"Wir haben Grund, für die Einheit unseres Vaterlandes dankbar zu sein"

Bischof Wanke predigte beim 11. Thüringer Landeserntedankfest in Arnstadt

Ökumenischer Gottesdienst

am Samstag, 2. Oktober 2004 in der Bachkirche zu Arnstadt. Schrifttext: Deuteronomium 8,7-18


"Und - hast du nicht etwas vergessen?" Der kleine Michael hatte schon die Tüte aufgerissen und die heißgeliebten Gummibärchen im Mund, die ihm soeben geschenkt worden waren. Aber da kam es doch, was der Vater angemahnt hatte: das "Danke"! Vielleicht haben wir es noch selbst im Ohr, was früher und wohl auch heute Eltern ihren Kindern einprägen: das Danken nicht zu vergessen.


Wir tun es heute in großer Gemeinde - im Blick auf die Erntegaben, die scheinbar so selbstverständlich auf unseren Feldern, in unseren Gärten herangereift sind. Es soll in diesem Jahr eine gute Ernte geben, Regen und Sonne waren gut verteilt und wohl dosiert. Nicht nur die Bauern und die Winzer, wir alle haben Grund zur Zufriedenheit. "Und - hast du nicht etwas vergessen?"


Der Text aus dem Buch Deuteronomium ist der väterlichen Mahnung vergleichbar, die dem kleinen Michael einprägen soll: das Danken nicht vergessen! Dreimal hören wir im Bibeltext: "Nimm dich in acht!" "Missachte nicht den Geber der Gaben, über die du dich freust. Werde nicht eingebildet und sage nicht: Ich brauche nicht danken. Ich habe doch aus eigener Kraft geschaffen, was ich jetzt genießen kann!"


Natürlich: Ohne die Anstrengung und den Fleiß derer, die hier bei uns und in anderen Ländern die Grundlagen der Ernährung sichern, gäbe es keine Ernte. Heißt das aber, in der modernen Leistungsgesellschaft sei Danken nicht notwendig und ein Erntedankfest nur ein schöner, aber letztlich überflüssiger Brauch? Wer so denkt, macht sich selber arm. Dankbarkeit, mit Worten und durch Zeichen ausgedrückt, macht eine Gabe erst bedeutsam und - über ihren materiellen Wert hinaus - zu einer Bereicherung.


Ob Tiere danken können? Sie haben sicher ein Zusammengehörigkeitsgefühl, vielleicht so etwas wie einen Familiensinn - aber Danken scheint doch eine zutiefst menschliche Kategorie zu sein. Ja, man könnte sagen: Die Kultur des Dankens macht unser Zusammenleben erst möglich. Darum sind Eltern bei ihren Kindern ja so bemüht, ihnen das Danke-sagen einzuprägen. Dankbarkeit zu zeigen ist mehr als ein gesellschaftliches Schmiermittel. Wer dankt, stiftet Beziehung - und die muss bekanntlich von zwei Seiten aus gebaut und gepflegt werden. Danken-können ist eine der großen menschlichen Kulturleistungen. Ohne die vielfältigen Zeichen und Ausdrucksformen der Dankbarkeit wäre unser Leben ärmer, ja - es wäre unmenschlich im wahrsten Sinne des Wortes.


Ich erinnere mich noch lebhaft an den Tag der Einheit im Jahre 1990. In meinem persönlichen Tagebuch hatte ich damals notiert: "3. Oktober 1990. Feier der deutschen Einheit. Ab 0.00 Uhr gilt das Grundgesetz der Bundesrepublik. Ende der DDR. Um Mitternacht läutete die Gloriosa. Am Vormittag festliches Pontifikalamt im Dom mit guter Beteiligung der Gläubigen. Ein ökumenischer Gottesdienst um 18.00 Uhr in der Predigerkirche. Abends die Einladung zur Festsitzung des Stadtparlaments im Opernhaus. Freude und Dank über den Neuanfang dominieren. Gewaltige Schwierigkeiten bei der Umstellung in der Industrie und der Landwirtschaft. Es ist alles in Bewegung. Wichtig sind Gelassenheit und Zuversicht angesichts der allgemeinen Aufgeregtheit."


Soweit meine Notizen von damals. Heute sind wir klüger geworden. Manche Fehler der ersten Jahre würden heute vielleicht vermieden werden. Aber gilt nicht auch heute, was damals - zugegeben emotional leichter - möglich war: dass wir Grund haben zum Danken! Dass die Einheit unseres Vaterlandes nicht das Selbstverständliche ist, galt damals wie auch heute. Und dass wir - im Unterschied zu manchen anderen Völkern - in Freiheit leben und unser Gemeinwesen in Freiheit gestalten können, ist ein Geschenk, das auch dann wertvoll bleibt, wenn es uns herausfordert.


Ich möchte heute uns allen die Worte des biblischen Mose zurufen: "Nimm dich in acht!" Vergiss nicht, woher du gekommen bist und was der wahre Reichtum deines Lebens ist: nicht dass wir viele Dinge haben, sondern, dass wir einander haben. Vergesst nicht, dass wir in Frieden leben können, in Freiheit und ohne trennende Grenzen, in Freundschaft mit den Völkern Europas verbunden.


Ich gebe zu: Alle diese Gaben wie Einheit und Freiheit sind immer auch Aufgaben. Das hat wohl etwas mit der Pädagogik unseres Schöpfers zu tun: Er fördert uns durch Anstrengungen. Darum sind auch die gegenwärtigen Herausforderungen in Politik und Gesellschaft eine ernsthafte Prüfung für den Reifegrad unseres Volkes. Wir können nur etwas zum Guten verändern, wenn wir uns selbst ändern. Wir haben - wieder im Blick auf andere Völker, besonders im Osten Europas - gute Voraussetzungen für einen Aufbruch mitten im Wandel. Wir sind reich an Erfahrungen, an geistigen (und wohl auch materiellen) Ressourcen, es mangelt nicht an Gemeinsinn und zwischenmenschlicher Solidarität. Es fehlt uns bloß - etwas mehr Dankbarkeit! Zumindest sollte sie ausgeprägter sein, denn dann fällt es leichter, viele Dinge nicht so selbstverständlich zu nehmen, wie sie derzeit genommen werden.


Für uns gläubige Christen ist Gott der Geber aller guten Gaben. Manchmal erhalte ich am Geburtstag ein Geschenk, bei dem ich im Nachhinein überlege, von wem es wohl stammt. Ich lasse gegebenenfalls auch nachforschen, von wem ich etwas erhalten habe. Natürlich bereiten Geschenke Freude, besonders, wenn man sie unverhofft erhält. Aber noch mehr freut man sich, wenn man den Geber kennt. Es ist gut zu wissen, wem man etwas verdankt. So geht es mir, wenn ich Gott danke - wie jetzt in diesem Gottesdienst, zumal, wenn mir dabei Johann Sebastian Bach mit seiner Musik beim Danken hilft. Ich meine das Unglück der Atheisten besteht darin, dass sie nicht wissen, wem sie danken können. Gott gibt mehr als nur Erntegaben. In den irdischen Gaben schenkt er sich uns selbst mit der Fülle seines Lebens, seiner Liebe und Treue, die über den Tod in die Ewigkeit reicht. Das wusste auch der unübertroffene Meister Bach, als er diese Kantate schuf. Vielleicht ist das deshalb eine Musik, die auch heute Menschen anrührt und bewegt - und ihnen hilft, sich nicht nur Menschen sondern Gott verdankt zu wissen. Amen.



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