"Wiedervereinigte Seelsorge": Statement von Bischof Wanke

Pressekonferenz zur Vorstellung des Buches "Wiedervereinigte Seelsorge. Die Herausforderung der katholischen Kirche in Deutschland", St. Benno Verlag: Leipzig in Berlin am 29.03.2000

Statement von Bischof Dr. Joachim Wanke, Erfurt, Vorsitzender der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz

Zu den Ausführungen des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Karl Lehmann, möchte ich einige Ü;berlegungen aus östlicher Perspektive hinzufügen.

1. Die Wende des Jahres 1989 war nicht nur das Ende eines politischen und gesellschafltichen Systems, in dem die Christen benachteiligt waren, sie leitete auch einen intensiven Modernisierungsprozess ein. Die vergleichsweise traditionell geprägte Gesellschaft der DDR und die künstliche Verzögerung von Entwicklungen erzeugten einen Reformstau, der sich nach der Wende in einem rasanten Modernisierungsschub entlud. Einerseits musste der Anschluss an westliche Industriegesellschaften gefunden werden. Andererseits waren diese hochentwickelten Industriegesellschaften seit Mitte der 80er Jahre selbst in ein erhöhtes Entwicklungstempo geraten. Sie begannen sich zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft zu wandeln. Die Wiedervereinigung bedeutete also für die Menschen im Osten Deutschlands einen doppelt beschleunigten Wandel. Ich habe dies verschiedentlich "Nachmodernisierung" genannt. Der gesellschaftliche Wandel macht ja auch den veränderungsgewohnten Menschen im Westen schon sehr viel zu schaffen - um wieviel mehr den Menschen im Osten!


2. Dies hat verständlicherweise auch Auswirkungen auf das Leben der katholischen Kirche und der Gemeinden. Die neue Liberalität und die offene Gesellschaft fordern uns als Kirche heraus. Und die erste Herausforderung besteht m. E. darin, das Erbe unserer besonderen Glaubensgeschichte zu bewahren - nicht zu konservieren, sondern im Wandel zu bewähren. Dazu gehört sicherlich die Erfahrung, zu einer Minderheit zu gehören. Ein Katholik im Osten war und ist teilweise noch heute ein Zugezogener, ein Fremder, ein Nicht-dazu-Gehöriger. Eindrucksvoll schildert Professor Hans Joachim Meyer, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, in unserem Buch die Erfahrung der Zweitklassigkeit und Fremdheit von Katholiken in der DDR-Zeit. Vielleicht sind Christen ihrem jeweiligen sozialen Umfeld immer ein wenig fremd. Fremd und anstößig bleibt - nicht nur früher - auch in der Gegenwart, dass Menschen aus "ideellen" Gründen an Gewissensüberzeugungen festhalten und sogar bereit sind, dafür Nachteile in Kauf zu nehmen. Ob solche Erfahrungen etwas vorwegnehmen, was uns in Zukunft gemeinsam in Ost und West noch stärker bevorsteht?

Weiterhin ist hier die Erfahrung zu nennen, dass unser Christsein im Osten Deutschlands nicht von Mehrheitsüberzeugungen getragen war. Wir erleben derzeit mehr und mehr, dass wir als Christen immer weniger von gesellschaftlichen Vorgaben leben, die unsere Grundüberzeugungen und sittlichen Werturteile stützen. Aber uns ist nicht verheißen, dass wir nur in einer "christentümlichen Gesellschaft" unsere Christusnachfolge leben können. Die Heilige Schrift redet eine andere Sprache. Diese "Zumutung" des Evangeliums ist nicht nur eine Last, sondern auch eine Chance - im ersten Beitrag von Professor Andreas Wollbold ist sie zumindest eine Voraussetzung dafür, zwischen Kirche und Bürgergesellschaft zu unterscheiden und sich als Kirche aus der Differenz dennoch auf Gesellschaft beziehen zu können. Wenn die Bürgergesellschaft von der Pluralität lebt, dann ist diese Art von "Differenz", in der das Evangelium Menschen befestigt, eine Bereicherung auch für die Gesellschaft. Ich zitiere Wollbold: "Genau in einer solchen tieferliegenden Bindung aber liegt die Chance kirchlichen Religiosität, die in einem doch recht staatsnahen System (wie) in Deutschland bislang wohl noch zu wenig zur Entfaltung kam" (S. 65).

3. In unserer besonderen Kirchengeschichte waren Personen immer wichtiger als Strukturen und Organisationen. Vor sich hergetragene Amtsautorität wirkte bei uns noch merkwürdiger als anderswo. Was nicht personal "unterfüttert" war, blätterte schnell ab und erwies sich auch für das Leben der Kirche als unfruchtbar. Ich denke beispielsweise an die Caritas. Sie lebte mit ihren bescheidenen Möglichkeiten weithin vom bewundernswerten Einsatz von Frauen und Männern, die die Caritas aus Ü;berzeugung zu ihrem Beruf machten. Damit berühre ich eine besondere spirituelle Erfahrung, von der freilich nur sehr vorsichtig zu reden ist.

In unzähligen Glaubensbiographien gibt es die eigentümliche Erfahrung, dass im "Verbrauchtwerden" Erfüllung und Freude verborgen sind. Im Loslassen, im Verbrauchtwerden gewinne ich alles. Das ist ja die Verheißung des Evangeliums. Die Verhältnisse im Osten haben zu solch kreuzesförmiger Christusnachfolge strukturell mehr Gelegenheit gegeben als im Westen. Der einzelne Christ, etwa als Eichsfelder LPG-Arbeiter auf früher eigener Scholle, oder als begabter Jugendlicher, dem wegen seiner religiösen Bindung eine berufliche Karriere versagt blieb, brauchte nicht lange zu fragen, was "Loslassen-Müssen" konkret bedeutet. Er wusste es.

Der Osten hat schon eher Abschied nehmen müssen von der Meinung, der christliche Glaube müsse sich Kraft seiner Nützlichkeit ausweisen. Dass er zutiefst fruchtbringender Humus für eine humane Gesellschaft sein kann, ist unbestritten. Wichtig wird sein, dass Christen sich auf den "Acker" dieser Welt und Gesellschaft ausstreuen lassen, sich gleichsam "unterpflügen" lassen. Man geht dabei nicht unter. Das haben mir immer wieder Gläubige bestätigt, die allen Grund gehabt hätten, ordentlich frustriert zu sein. Hier sehe ich Zukunftweisendes, auch für die konkrete Gestalt von Christ- und Kirchesein unter Bedingungen einer freien, liberalen, marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft. Vermutlich sieht nur die Gestalt des "Untergepflügt-Werdens" anders aus als damals im Vorwende-Osten Deutschlands.

4. Durch diese (und manche anderen) Erfahrungen geprägt müssen sich die Christen im Osten nun auf die neue Situation einstellen. Wir verlieren unser Erbe, wenn wir es nur konservieren. Wir müssen es den Menschen anbieten und in die verschiedenen gesellschaftlichen Räume einbringen. Und der spannendste Punkt ist dabei die grassierende Angst vieler Menschen vor Vereinnahmung und Bevormundung. Auf eine missionarische Pastoral reagieren manche mit Abwehr, viele mit Indifferenz, einige mit wohlwollender Neugier. Eine weitverbreite Meinung ist diese: "Die Kirche soll es durchaus geben, aber ich selbst kann oder will dazu nichts beitragen." Im Osten ist dies sicherlich erklärbar durch die ideologische Bevormundung durch zwei Diktaturen, vor denen man sich schützte, indem man alles wirklich existenziell Wichtige verbarg und anonymisierte. Aber diese Erklärung reicht kaum dafür aus, dass das Bedürfnis nach Anonymität und die Angst vor Vereinnahmung nach der Wende eigentlich zugenommen hat und auch im Westen zunimmt. Offensichtlich scheint die Unübersichtlichkeit des Konsum- und Meinungsangebotes auf dem Markt und das wachsende Gefühl der Unsicherheit gegenüber den Wechselfällen im Berufsleben und in den zwischenmenschlichen Beziehungen eine vergleichbare Tendenz mit sich zu bringen: Den Rückzug auf die individuelle, nicht mehr sozial vermittelte Entscheidung, etwa nach dem Motto: "Mein Leben, meine Person, mein Verhalten - das geht niemanden etwas an. Das ist allein meine Sache!". Das ist für das Christentum, in dem sich gläubige Identität immer in Beziehung zum Nächsten, zur Gemeinschaft und zu Gott vollzieht, eine fundamentale Herausforderung.


5. Sämtliche Beiträge unseres Büchleins arbeiten sich an dieser Herausforderung ab.

a) Aus weltkirchlicher Perspektive entwirft der Sekretär der Kongregation für den Klerus, Erzbischof Czaba Terny?k aus Rom, Perspektiven der Evangelisierung. Neben vielen anderen Aspekten schlägt in seinen Ü;berlegungen immer wieder das Motiv der Einheit von Glauben und Leben, Aktion und Kontemplation durch. Der Erzbischof von Hamburg, Ludwig Averkamp, hat dies dann in seinem Statement als Prinzip pastoralen Handelns auf die Formel zugespitzt: Zeugnis statt Information. Damit ist eine Grundperspektive für missionarische Pastoral formuliert. In ihr spielt das Zeugnis des je eigenen Lebens eine unverzichtbare Rolle. Im missionarischen Handeln geht es ums Ganze, nicht nur um das Fürwahrhalten einiger Sätze. Trotz der Schwierigkeiten angesichts des Wunsches nach Anonymität kommen wir Christen in der Weitergabe der Botschaft nicht umhin, daran festzuhalten, dass es in ihr um die Freisetzung und Neugestaltung des ganzen Lebens geht. Ja vielleicht kann man deswegen sogar umgekehrt Verständnis dafür gewinnen, dass viele Menschen zunächst einmal Distanz zum Christentum wahren. Denn - und das wird durchaus richtig erkannt - in der christlichen Lebensentscheidung geht es um einen Einsatz, der keinen Lebensbereich unberührt lässt. Das hat missionarische Pastoral zu bedenken.

Darum setzt diese Glaubenszustimmung die Freiheit des Adressaten der Botschaft voraus, worauf Professor Albert Franz aus Dresden in seinem Statement ausdrücklich hinweist. Weil es in der missionarischen Praxis ums Ganze geht, deswegen eifert sie um die Freiheit des Anderen. Sie darf, ja sie kann nie bloße Ü;berredung, Vereinnahmung oder gar Bevormundung sein.

b) Professor Eberhard Tiefensee aus Erfurt liefert eine Analyse jenes Phänomens, um das sich so viele Religionssoziologen Gedanken machen, des Phänomens der Konfessionslosigkeit. Vor dem Hintergrund des radikalen Bruchs zwischen Christen und Nichtchristen im Bereich der neuen Bundesländer fordert er eine Pastoral der Risikobereitschaft, in deren Vollzug - ich zitiere einmal Tiefensee - "nötigenfalls Kirche samt Moral- und Denkprinzipien über Bord gehen (nicht diese über Bord werfen!) muss, um zu retten, was zu retten ist" (S.53). Also: eine Pastoral aus der Kraft einer Solidarisierung mit dem konkreten Menschen, nicht als "Belehrung von oben herab"!

c) Dass es in der missionarischen Pastoral immer um die Einheit von Leben und Glauben geht, wird besonders deutlich im zweiten Beitrag von Professor Wollbold. Er begreift Partnerschaft und Familie als Brückenerfahrungen. Familie und Partnerschaft sind Glaubenden wie Nichtglaubenden gleichermaßen wichtig. Die Familie ist in den neuen Bundesländern konkurrenzlose Nummer eins, wie Wollbold in der Auswertung diverser Untersuchungen nachweist. Und Familie ist für die Kirche der unverzichtbare natürliche Ort der Tradierung des Glaubens. Im Familienleben geht es so und so ums Ganze. Familie ist deswegen ein herausragender Ort, an dem eine missionarische Pastoral des Zeugnisses des ganzen Lebens wirksam werden kann: Hier wird der andere nicht bedrängt. Der Glaube kann hier mit keinem anderen Mittel verkündet werden als mit dem Mittel, das seinem Inhalt entspricht: der Liebe.

d) Schließlich versuche ich einige Perspektiven zu entwickeln, mit denen die Kirche im Osten und in ganz Deutschland den anstehenden Herausforderungen gerecht werden kann. Als besonders wichtig erscheint mir, dass wir den sogenannten Atheismus und den sich agnostisch gebenden Säkularismus als Gotteskrise begreifen, als Krise eines unreif bleibenden Glaubens und einer oberflächlich bleibenden kirchlichen Verkündigung, die Gott zu klein und zu harmlos macht. Die Begegnung mit Konfessionslosigkeit und atheistischer Weltdeutung ist immer auch eine Herausforderung zur Vertiefung des Glaubens der Christen, Gott größer zu denken.

Weiterhin scheint es mir wichtig, dass vor allem wir Christen im Osten neu lernen, religiös auskunftsfähig zu werden, und zwar in einer Sprache, die von den Menschen verstanden wird. Die von mir erzählte Anekdote des Pfarrers aus dem Bayerischen, der einer dorthin übergesiedelten Frau aus dem Osten im Brautgespräch zu verdolmetschen sucht, was ihr katholischer Verlobter alles zu glauben hat, mag für sich sprechen (vgl. S.112). Schließlich bin ich der Ü;berzeugung, dass unser missionarischer Aufbruch in dem Maße kraftvoll und andere ansteckend sein wird, in dem wir den Nächsten als "Anruf" Gottes vernehmen und der Dienst am Nächsten als "den wahren und angemessenen Gottesdienst" begreifen, von dem Paulus im Römerbrief spricht (vgl. Röm 12,1).

Abschließend sei nochmals herausgestellt, was mich veranlasst hat, die ganze Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz in das Vorhaben des Schmochtitzer Kolloquiums einzubinden: Der Osten ist eine seelsorgliche Herausforderung für die ganze katholische Kirche Deutschlands. Was hier gelingt oder auch misslingt, wird die Zukunft aller Ortskirchen mitbestimmen. Ich danke darum noch einmal sehr dem Vorsitzenden unserer Bischofskonferenz, Bischof Dr. Karl Lehmann, dass er sich diese Sorge um den Osten als eines gemeinsamen Anliegens aller Bistümer der Bundesrepublik Deutschland so ausdrücklich zu eigen gemacht hat, nicht zuletzt durch seine persönliche Präsenz bei dieser Pressekonferenz.

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