Dr. Peter Frey, Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios
Vortrag von Dr. Peter Frey, Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios Berlin...
Gehalten auf dem Neujahrsempfang des Bischöflichen Kommissarius für das Eichsfeld am 26. Januar 2007 im Heilbad Heiligenstadt:
[...] Vielen Dank für die Einladung, hierher ins Eichsfeld zu kommen und zu Ihnen heute zu sprechen, zu Beginn eines Jahres, das für mich als politischer Journalist aufregender begonnen hat, als wir uns das eigentlich vorgestellt hatten. Die Lage in der Koalition einigermaßen beruhigt, die Hürde der Gesundheitsreform mehr schlecht als recht genommen, aber mit guten Wirtschaftszahlen und sinkender Arbeitslosigkeit im Rücken und ohne die Herausforderung bedeutenderer Landtagswahlen - daraus sollte innenpolitisch eigentlich ein einigermaßen ruhiges Jahr werden. Doch weit gefehlt: die Krise der CSU in Bayern und die vielen Fragen um das Verhalten des heutigen Außenministers in der Affäre des deutsch-Türken Kurnaz können auch die Große Koalition erreichen und die Regierung von Angela Merkel destabilisieren.
Doch ich bin heute nicht hierher gekommen, um die aktuelle Politik zu kommentieren. Sie haben mich gebeten, über Werte in den Medien zu sprechen - und ich werde später ein paar Stichworte nennen, die auch in den Ereignissen der letzten Tage und Wochen eine Rolle spiele: Beschleunigung, Konkurrenz, der Wettlauf nach den News. Die Gesetze der heutigen Medienwelt wirken sich auch auf die Politik aus - und das spürt man auch bei der Bewältigung der aktuellen Situation.
Ich möchte heute ein bisschen grundsätzlicher herangehen und einen Beitrag zur aktuellen Wertedebatte liefern - und lassen Sie mich vorweg sagen: Ich glaube, das ist gar kein einfaches Feld, in der gegenseitige Verständigung einfach vorausgesetzt werden kann, nicht zwischen Ost und West und auch nicht im katholischen Milieu. Lassen Sie mich deshalb klarstellen, dass ich, Jahrgang 57, sozusagen als Post 68-er Katholik mit bundesdeutscher Sozialisation spreche. Ich bin in einer Kleinstadt am Rhein aufgewachsen, war in meiner Jugend in katholischen Jugendverbänden engagiert und habe dort auch erste politische Erfahrungen gemacht. Es war uns damals ein großes Anliegen, eine verkrustete Kirche zu öffnen, die Impulse des 2. Vatikanischen Konzils in diese Kirche hineinzutragen und dabei gleichzeitig eine öffentliche Wirkung zu erzielen, die in unsere kleine Kommune ausstrahlte, z.B. durch Unterstützung entwicklungs- oder kommunalpolitischer Projekte.
Zu meinen kirchlichen Erfahrungen gehört übrigens auch eine Begegnung mit der heutigen Diözese Erfurt. Als Zivildienstleistender hatte ich mehrfach die Gelegenheit dabei zu sein, wenn allerlei Arbeitsmaterial von West nach Ost geschickt wurde. Eine nächtliche Transportfahrt über die Grenze an der Werra entlang - die Autobahnbrücke bei Eisenach war noch nicht fertiggestellt - habe ich in lebhafter Erinnerung. Der Nebel, die einsame Straße, ein peinliches Verhör an der Grenzstation machten auf mich damals 19- oder 20-Jährigen großen Eindruck. Eindruck machte aber auch die Kirche, die ich damals erlebte - zufälligerweise war ich einmal bei einem regionalen Katholikentag in Erfurt.
Es war eine intimere Gemeinschaft als bei uns. Es gab Typen, bei denen man sich zu Hause fühlte. Das Religiöse spielte eine größere Rolle. Und die Abgrenzung zum Staat war unausgesprochen, aber klar. Wir jungen Katholiken im Westen fühlten uns als Teil einer gesellschaftlichen Aufbruchbewegung, das war grün und pazifistisch angehaucht. Wir wollten die Kirche und den Staat verändern. Die Kirche, die mir in der DDR begegnete - und ich spreche jetzt wirklich über sehr punktuelle Eindrücke eines jungen Mannes - war vollends damit beschäftigt, denen, die sich zu ihr bekannten, eine Heimat zu bieten.
Ü;brigens war ich bei einem dieser Besuche auch im Eichsfeld - hier in Heiligenstadt - und hier hat im Jahr 1979 für meine Frau und mich eine ganz persönliche Freundschaft über die Mauer hinweg begonnen, die bis heute hält.
Verzeihen Sie diese persönliche Einführung. Aber ich denke, sie ist wichtig, weil die Verständigung über Wertefragen nicht selbstverständlich ist und jeder von seinem eigenen Erfahrungshorizont geprägt ist.
Meine Damen und Herren,
die Rede von den Werten ist oft widersprüchlich. Der Begriff "Werte" ist ziemlich schillernd und nicht klar. Ein Akademiker wie der Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, begegnet ihm, das spürt man, wenn man seine Aufsätze oder Interviews studiert, mit Misstrauen. Er warnt: "der Wertebegriff ist zu unbestimmt". Die Kirchen dürften sich nicht "in die Rolle des einzigen Garanten für Moralität in der säkularisierten Gesellschaft drängen lassen". Aber wer definiert Werte sonst? Wie können sie die Gesellschaft von innen heraus durchdringen?
Fest steht: Immer weniger Menschen werden heute von "Wertevorgaben" durch den Staat, gesellschaftliche Gruppen, Verbände oder auch die Kirchen erreicht. Gleichzeitig wächst das Bedürfnis, die Notwendigkeit praktischer Lebensbewältigung. Konflikte nehmen zu, der Einzelne ist - noch bevor das digitale Zeitalter seine ganze entsolidarisierende Wirkung entfaltet - mehr denn je auf sich selbst gestellt. Der Einfluss von Medien und Werbung, das Vorbild der Pop-Kultur und ihre Idole setzen Jugendliche enorm unter Druck. Werte sind nicht statisch, sie verändern sich. Auch der "Zeitgeist" schafft Werte - manchmal fragwürdige, oft schnell vergängliche. Da ist Orientierung schwierig.
Insofern ist es kein Wunder, dass eine durch Arbeitslosigkeit, Reformunfähigkeit, Bevölkerungsentwicklung und Globalisierung verunsicherte Gesellschaft nach neuen Werten sucht. Parteien beraten in Grundsatzdiskussionen über neue Programme. Die Kirchen sehen in der Berufung eines deutschen Papstes eine Chance für die Wertedebatte. Intellektuelle führen Streitgespräche über die Wiederbelebung der Bürgerlichkeit.
Krisensymptome gibt es genug. Die Gesellschaft fällt auseinander, vor allem dort, wo die Menschen keine Arbeit haben, durch Zuwanderung bestehende Sozialstrukturen zerfallen. In Großbritannien soll eine Respekt-Kampagne Jugendliche für traditionelle Werte und gegenseitige Achtung gewinnen, die Niederlanden reagieren mit Werbung für Anstand auf das Auseinanderbrechen der traditionellen Ordnung. Der Befund ist klar: Den immer heterogeneren, komplexeren und schnelleren Gesellschaften fehlt das Bindemittel.
Trotzdem halte ich es für falsch, von einer sogenannten "Renaissance der Werte" zu sprechen. Für mich klingt das fast so, als würden wir eine finstre Epoche hinter uns lassen, in der es keine Auseinandersetzung darum gegeben hat, woran Menschen sich orientieren, was ihnen persönlich und für die Gesellschaft wichtig ist. Diesen Eindruck teile ich nicht.
Denn in den letzten Jahren und Jahrzehnten sind viele neue Werte entstanden, die sich für eine ganze Generation als durchaus tragfähig erwiesen haben. Ich nenne einige von ihnen:
Emanzipation, verstanden als Geschlechtergleichstellung und -partnerschaft. Da haben Sie in der ehemaligen DDR kein Nachholbedürfnis, sondern uns Wessis - was die gelebte Gleichstellung von Männern und Frauen im Beruf angeht - möglicherweise sogar einiges voraus.
Neu ist auch ein "globales" Bewusstsein, das bisherige nationale Grenze sprengt, und sich z.B. darin zeigt, dass sich sehr viele Menschen auf anderen Kontinenten engagieren, in der praktischen Entwicklungs- oder Sozialarbeit oder engagiert helfen und spenden, z.B. bei Naturkatastrophen wie zuletzt überwältigend beim Tsunami in Südostasien. Kardinal Lehmann nennt dieses Phänomen eine Fernen-Ethik praktischen globalen Bewusstseins.
Ein neu gewachsener Wert ist auch die Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen und sexuellen Orientierungen. An die Stelle oder an die Seite alter Bindungen, zum Beispiel in der Familie, sind neue, der Lebenssituation einer immer mobileren Gesellschaft angepasste Beziehungsgeflechte mit nicht minder hoher Verbindlichkeit getreten. Auch andere praktische Werte wurden in den letzten Jahrzehnten neu definiert und sind, oft nach harten Auseinandersetzungen, aus dem aufrührerischen Teil der Gesellschaft mitten ins Bürgertum gewandert. Dazu zähle ich zum Beispiel den Denkmalschutz oder eine neue Erinnerungskultur, eine große Errungenschaft gerade vor dem Hintergrund der schwierigen deutschen Geschichte.
Bei diesem Thema spüre ich übrigens immer eine besondere und mich bedrückende Diskrepanz zwischen Ost und West. Für mich als junger Westdeutscher war die Rückgewinnung der verdrängten Frage nach der Schuld am Nationalsozialismus und der Kampf um die Erinnerung an die verschwundenen jüdischen Mitbürger ein ganz wesentliches Element meiner Politisierung. Wir waren in einer vom Wirtschaftswunder geprägten, mittlerweile ziemlich saturierten Gesellschaft groß geworden, die sich für die Jahre nach 1933 schlicht nicht interessierte. Unser Geschichtsunterricht endete immer wieder mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Die Orte des nationalsozialistischen Grauens habe ich auf Fahrten erlebt, die ein Benediktinerpater organisiert hatte, der uns in der katholischen Jugendgruppe betreute. Auch wenn unsere Umgebung davon nichts wissen wollte - uns Jugendliche bedrängten die Frage nach Opfern und Tätern und nach den persönlichen Geschichten in unserer eigenen Stadt.
Bei meinen Besuchen in der DDR - und ich erinnere mich eindrücklich an eine Besichtigung des KZ Buchenwald an einem eisigen Januarmorgen - spürte ich bald, dass die staatliche Vereinnahmung des antifaschistischen Widerstands und die Betonung des kommunistischen Elements wie eine Barriere zwischen der Geschichte und der Betroffenheit, oder sagen wir präziser: dem persönlichen Verantwortungsgefühl des Einzelnen lag. Distanz zum Staat konnte sich auch in Distanz zum Umgang mit dem Nationalsozialismus ausdrücken. Hier gibt es eine - sicher nicht zu verallgemeinernde - kulturelle Distanz, die - so glaube ich - bis heute nachwirkt.
Zurückkommend auf unser Thema, die Frage der Werte, und die Frage der Neugewinnung von Werten, will ich aber sagen: Wenn der Bundespräsident wie die Bundeskanzlerin heute die Anteilnahme am Schicksal Israels und die Erinnerung an den Holocaust zu einem Teil der deutschen Identität erklären, dann zeigt mir das, dass hier ein Wert nachgewachsen ist, der sich erheblich von der allgemeinen Empfindung jedenfalls Westdeutschlands bis in die 70er und 80er Jahre hinein unterscheidet und für den ich jedenfalls sehr dankbar bin.
Offenkundig hat es in den letzten Jahrzehnten eine unübersehbare Neudefinition von Werten gegeben. Traditionelle Werte wie Familie, Anstand, Ehrlichkeit konkurrieren mit den "neuen" Werten, die ich oben skizziert habe, bzw. werden im Alltagsleben von ihnen ersetzt und abgelöst: Individualismus, Feminismus, Ökologie.
Konservative Gesellschaftskritiker wie Stanley Kurtz sehen in diesen Faktoren die wesentliche Ursachen für die Krise der westlichen Gesellschaften, vor allem für das Problem des Geburtenrückgangs. Frontlinien entstehen zwischen Vor- und Nach-Achtundsechzigern, den Konservativen, denen die ganze Richtung ohnehin nicht passte, und den alt gewordenen Revolutionären, die sich um die Früchte ihres Kampf betrogen fühlen. Doch bei Licht betrachtet erscheint die Frontstellung künstlich, ja ideologisch.
Die meisten dieser Werte haben längst Einzug ins bürgerliche Milieu gehalten, da muss man nicht auf die Lebenswirklichkeit konservativer Spitzenpolitiker verweisen, wo Ehen ohne Kinder, Scheidungen oder Homosexualität mittlerweile so selbstverständlich sind wie im Rest der Gesellschaft . Nicht umsonst spricht Paul Nolte von einer "grünen Bürgerlichkeit", die sich etwa im Blick auf die Ü;berschneidung von "grünen" und "bürgerlichen" Milieus in unseren Stadtlandschaften bestätigt. Der Ausgangspunkt der Wertedebatte sollte es deshalb sein, die Veränderung von gesellschaftlicher, familiärer und Beziehungs-Wirklichkeit als Faktum zu akzeptieren - und nicht Werten hinterherzulaufen, die keinen Sitz im Leben haben. Das schlimmste ist Heuchelei, Menschen durch ein undurchdringliches und starres Wertekonzept in Lebenslügen hineinzuzwingen, die nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Umwelt unglücklich machen.
Wenn wir von neuen Werten reden, müssen wir allerdings auch von neuen Egoismen sprechen, die vor allem in den 90er Jahren entstanden sind und die dem langjährigen Konsens des gesellschaftlichen Ausgleichs in Deutschland widersprechen. Die Werbung räumt den Starken wie selbstverständlich das Recht ein, sich durchzusetzen und sagt dazu: "Ich bin doch nicht blöd!". Besitz wird als Indikator des Erfolgs angesehen, was Slogans wie "mein Haus, meine Frau, mein Boot" ausdrücken. Da werden Menschen ganz schnell zu Dingen.
Neue, negative Werte zeigen sich aber auch in Phänomenen, die uns alle erschrecken und von denen wir nicht genau wissen, ob sie wirklich neu sind oder ob wir sie nur mit neuer, besonderer Aufmerksamkeit wahrnehmen. Ich meine die fast täglichen Nachrichten von verwahrlosten oder missbrauchten Kindern, sexuelle Ü;bergriffe auf Kinder und Jugendliche, ob real in fernen Urlaubsländern oder virtuell im Netz. Aber auch fehlendes unternehmerisches Ethos, wenn altes Fleisch einfach umetikettiert und dem Verbraucher als frisch angedreht wird. Und ich denke schon, dass sich Spitzenmanager die Frage stellen müssen - und ich will jetzt wirklich keine Neiddebatte führen - ob ihre Millioneneinkünfte wirklich ihrer Leistung angemessen sind und was solche Beträge für die Moral in einem Unternehmen bedeuten. Auch hier handelt es sich im Kern um Wertfragen, um eine neue Ideologie der materiellen Ü;berlegenheit, mit der sich die Wertedebatte auseinandersetzen muss.
Das für mich interessanteste Phänomen - und das könnte durchaus handfeste politische Konsequenzen für neue politische Konstellationen haben - ist, dass sich früher scharf getrennte Gruppen in der Wertefrage aufeinander zu bewegen: Es gibt eine Art Wanderung von "progressiven" Werten in bürgerliche Schichten hinein - so wie umgekehrt früher als konservativ diffamierte Werte und Lebensformen sich in liberalen Schichten einnisten. So ist Umweltschutz mittlerweile genauso gesellschaftliches Gemeingut wie das Eintreten für die Familie. Ü;berspitzt gesagt: das Establishment ist liberal geworden - und die Revoluzzer wurden bürgerlich. Allerdings hat diese Entwicklung der Ent-Ideologisierung eine Kehrseite. Parallel dazu ist eine "alles-ist-möglich"-Kultur entstanden, in der weder bürgerliche noch progressive Grundhaltungen zu finden ist, sondern ein oft zynischer Ausverkauf von Idealen oder die Missachtung von früher gültigen Idealen zu beobachten ist. Das hat mein Kollege Ulrich Wickert schon ganz gut auf den Punkt gebracht: der Ehrliche ist der Dumme, das halten erstaunlich viele Menschen nicht nur für eine zutreffende Beschreibung des Zeitgeistes, sondern sie ziehen daraus auch Konsequenzen für ihren eigenen Lebensentwurf.
Lassen Sie mich an dieser Stelle ein paar aktuelle politische Anmerkungen machen. Ich will das in aller Demut tun, weil es eben Aufgabe von Journalisten ist, zu beschreiben und zu erklären. Wir sollten die aktive politische Rolle den gewählten Politikern überlassen, die müssen sich schließlich auch gegenüber den Wählern rechtfertigen. Ich will aber ein paar Wünsche und Sorgen formulieren, die ich an die Politik, an die Gesellschaft und an die Kirche hätte.
- 1. - Wir müssen runter von der Katastrophen-Rhetorik. Unser Land steht nicht nicht so schlecht da, wie wir es reden. Für mich war das schlecht - und herunterreden (und dazu gehört auch ein Wort wie "Sanierungsfall", das zunächst der Bayerische Ministerpräsident und später auch die Bundeskanzlerin immer wieder gebrauchte) der unrühmlichste Aspekt der extremen politischen Konfrontation zwischen Rot-grün und dem konservativen Lager, wie sie unser Land bis zum Wahljahr 2005 geprägt hat. Ich denke, diese Konfrontation und diese Zuspitzung hat den Menschen viel Mut genommen.
Ich will nicht missverstanden werden. Natürlich müssen wir uns den schwierigen Aufgaben stellen: Vor allem den demographischen Problemen, und damit verbunden der Sanierung der Sozialsysteme. Das wird schmerzliche Einschnitte und Opfer verlangen. Wir fangen zu spät damit an, aber meine These ist: In Deutschland steckt viel Veränderungsbereitschaft und die müssen wir aktivieren. Angstmache ist dafür ein falsches Konzept. Wenn die Menschen verstehen, was auf dem Spielt steht, werden sie ihre Einstellungen auch verändern.
- 2. - Wir müssen raus aus unserer deutschen Selbstbezüglichkeit. Sie ist ein verständliches, aber auch schwieriges Erbe der Wiedervereinigung. In den fünfzehn Jahren nach 1990 haben wir uns zu sehr nach Innen orientiert, viel mentale und wirtschaftliche Kraft in die Einheit gesteckt, aber die gewaltigen Veränderungen und Integrationsprozesse, die sich in der Welt ergeben haben, zu spät wahrgenommen. Fatale Folge: Wir haben uns gedanklich von Europa abgehängt.
Ich denke: Die Erweiterung Europas und auch die Globalisierung sind Chancen. Letztere übrigens auch für die armen Völker, die zum ersten Mal an der Weltwirtschaft teilhaben können. Auf diese Weise sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten Millionen Arbeitsplätze in China, in Indien und auch in Lateinamerika entstanden. Natürlich müssen wir den armen Völkern helfen, vor allem Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Aber Globalisierung heißt eben auch fairere Chancen - und das sind wir unseren fernen und nahen Nachbarn schuldig. Im Weltmaßstab ist es übrigens ein Skandal, wie viel Geld Europa für seine subventionierte Landwirtschaft ausgibt - und wie hoch die Zollschranken gegen Agrarprodukte aus der Dritten Welt sind. Wenn wir auf diesem Feld fairen Handel zuließen, könnten wir uns viel Entwicklungshilfe sparen.
- 3. - Mein Hauptpunkt: Wir dürfen die Europäische Union nicht nur als Wirtschaftsraum begreifen, sondern vor allem als politisches, soziales und kulturelles Projekt. In Europa ist unsere Identität am besten aufgehoben. Freiheit, Demokratie, sozialer Ausgleich, Menschenrechte, Pressefreiheit. Das sind die europäischen Werte. Und man kann nur hoffen, dass der nächste Anlauf zur europäischen Verfassung gelingt, die EU ihre strukturellen Probleme löst und aus sich heraus politische Dynamik entwickelt. Es geht dabei nicht nur um Wohlfahrt und Wohlstand für die Bürger, obwohl vor allem das Legitimation für die Gemeinschaft bringt.
Es geht, wie ich denke, vor allem darum, zu beweisen, dass eine solche freiheitliche, pluralistische Ordnung leistungsfähiger ist, als das, was sich im letzten Jahrzehnt in China und ansatzweise jetzt auch in Russland zeigt. Autoritäre Regime entwickeln ein neues Gesicht: Sie erscheinen jedenfalls auf den ersten Blick nicht mehr als finstere Polizeistaaten, sondern als verführerische Glitzerwelten. Dennoch degradieren sie die Bürger zu reinen Konsumenten, denen sie politische Teilhabe verweigern. Dies ist aber ein zentraler europäischer Wert und wir müssen jetzt beweisen, dass er im Wettbewerb der Systeme wirklich leistungsfähiger ist als die neuen in einer schillernden Reichtumsverkleidung daherkommenden Diktaturen.
Deshalb sollten wir unsere europäischen Werte offensiv vertreten: In Russland, in China und auch gegenüber dem Islam. Wir beeindrucken niemanden, wenn wir vor lauter Dialog und Toleranzbereitschaft, das, was uns wichtig ist und wofür in Europa Jahrzehnte und Jahrhunderte gekämpft wurde, unter den Tisch fallen lassen. Und das sind eben die Errungenschaften der Aufklärung: Toleranz, Versöhnung von Wissenschaft und Religion, Emanzipation, auch verstanden als Geschlechtergleichheit, das Bekenntnis mit Unterschieden leben zu können. Auf dieser Grundlage müssen wir den Dialog suchen und werben. Wir sollten das ohne Hochmut tun, sondern immer eingedenk der historischen Erfahrungen, wie lange in Europa der Durchbruch zu diesen Werten dauerte und welche auch blutigen Kämpfe dafür geführt wurden. Dazu gehört auch Ehrlichkeit, darüber Rechnung abzulegen, wie viel Schuld die Kirche auf diesem Weg auf sich geladen hat, man denke nur an Kreuzzüge, Inquisition, den Kampf mit der modernen Wissenschaft.
- 4. - Ich muss das an dieser Stelle sagen, obwohl ich mich als ehemaliger Washington-Korrespondent und Vater einer Tochter, die in diesem Jahr an einer deutsch-amerikanischen Schule ihr Abitur machen wird, Amerika und dem american way of life wirklich verbunden fühle. Die Krise, in die die Welt geraten ist, und ich spreche jetzt mehr von der kulturellen als von der politischen Krise, ist ohne das Versagen der Regierung Bush nicht denkbar. Der Irakkrieg war falsch, nicht nur politisch falsch und offenbar militärisch schlecht geplant. Er war auch ein als jeder Demokratie unwürdiges Lügengespinst aufgebaut, das im Nachhinein Raum für alle möglichen Interpretationen ließ. Es wird lange dauern, bis das Vertrauen wieder aufgebaut ist.
Was ich jetzt sage, sind wirklich nur Stichworte: Ich bin überzeugt, dass das Aufkeimen und Erstarken eines fundamentalistischen, gewalttätigen, zu Mord und Terror bereiten Islamismus auch, ich betone: auch damit zu tun hat, dass der Westen jahrzehntelang zu wenig Aufmerksamkeit auf das Gefühl der politischen und wirtschaftlichen Demütigung breiter islamischer Volksmassen gerichtet hat. Wir müssen dringend daran arbeiten, diese Perspektiven und den arabischen Nationen eine partnerschaftliche Beziehung anbieten. Der Krieg war das falscheste Signal. Trotz aller Probleme, die ich sehe, wäre eine Aufnahme der Türkei in die EU ein unübersehbares Symbol, dass der Westen, dass Europa zu dieser Partnerschaft willens ist.
- 5. - Ich komme jetzt zurück in unser Land. Ich glaube, das Schlimmste, was in den letzten Jahren passiert ist, ist die Verweigerung von Lebenschancen für junge Leute. Ich will keine Schuldigen benennen: Aber wer bestens ausgebildet ist, sich trotzdem nur von Praktikum zu Praktikum hangeln kann und dann irgendwann um die 40 die Chance auf einen sicheren Job hat, dem darf man nicht verübeln, wenn er sich spät bindet, spät Mut hat, sich für Familie und Kinder zu entscheiden. Sicherheit ist dafür eine entscheidende Voraussetzung. Wir müssen den Zwanzig und Dreißigjährigen Sicherheit geben, wir müssen sie entlasten und das kann harte Konsequenzen haben, z.B. für die heutige Rentnergeneration. Auch die Wirtschaft muss verstehen, dass Zeitverträge keine dauerhafte Basis für Beschäftigung sein können.
- 6. - Ein Wort zur Kirche: Ich finde wir haben nicht zu viel, wir haben zu wenig Lehmann. Ich meine damit die Bereitschaft, sich mit der Welt auseinander zu setzen, Gesprächspartner zu sein und aus christlicher, kirchlicher Perspektive die Gesellschaft mitgestalten zu wollen. Wir dürfen uns als Christen nicht noch mehr nach innen verkriechen. Leider nimmt man, das habe ich jetzt beim Papstbesuch im letzten September in Bayern so empfunden, aus der Mitte heraus, man könnte auch sagen von der Bühne her oder vom Altar, schlecht wahr, wie es am Rand bröckelt. Und es bröckelt gewaltig. Da darf man sich von der Euphorie der Fernsehübertragungen nicht davontragen lassen.
Ich glaube, dass es heute ein tiefes Bedürfnis nach Verwurzelung, nach Gemeinschaft, nach Sinnangeboten gibt. Die Kirche kann das leisten, aber sie muss sich dafür öffnen. Und ich will nur dieses eine praktische Beispiel geben, sie muss dafür praktische Hilfe leisten, zum Beispiel bei Familien, die angesichts der Mobilitätszwänge der modernen Zeiten von Ort zu Ort ziehen und dort keine familiäre Unterstützung finden. In den Pfarrgemeinden Netzwerke zur Unterstützung von Familien zu gründen, Familien zusammenzubringen, damit sie sich selbst helfen können, das könnte ein erster ganz praktischer Anfang für eine solche Öffnung sein.
- 7. - Und zum Schluss, ich sage das jetzt ganz allgemein: Wir müssen den einfachen Lösungen widerstehen. Ich habe Sorge vor der fundamentalistischen Welle, die aus den USA nach Europa und auch nach Deutschland schwappt. Natürlich: In einer so komplexen, vielfältigen, Konflikt geprägten Welt, gibt es eine Sehnsucht nach einfachen Antworten. Aber es ist falsch, die Welt in Gut und Böse aufzuteilen. Wir spüren doch alle, dass jede Lebenssituation, jeder Konflikt aus sich heraus betrachtet werden muss.
Schematische Antworten helfen nicht. Am Ende geht es um individuelle Entscheidungen, die aus Verantwortung, auf dem Fundament eines persönlichen Gewissens und sozialen Bewusstseins, Verantwortung auch für die Gesellschaft als ganze mitzutragen, getroffen werden müssen.
Meine Damen und Herren,
ich hatte mir vorgenommen auch etwas zur Frage der Medien zu sagen - und bin sicher, dass Sie das auch von mir erwarten. Auch hier ist schließlich eine Wertedebatte zu führen, auch wir Journalisten haben uns schließlich die Frage zu stellen, wem wir mit unserer eigenen Arbeit eigentlich dienen.
Mehr Information als heute gab es nie im Fernsehen. Vom Morgenmagazin bis um Mitternacht: Irgendwo ist immer Nachrichtenzeit. Der Bürger hatte nie mehr Chancen, sich zu informieren, teilzuhaben am politischen Prozess. Wer mehr wissen will, dem erschließt das Internet Informationsquellen, über die früher nur Politiker, Beamte und Experten verfügten.
Doch mehr Information führt nicht unbedingt zu mehr Engagement. Im Gegenteil: Viele Menschen fühlen sich heute geradezu erschlagen, von dem, was sie wissen könnten und müssten. Trotz immer mehr verfügbarer Informationen erscheint die Gesellschaft von der Politik immer weniger berührt. Ganz offensichtlich ist es so, dass die Öffentlichkeit die vielen Fakten und Meinungen kaum verdauen kann, die mit der Vervielfältigung der Fernsehkanäle, dem Vormarsch des Internet, einer ungebrochen vitalen Hörfunk- und Presselandschaft den Markt überschwemmen.
Die Informationsflut schüchtert die Bürgerinnen und Bürger ein. Statt sich zu aktivieren, mitzuwirken am Gemeinwesen, fürchten sie immer im Rückstand zu sein, nicht genug zu wissen, bevor sie handeln oder ihre Meinung ausdrücken können. Politische Information steht so in der Gefahr zu einer anderen Art von Entertainment zu werden - irgendwie aufregend, aber ohne Konsequenz für das eigene Handeln, für das Leben als Staatsbürger.
Ich meine journalistische Verantwortung erweist sich heute auch daran, dem Zuschauer Zeit zu lassen, Fakten zu klären und Zusammenhänge zu erkennen. Voraussetzung dafür ist, dass wir dem Rausch der Geschwindigkeit, der Beschleunigung widerstehen, den zweiten Blick, den zweiten Gedanken wagen und der Nachricht Einordnung, Erklärung und Analyse hinzuzufügen.
Sicher, auch wir bewegen uns auf einem Markt, auch wir müssen weiter Nachrichten hervorbringen. Erkennen, was neu, spannend, konfliktreich ist. Und der Wettbewerb um diese Ware ist hart. Aber mindestens so wichtig, und auch ein Qualitätsprodukt, ist die Erläuterung, Einordnung, Ü;berprüfung. Es geht nicht mehr vor allem um die Frage, wer der Schnellste ist. Genauso wichtig ist es zu klären, warum und wie genau etwas passiert ist.
Dabei stecken wir in einem Zielkonflikt zwischen Geschwindigkeit und Analyse. Wir können überall live dabei sein, und da geht es schlicht um Wettbewerb. Nur: Wer live dabei ist, kann oft noch nicht erkennen, warum etwas passiert. Der braucht, bildlich gesprochen, einen Hintermann, um die Bilder zu erklären, die auf den Sender gehen. Und diese Hintermänner, Hintergrundsendungen, Begleitmaterial zu unseren Sendungen, auch im Internet, müssen wir uns weiter leisten, leisten können, weil die Komplexität des Event-Fernsehens die Menschen allzu häufig überfordert.
Auf den Zuschauer zugehen, ihn ernst zu nehmen, das kann bei unklarer oder widersprüchlicher Faktenlage auch heißen, die Widersprüche zwischen Quellen darzulegen, Zweifel und Fragen mitzuteilen. Nichts ist im Zeitalter der Beschleunigung peinlicher als journalistische Allwissenheitsphantasien, wie wir sie in der US-Wahlnacht im November 2000 erlebt haben, als Fernsehstationen, die alle die Ersten sein wollten, eine ganze Nation haben in die Irre laufen lassen. Langsamer ist manchmal besser.
Das heißt: Sorgfalt geht vor Geschwindigkeit. Natürlich schließt das die alten journalistischen Tugenden mit ein: Faktentreue, Trennung von Meinung und Nachricht, dem Hang zur Verknappung und Verkürzung zu widerstehen und Erklärung, auch Wiederholung nicht scheuen. Wir versuchen daraus Konsequenzen zu ziehen, mit Erklärstücken oder starken Auslandsreportagen in unseren Nachrichtsendungen, mit Schwerpunkten z.B. im "heute journal".
Glaubwürdigkeit, Akzeptanz und schlussendlich Vertrauen kann nur entstehen, wenn wir die Menschen in der Flut von Fakten, Bildern und Emotionen nicht alleine lassen. Wir sollen und wollen ihnen ja mit unserer Arbeit kein Polit-Entertainment bieten, sondern die - aufgearbeiteten - Informationen, die für ihr Leben als politische Staatsbürger wichtig sind.
Die Stärke des Fernsehens liegt in der Vermittlung von Personen. So nah wie in der Nahaufnahme bei Sabine Christiansen oder Maybrit Illner kommen wir einem Menschen sonst eigentlich nie. Ein Politiker, der Wähler gewinnen kann, muss sogar seinen Privatbereich öffnen. So erlebten wir Angela Merkel in ihrer alten Schule in Templin oder Gerhard Schröder mit seiner Familie beim Spaziergang im hannoverschen Park. Manches ist dabei enthüllend, oft unfreiwillig. Der Blick der Kamera ist jedenfalls so genau, dass auch der ausgebuffteste Selbstdarsteller nicht alles kontrollieren kann - und manchmal einfach aus der Fassung kommt. Die Momente, wo Interviewer Druck machen und die Bühne dem Politiker nicht alleine überlassen, sind für die Zuschauer oft die enthüllendsten.
Ein Problem, das ich am Schluss noch nennen will, ist der Uniformitäts-, der Anpassungsdruck, der auf den Medien lastet. Jeder rennt den vermeintlichen Themen der Woche hinterher, um ja nichts zu verpassen. Dies geschieht oft zu Lasten der eigenen Recherche und der besseren Idee. Plötzlich steht ein Thema "hoch" - und jeder will etwas dazu haben.
Wir vom Fernsehen hören häufig die Klage, wir seien langweilig geworden, weil man überall das gleiche sieht. Aus Angst, einen Trend zu verpassen, verlassen die Programmmacher und Journalisten sich häufig zu wenig auf die eigene Nase, das eigene Gespür für das, was neu, aufregend und interessant ist. Zu oft vollziehen wir nur nach, was andere vorgeben. Oft genug sind das die Zeitungen mit den besonders großen Buchstaben.
Eine Folge des Uniformitätsdrucks ist es auch, dass Medien strukturell oft viel konservativer als die Gesellschaft erscheinen, in sie hinein senden und deren Abbild und Zeitansage sie in gewisser Weise doch sein sollten. Der Auftritt der meisten auf Massenpublikum ausgerichteten Fernsehkanäle und der bunten Printmedien impliziert eine nationale Leitkultur und Sichtweise auf Politik, Wirtschaft und Kultur, wie sie weder den tatsächlichen internationalen Entscheidungsstrukturen noch den immer bunteren Gesellschaften entspricht, an die sie sich wenden. Internationalisierungs-, Europäisierungs- und Integrationsprozesse, die in anderen Bereichen der Gesellschaft, in der Wirtschaft, in der Kultur, selbstverständlich sind, finden in den Medien kaum statt - und wenn, dann wirken sie wie ein farbiges Alibi.
Nehmen Sie die Moderatoren. Das Fernsehen bevorzugt noch immer die blonden Frauen und die blauäugigen Männer. Vertreter von Minderheiten, Aussiedlern, Türken, Polen in unserem Land, längst in der zweiten oder dritten Generation hier lebend und mit dem deutschen Pass ausgestattet, sind unter dem Druck, auf dem Bildschirm, den Mainstream zu reproduzieren, immer noch Exoten. Es müsste umgekehrt sein: das Fernsehen müsste als integrierendes und integratives Medium wirken, die ethnische Vielfalt des Landes auch über die auf dem Bildschirm agierenden Journalisten sichtbar machen und so die Integrationsprozesse im eigenen Land, die europäischen Einigung und die Globalisierung mit vorantreiben. Diese Prozesse können nur gelingen, wenn Programme Heimat auch für die Fremden werden.
Und damit bin ich zum Schluss wieder bei der Wertedebatte. Es ist kein Grund zum wehklagen, sondern eine Errungenschaft, dass sich Werte nicht (mehr) verordnen lassen, sondern dass sie überzeugen und sich als lebens-, gesellschafts- und gemeinschaftstauglich erweisen müssen. Natürlich gibt es "objektive" Werte - von den Zehn Geboten über den Menschenrechtskatalog bis zu den ersten 20 Artikel des Grundgesetzes und hoffentlich bald die europäische Verfassung. Der Unterschied zu früheren Zeiten ist aber, dass Werte heute vom Einzelnen in ganz konkreten Situationen erarbeitet werden, sozusagen für sich selbst beglaubigt werden müssen.
Werte sind Gegenstand politischer und intellektueller Auseinandersetzungen - was sich auch darin zeigt, dass gute Christenmenschen vor politische Fragen gestellt eben zu ganz unterschiedlichen Antworten kommen können. Zu akzeptieren, dass das persönliche Gewissen nach reiflicher Prüfung vielfältig entscheiden kann, ist eine Errungenschaft, die uns von fundamentalistischen Versuchungen, in denen der Einzelne in der Masse untergeht, unterscheidet.
Werte müssen vom Einzelnen in ganz konkreten Situationen erarbeitet werden. Sie sind Gegenstand auch politischer und gedanklicher Auseinandersetzungen, wie wir sie im Moment nicht nur in der innenpolitischen Debatte z.B. über familienpolitische Grundsätze oder biogenetische Forschung erleben, sondern vor allem in der Auseinandersetzung mit anderen Staaten - und Religionen.
Offenkundig hat es in den letzten Jahrzehnten eine Neudefinition von Werten gegeben. Die "Wertekonstruktion" ist in einer immer komplexeren, mobileren, bindungsärmeren Gesellschaft eine schwierige Aufgabe. Was der Einzelne für sich selbst als ?Wert-?voll erfahren oder erarbeitet hat, muss für andere nicht den gleichen Wert haben. Angeblich "objektive" Wertsetzungen können sich als nicht praktikabel erweisen, ausgrenzen oder einschränken. Die Frage nach den Werten stellt sich immer im Kontext von Erfahrungen und im Zusammenhang von gelebtem Leben.
Die Wahrheit ist konkret. Die Rede von den Werten bewährt sich in der Wirklichkeit. Und sie führt nicht zu schematischen, für jedermann zutreffenden Vorgaben, sondern zu einer Verantwortung des Einzelnen, der seine eigene Lebenssituation - als Individuum, in der Familie, im Beruf, in der Gesellschaft - kritisch betrachten und vor sein Gewissen stellen muss. Es gilt also Spannungen auszuhalten. Der Einzelne ist heute mehr als in früheren Zeiten auf sich selbst gestellt. Wir müssen es alle gemeinsam aushalten, dass es auf die meisten Probleme unserer Zeit keine einfachen Antworten mehr gibt.
Dr. Peter Frey, Jahrgang 1957, leitet das ZDF-Hauptstadtstudio Berlin und moderiert die Sendung "Berlin direkt". Kirchlicherseits ist er Mitglied in der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). 2007 gab er im Herder-Verlag den Titel "77 Wertsachen. Was gilt heute?" heraus.
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