Ein Zeichen der Verbundenheit

Ansprache von Bischof Neymeyr zur „Zeremonie des Schreibens des ersten Buchstabens“ am 23.10.2019

Bild: Stadtverwaltung Erfurt In: Pfarrbriefservice.de

Der heutige Anlass ist ein schönes Zeichen der Verbundenheit mit den Juden in unserer Stadt und in unserem Land. Wenn man sich über die Juden in Erfurt informieren möchte, stößt man sofort auf die große Geschichte jüdischen Lebens in Erfurt und in Thüringen. Die Internetseite jüdisches-leben-erfurt.de weist hin auf die bedeutenden Stätten jüdischen Lebens: die alte Synagoge, die kleine Synagoge, die neue Synagoge, die Mikwe, den jüdischen Friedhof, und lädt zu vielen Veranstaltungen ein, die sich häufig mit der Geschichte der Juden in Erfurt und in Thüringen befassen. DenkNadeln erinnern an die in der Zeit der NS-Diktatur deportierten Erfurter Juden. Die Gedenkfeiern zum Novemberpogrom und zur Schoah sind fest in der Gesellschaft verwurzelt.Aber nicht nur die Geschichte ist im Blick, sondern auch die Gegenwart. Das Kultur- und Bildungszentrum der jüdischen Landesgemeinde mitten in der Stadt lädt zu vielen interessanten Veranstaltungen ein. Die erste Kerze am großen Chanukka-Leuchter vor dem Rathaus wird öffentlich entzündet. Die jüdische Landesgemeinde feiert ihr Chanukkafest im Kaisersaal, der guten Stube der Stadt. Das Achava-Festival bringt die vielfältige heutige jüdische Kultur in die Öffentlichkeit. Auf vielfältige Weise werden die Juden, ihre Feste und ihre Kultur in Erfurt und in Thüringen geschätzt.Dazu wollen auch die evangelische und katholische Kirche eine Beitrag leisten mit der Tora, die in den kommenden zwei Jahren geschrieben werden wird. 2021 können wir auf neun Jahrhunderte jüdischen Lebens zurückschauen. Viele Veranstaltungen in diesem Jahr und in der Vorbereitung darauf sollen die Freude über jüdisches Leben hervorheben – und immer werden wir dabei erleben können, wie die Torarolle weitergeschrieben wird.Es ist uns Christen auch wichtig, das gute geschwisterliche Miteinander mit den Juden in Erfurt und in Thüringen lebendig zu gestalten. Papst Johannes Paul II. hat die Juden als „ältere Brüder“ angesprochen. Wir sind uns aber auch unserer Schuld am jüdischen Volk bewusst und kennen die christlichen Wurzeln des Antisemitismus und des Judenhasses. Die geistigen Brandstifter des furchtbaren Pogroms von 1349 haben auch im Erfurter Dom ihre Spuren hinterlassen, die wir nicht einfach ausradieren können und wollen. Am 10. November 1938 sind die christlichen Erfurter wie jedes Jahr zur Martinsfeier auf den Domplatz geströmt, vorbei an den rauchenden Trümmern der Synagoge und über die Glasscherben zerstörter jüdischer Geschäfte. Gerade die Torarolle wurde aber auch zu einem Zeichen der Verbundenheit zwischen Christen und Juden. Der damalige Dompropst Joseph Freusberg versteckte die Torarolle der Synagoge im Kohlenkeller der Severi-Kirche auf dem Domberg, wo sie Barbarei der Nazi-Diktatur überstand. Heute geben wir nicht eine verrußte Torarolle zurück, sondern heute beginnt der Prozess des Schreibens einer neuen Torarolle, mit der wir die menschliche und geistliche Verbundenheit mit unseren älteren Geschwistern zum Ausdruck bringen und pflegen wollen. In einem Antwortschreiben auf eine Erklärung der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum haben die großen Rabbinerkonferenzen im Jahr 2017 geschrieben:„Trotz grundlegender theologischer Differenzen teilen Katholiken und Juden den gemeinsamen Glauben an den göttlichen Ursprung der Tora und an den Gedanken einer endgültigen Erlösung und heute auch die Überzeugung, dass Religionen durch moralisches Verhalten und religiöse Erziehung – nicht aber durch Krieg, Zwang oder gesellschaftlichen Druck – ihren inspirierenden Einfluss ausüben sollen.“ In diesem Geiste freuen wir uns über die guten und vertrauensvollen Beziehungen zur jüdischen Landesgemeinde, die ich schon an meinem ersten Tag als neuer Bischof von Erfurt erfahren habe: In der ersten Reihe saß der Vorsitzende der jüdischen Landesgemeinde, Herr Professor Schramm. Er hatte sich auch kundig gemacht, womit er mir eine Freude machen könnte, und er schenkte mir eine Flasche von Israels bestem Wein. Möge die Gemeinsamkeit der Tora die geistliche und menschliche Verbundenheit stärken!

Zur Pressemitteilung "Zeremonie des Schreibens des ersten Buchstabens" vom 14.10.2019