Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
das heutige Sonntagsevangelium scheint auf den ersten Blick nicht zum Festanlass zu passen. Sie feiern Ihre Heimat und freuen sich, dass hier in Dingelstädt schon so lange Menschen miteinander leben und wohnen. Vielleicht gab es hier auch schon vor über 1200 Jahren eine alte germanische Gerichtsstätte, eine sogenannte Thing-Stätte, die dem Ort Dingelstädt den Namen gegeben hat. So freuen Sie sich in diesem Jahr Ihres Heimatortes, dem 1859 das Stadtrecht verliehen wurde.
Im Evangelium haben wir gehört, dass Jesus sich gerade nicht auf seine Heimat konzentrieren durfte. Jesus war Jude, er wusste sich seinem Volk verbunden und wollte die verlorenen Schafe des Hauses Israel wieder zurückführen. Für eine kanaanäische Frau war da kein Platz. Sie stammte aus dem Gebiet von Tyros und Sidon, in dem die Menschen verschiedene Religionen hatten, die den Juden allesamt befremdlich waren. Deswegen gingen sie dort lieber nicht hin. Aber ausgerechnet diese Frau erbittet und erbettelt von Jesus ein Heilungswunder an ihrer Tochter.
Am heutigen Festtag ist dieses Evangelium eine Mahnung, auch in der Freude über eine gute Geschichte der Stadt die Menschen in Not nicht zu übersehen. Vor zwei Jahren kamen geflüchtete Menschen auch nach Dingelstädt und wurden hier aufgenommen. Diejenigen, die aus den Kriegsgebieten in Syrien und Afghanistan hierher kamen, konnten auf die Dankbarkeit der Dingelstädter hoffen, dass ihre Stadt im April 1945 bis auf einige Gebäudeschäden und zwei erschossene Zivilisten von dem Gräuel des Krieges verschont blieben. Die Geschichte von der kanaanäischen Frau ist aber auch eine Mahnung, Not und Hilfsbedürftigkeit in der eigenen Stadt zu sehen und nach Kräften zu mindern. Eine lebenswerte Stadt ist eine solidarische Stadt, in der die Menschen füreinander einstehen, wie bei dem Hausbrand im vergangenen Jahr.
Solidarität heißt aber nicht nur Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen in Not, sondern heißt auch Rücksichtnahme aufeinander. Wer am Feiertag morgens um 8 Uhr den Benzinrasenmäher anwirft, praktiziert keine Solidarität.
Neben der Solidarität kennt die katholische Soziallehre die Grundforderung nach Subsidiarität. Für eine Stadt heißt dies, dass jeder möglichst viel Freiraum für die eigene Lebensgestaltung bekommt, dass Hilfe möglichst ein Beitrag zu Selbsthilfe ist und dass Vielfalt nicht als störend sondern als bereichernd empfunden wird. Allerdings setzt die Subsidiarität natürlich auch das Prinzip der Solidarität voraus, wie das Beispiel vom morgendlichen Grasmähen zeigt.
Schließlich kennt die katholische Soziallehre noch ein viertes, genauso wichtiges Prinzip, nämlich dass der Personalität. Im Mittelpunkt steht der einzelne Mensch, dessen Entfaltung gefördert und unterstützt werden soll. Er soll nicht von einer Ideologie verformt werden zum genossen oder zum Volksgenossen, sondern sich entsprechend seiner Individualität entfalten können. Auch die Dingelstädterinnen und Dingelstädter sind sehr verschiedene Menschen, aber sie leben zusammen in der Solidargemeinschaft der Stadt Dingelstädt, die sie in diesem Jubiläumsjahr besonders feiern. Ich wünsche Ihnen, dass diese Feier die Solidarität der Menschen in der Stadt stärkt.