Der frühere Aachener Bischof Klaus Hemmerle hat 1977 ein sehr schönes Büchlein geschrieben mit dem Titel „Der Himmel ist zwischen uns“. Darin hat er eine sehr schöne Betrachtung geschrieben unter der Überschrift „Zwischen uns geschieht die Welt“. Diese Betrachtung ist eine wunderbare Einführung in das Thema der diesjährigen Frauenwallfahrt „Dazwischen ist Raum“.
Bischof Hemmerle schreibt: „Zwei Bekannte sind anders als sonst. Sie sind schweigsamer, sie sind kühler zueinander, zurückhaltender – und das wirkt sich auch darauf aus, wie sie mir begegnen. Ich frage sie: Was ist zwischen euch?
Zwei Bekannte sind anders als sonst. Ein heimlicher Blick der Verständigung zwischen ihnen, ehe der eine zu mir, dem dritten, etwas sagt. Einfühlung, Zusammenspiel, Freude zwischen ihnen. Ja, zwischen ihnen. Dort ist Neues gewachsen, Beziehung, Freundschaft.
Aber ist das etwas Besonderes? Ist nicht eigentlich immer etwas zwischen uns, zwischen dir und mir, zwischen denen, die an derselben Arbeitsstelle sind, die im selben Hause wohnen, die in dieselbe Kirche gehen, die in derselben Straßenbahn sitzen? Dieses heimliche „Zwischen“ stimmt und bestimmt das Leben, stimmt und bestimmt die Welt.
Wir sind meist geneigt, die Welt bloß als eine Ansammlung von Dingen und Menschen zu betrachten. Aber ist das die Welt? Geht das Entscheidende nicht zwischen den Dingen und zwischen den Menschen vor? (…) Für mich heißt Welt doch zunächst einmal meine Welt. Will sagen: das Um-mich-herum, meine Umgebung. Ich als Mitte und um mich – wie um einen Stein, der ins Wasser fällt – Kreise, immer weitere konzentrische Kreise, die sich allmählich ins Sichtlose, Endlose verlieren. Und nun soll gelten: Wichtiger als meine Welt, mehr Welt als meine Welt ist das, was zwischen uns vorgeht, das, was zwischen dir und mir aufbricht? Ja, indem wir einander anschauen, indem wir aufeinander zugehen, indem wir miteinander sprechen, gewinnt alles erst seinen Ort, seine Farbe, sein Licht. (…)
Es wäre freilich ein wenig harmlos zu sagen: Seid immer freundlich zueinander, dann ist auch die Welt freundlich! Sicher prägen Menschen die Verhältnisse, aber auch die Verhältnisse prägen die Menschen. Und doch: Auch wo die Verhältnisse übermächtig erscheinen, etwa angesichts einer Naturkatastrophe, wird die Situation entscheidend davon mitbestimmt, wie die Menschen sich zueinander verhalten. Denkt jeder nur an sich, oder hat man auch den anderen mit seiner Not im Blick? Je nachdem, wie wir uns zueinander verhalten, sind wir verurteilt, an den Verhältnissen zu zerbrechen oder sie, wenigstens schrittweise, selber zu gestalten. Gerade auch die mutige Tat eines einzelnen ist Beispiel und Dienst, sie stiftet ein Verhältnis zu den anderen; wenn einer vorgeht, können wir mitgehen, zwischen uns wächst neuer Anfang, neuer Mut.“ (S. 11-13) So weit die Betrachtung von Bischof Hemmerle.
Die Welt zwischen den Menschen kann vielfältig vergiftet oder gar zerstört sein. Viele von Ihnen mussten die Vergiftung zwischenmenschlicher Beziehungen durch die SED-Diktatur erleiden. Heute müssen wir erleben, dass populistische Vereinfachungen und nationalistische Bestrebungen nicht nur zu einer Klima-Erkaltung in der Gesellschaft beitragen, sondern auch familiäre und private Beziehungen belasten. Der Zwischenraum menschlicher Beziehungen ist ein Raum, der den anderen zunächst und zuerst als einmaligen Mitmenschen sieht – für uns auch als Mitgeschöpf. Der Zwischenraum menschlicher Beziehung ist ein Raum der Differenzierungen, in dem kein Platz für Schubladen ist. Der Zwischenraum ist ein Raum, in dem Zeit ist, den anderen und seine Geschichte kennen zu lernen und nicht vorschnell zu urteilen. Die Wahrheit über die Menschen und über die gesellschaftlichen Zusammenhänge passt nicht in 140 Zeichen einer Twitterbotschaft oder eines Zeitungsartikels oder in die 3 Minuten eines Rundfunkbeitrags.
Um dies zu verdeutlichen, hat die Vorbereitungsgruppe als Evangeliumstext unseres Wallfahrtsgottesdienstes die Geschichte von der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin ausgesucht. Die beiden begegnen sich in einer emotional höchst aufgeladenen Situation. Ich kann hier nicht näher auf die Todesstrafe eingehen, muss aber doch wenigstens darauf hinweisen, dass Papst Johannes Paul II., Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus die Todesstrafe ablehnen. Aktuelle Berichte über Steinigungen in muslimischen Ländern zeigen, wie wichtig jeder Einsatz gegen die Todesstrafe ist.
In der emotional extrem aufgeladenen Situation der Begegnung Jesu mit der Frau, die noch dazu missbraucht werden sollte, um die Gesetzestreue Jesu in Frage zu stellen, heißt es zweimal: „Jesus (aber) bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.“ (Joh 8,6.8) Jesus nimmt sich die Zeit für den Raum der Zwischenmenschlichkeit. Es gibt eine eigene Zeitschrift für Sandspiel-Therapie. Darin (Heft 25, November 2008, S. 71-75) habe ich einen Beitrag von Rudolf Liedl gefunden unter der Überschrift „Die Rettung der Ehebrecherin“. Er schreibt: „Hier durchlebt Jesus einen Prozess, wie er ganz ähnlich in Sandspieltherapien abläuft: Der Klient verlässt die Ebene verbaler Kommunikation, begibt sich auf eine tiefere Ebene (…) und beginnt mit den Händen zu gestalten und zu begreifen, was in diesem Moment wichtig ist. Und es kann sein, dass er das dann auch in Worte fassen kann. Eine ganz ähnliche Erfahrung hat C.G. Jung beim Spielen mit Steinen am Ufer des Zürichsees gemacht: „Dabei klärten sich meine Gedanken und ich konnte die Phantasien erfassen, die ich ahnungsweise in mir fühlte.“ (Erinnerungen, Träume und Gedanken, 1962) In beiden Fällen hat die Weisheit der Hände zur Lösung beigetragen.“
Jesus hat sich die Zwischenzeit genommen, um den Menschen zu begegnen - und er ist allen Akteuren sehr heilsam begegnet: Er nannte die Tat eine Sünde, ohne die Frau zu verurteilen. In einer Männergesellschaft war der Mann gar nicht mitgeschleppt worden. Und Jesus ermöglichte eine Sternstunde des Pharisäismus, dass nämlich die Pharisäer die Steine liegen ließen, ohne die Sünde gut zu heißen.
An uns liegt es, uns solche Zwischenräume zu nehmen und sie anderen auch einzuräumen. Dazu kommt ein Zweites: Besonders in der Zeit der Pfingstnovene zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten beten wir besonders um die Gaben des Heiligen Geistes. Darunter ist auch die Gabe des Rates, die uns hilft, gute Ratschläge zu geben, und die uns öffnet, einen guten Ratschlag auch anzunehmen.
Zur Gabe des Rates hat Papst Franziskus in der Generalaudienz am 7. Mai 2014 eine Geschichte erzählt: „Ich erinnere mich, dass ich einmal im Heiligtum von Luján im Beichtstuhl war, vor dem eine lange Schlange stand. Darunter war auch ein ganz moderner Bursche, mit Ohrringen, Tätowierungen, all diesen Dingen… Und er war gekommen, um mir zu sagen, was ihm geschah. Es war ein großes, schwieriges Problem. Und er hat zu mir gesagt: Ich habe all das meiner Mutter erzählt, und meine Mutter hat zu mir gesagt: Geh’ zur Gottesmutter, und sie wird dir sagen, was du tun sollst. Das war eine Frau, die die Gabe des Rates besaß. Sie wusste nicht, wie sie das Problem ihres Sohnes lösen sollte, aber sie hat den richtigen Weg gewiesen: Geh’ zur Gottesmutter, und sie wird es dir sagen. Das ist die Gabe des Rates.“