevangelium entnommen sind. Das Besondere des Markusevangeliums liegt nicht nur darin, dass der Evangelist Markus nichts von der Kindheit und Jugend Jesu berichtet; der Evangelist Markus berichtet auch nichts von der Begegnung des auferstanden Herrn mit seinen Jüngern. Er schließt mit dem Auftrag des jungen Mannes im Grab, nach Galiläa zu gehen, um dort Jesus zu begegnen. Es gibt zwar einen sogenannten apokryphen Abschluss des Markusevangeliums, der allerdings erst eine im zweiten Jahrhundert entstandene Zusammenfassung der Auferstehungsberichte der anderen Evangelien ist und der in der Leseordnung der Kirche auch nur einmal im Gottesdienst vorgelesen wird, nämlich am Samstag der Osteroktav. Die Ostersequenz, die so großartig das Ostergeheimnis besingt, zitiert dieses Markusevangelium. Ein Grund dafür wird wohl sein, dass der Glaube an die Auferstehung Jesu Christi sowie an die Auferstehung der Toten und das Ewige Leben immer angezweifelt und angefochten sein wird. Umfragen zeigen, dass auch viele Katholiken nicht an die Auferstehung der Toten und das Ewige Leben glauben. Der Evangelist Markus schließt mit den Fakten. Nüchterne Historiker gehen davon aus, dass man aller Wahrscheinlichkeit nach ein leeres Grab fand und verehrte.
Der Glaube an die Auferstehung Jesu Christi, an die Auferstehung der Toten und das Ewige Leben fußt nicht auf Beweisen, die sich durch Zeigerausschläge an Messgeräten belegen lassen, sondern er fußt auf dem Bekenntnis der Auferstehungszeugen: Der Herr ist wirklich auferstanden. Damit schließt auch die Ostersequenz, in dem sie auf das Glaubenszeugnis der Maria Magdalena verweist. Allerdings wurde diese Strophe schon durch das Konzil von Trient im Jahre 1570 aus der Sequenz gestrichen, wegen einer antijüdischen Polemik, die man offensichtlich schon im 16. Jahrhundert nicht mehr akzeptieren konnte. Auch wenn die Streichung dieser Passage sowohl den Text als auch die Melodie der Ostersequenz erheblich stört, hatte man schon vor 500 Jahren nicht gescheut, sie vorzunehmen. Geblieben ist ein wunderbares Stück Kirchenmusik, das den Osterglauben nicht nur musikalisch hervorragend zum Ausdruck bringt, sondern ihn auch inhaltlich tief deutet, um Christen fast 1000 Jahre lang in ihrem Osterglauben zu stärken.

