"Wende doch, Herr, unser Geschick"

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr bei der Männerwallfahrt ins Klüschen Hagis

Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,

heute werden Erinnerungen lebendig an den letzten Gottesdienst, den ich hier am Klüschen Hagis gefeiert habe. Es war am Sonntag, dem 13. Juni 2021, kurz nachdem die Infektionsschutzmaßnahmen für unsere Gottesdienst gelockert werden konnten. Ich habe diesen Tag besonders dem Gebet für die Menschen gewidmet, die während der Corona-Pandemie verstorben sind, gleichgültig mit welcher Krankheit. Die meisten von ihnen sind sehr einsam gestorben, weil die Angehörigen ihnen kaum beistehen konnten, ja manchmal mussten wir seitens des Bistums dafür sorgen, dass ein Seelsorger sie besuchen und ihnen das Sakrament der Krankensalbung spenden konnte. Die anschließende Beisetzung in kleinem Kreis war für die Angehörigen eine zusätzliche enorme Belastung, weil sie nicht den Trost und den Beistand durch andere Menschen erleben konnten. Nachdem wir nun nach zwei Pandemiesommern wissen, dass die Infektionsgefahr im Freien sehr gering ist, darf es solche Infektionsschutzmaßnahmen bei Beisetzungen im Freien nicht mehr geben. Am 13. Juni 2021 waren viele Menschen, die in der Corona-Pandemie einen Angehörigen verloren hatten, zum Gottesdienst gekommen. Nach dem Gottesdienst bin ich mit einer kleinen Gruppe von Wallfahrern zum Hülfensberg gepilgert, um sowohl unterwegs als auch im Gottesdienst auf dem Hülfensberg für die Verstorbenen der Corona-Pandemie und ihre Angehörigen zu beten. Gerade jetzt, wo die Infektionsschutzmaßnahmen wieder gelockert werden konnten, ist es wichtig, die Menschen nicht zu übersehen, die unter diesen Umständen einen lieben Angehörigen verloren haben. Überall werden jetzt Geburtstage und Jubiläen nachgefeiert. Vergessen Sie bitte auch nicht, Gedenkgottesdienste für Verstorbene und Zusammenkünfte zum Trösterkaffee, der ja hier im Eichsfeld nicht nur Trösterkaffee heißt, sondern auch ein wichtiger Trost für die Angehörigen ist.

Lassen Sie mich bitte ein paar Sätze zu den sogenannten Anti-Corona-Kundgebungen sagen: Ich bin auch gegen Corona, aber das bringe ich im Gebet vor Gott, indem ich darum flehe, dass das Virus verschwindet. Zu Beginn der Pandemie am 14. März 2020 habe ich unser Bistum dem Gehülfen auf dem Hülfensberg anempfohlen. Die Infektionsschutzmaßnahmen waren nötig, als es noch keine Masken und erst recht keine Impfungen gab. Die Verantwortlichen mussten Entscheidungen treffen, ohne wirklich zu wissen, welche Maßnahmen erfolgreich sind. Ich bin sehr froh, dass wir in einer freiheitlichen Demokratie leben, in der man gegen solche Maßnahmen demonstrieren kann. Viele von Ihnen haben 1989 und 1990 mutig für diese Meinungsfreiheit gekämpft. Wer aber an solchen Protestkundgebungen teilnimmt, sollte nicht blau-äugig sein, wer sich da seinen Unmut zunutze macht. Meistens geht es den Initiatoren nicht um die Freiheit, sondern um das Gegenteil davon

„Wende doch, Herr, unser Geschick“
Mit diesem Psalm-Vers, der das Leitwort der diesjährigen Männerwallfahrt ist, können wir in der Corona-Pandemie mit ganzem Herzen beten. Genauso intensiv ist unser Gebet für alle Menschen, die von dem furchtbaren Krieg in der Ukraine betroffen sind. Wir denken an die Zivilisten, die getötet, verwundet oder vertrieben worden sind, aber auch an die Soldaten auf beiden Seiten, die ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren haben. Mit tiefer Erschütterung haben nicht nur die Politikerinnen und Politiker, sondern wir alle miterleben müssen, wie die Friedensordnung, die wir uns nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erhofft hatten, niedergerissen worden ist.

„Wende doch, Herr, unser Geschick“
Der Psalm 126, der dieses flehentliche Gebet enthält, ist auch der Psalm des Mauerfalls. Er beginnt so: „Als der Herr das Geschick Zions wendete, da waren wir wie Träumende. Da füllte sich unser Mund mit Lachen und unsere Zunge mit Jubel. Da sagte man unter den Völkern: Groß hat der Herr an ihnen gehandelt, ja groß hat der Herr an ihnen gehandelt, da waren wir voll Freude.“ (Psalm 126, 1-3). Diese befreiende Erfahrung, die mit so viel Hoffnung auf eine endgültige Friedensordnung verbunden war, ist zerbrochen. „Wende doch, Herr, unser Geschick“ steht unmittelbar im Anschluss an die gerade zitierten Verse des Psalms 126. Enttäuschte Hoffnungen gehören offensichtlich zur menschlichen Lebenserfahrung. Mich erschüttert zusätzlich, dass der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche diesen Krieg bedingungslos rechtfertigt. Mir wird deutlich, wie wichtig es ist, dass unsere römisch-katholische Kirche eine weltweite Kirche ist. Wir sind nicht nur in einer Nation zuhause. Es gibt keine deutsche katholische Kirche. Wir sind katholische Kirche in Deutschland. Das verhindert nationale Irrwege und Alleingänge und es verhindert, dass die Kirche an die Mächtigen ausgeliefert ist. Das haben diejenigen unter Ihnen, die die SED-Diktatur miterlitten haben, in lebendiger Erinnerung. Auf dem Synodalen Weg, auf den sich die katholische Kirche in Deutschland gemacht hat, wird diese Einbindung in die Weltkirche oft als Hindernis oder gar Fessel empfunden. Für mich ist sie ein wichtiger Anker, der nicht gekappt werden darf, auch wenn wir nicht alles verwirklichen können, was eine Mehrheit der katholischen Bischöfe und der katholischen Gläubigen wünschen.

„Wende doch, Herr, unser Geschick“
Durch den Ukraine-Krieg ist eine Bedrohung der Menschheit etwas in den Hintergrund gedrängt worden, deren Dringlichkeit aber nach wie vor steht, ja deren Dringlichkeit durch den Angriff Russlands auf die Ukraine vermutlich gesteigert werden wird: Die Klima-Krise wird katastrophale Folgen haben, wenn nicht energisch gegengesteuert wird. Junge Menschen sehen diese Dringlichkeit deutlicher als ältere Menschen. Es sind ja keine lärmenden Spaßveranstaltungen, die die jungen Menschen organisieren, sondern es ist der Ausdruck einer tiefsitzenden und berechtigten Zukunftsangst. Jede und Jeder muss mithelfen, damit die herannahende Katastrophe aufgehalten werden kann, auch wenn es Geld kostet oder Einschränkungen bedeutet. Kritischer Konsum, kritischer Blick auf Heizungstechniken und Mobilitätsformen oder Unterstützung der Natur in Gartenbau und Landwirtschaft sind für uns Christen göttlicher Auftrag. Die Kirchengemeinden sind durch das Projekt „öko+fair vor Ort“ aufgerufen, das Ihre dazu beizutragen. Zudem sind viele von Ihnen Handwerker oder haben einen technischen Beruf, in dem sie zu intelligenten technischen Lösungen beitragen können. Der Schöpfergott hat uns die Erde nicht anvertraut, damit wir sie ausbeuten, sondern damit wir sie hegen und pflegen.

„Wende doch Herr unser Geschick“
Das bete ich auch für unsere Kirche. In den Psalmen sind viele solcher Gebetsrufe überliefert, in denen das Volk Gottes um die Aufmerksamkeit und das Eingreifen Gottes fleht. Nicht nur die Menschen außerhalb der Kirche, sondern auch wir sind entsetzt über das, was wir über sexualisierte Gewalt an Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen in unserer Kirche hören müssen und auch darüber, wie die Verantwortlichen mit Beschuldigungen umgegangen sind. Immer wieder kommen zum Teil lange zurück liegende Fälle an die Öffentlichkeit und verstärken das Entsetzen. 3-5% der Priester sind schuldig geworden. Nicht nur in Deutschland, sondern vermutlich überall. Dazu kann ich nichts Beschönigendes sagen. Das Leid der Betroffenen darf uns nicht kalt lassen. Auch wenn immer neue Enthüllungen schmerzen und viele mutlos zurücklassen: Wir gehen den Weg der Aufarbeitung und der Prävention weiter. Auch wenn es in der Öffentlichkeit nicht so aussieht, setzen wir mittlerweile Standards. Als einzige Institution in unserem Land haben wir eine klare Ordnung, wie mit Beschuldigungen umgegangen wird. In allen Diözesen gibt es Beratungsgremien, in denen Fachleute das Vorgehen begleiten. Es gibt keine andere Institution in unserem Land, die nach einer festen Ordnung Betroffenen sexualisierter Gewalt Geldleistung zur Anerkennung des erlittenen Leides gewährt, auch wenn der Täter verstorben ist. Keine Institution in unserem Land ist auf dem Gebiet der Prävention sexualisierter Gewalt so weit wie wir. Auch in unserem Bistum gibt es eine Kommission, die unabhängig von bischöflichen Weisungen das Geschehen aufzuarbeiten versucht, soweit das möglich ist. Wir leisten Pionierarbeit. Deswegen müssen auf diesem Weg Maßnahmen immer wieder einmal korrigiert werden. Hoffentlich wird immer mehr wahrgenommen, was wir in unserer katholischen Kirche gegen dieses Übel und für die davon Betroffenen tun.

„Wende doch Herr unser Geschick“
Die Krise der Kirche in unserem Land ist nicht nur durch den Missbrauchs- und Vertuschungsskandal begründet, sondern auch durch eine Glaubenskrise. Umso mehr freue ich mich, dass Sie sich heute auf den Weg gemacht haben ins Klüschen Hagis. Mir ist bewusst geworden, dass für die meisten von Ihnen die Wallfahrt zum Klüschen Hagis am Christi-Himmelfahrts-Tag ein wichtiger Ausdruck Ihrer persönlichen Identität ist – als Mann, als Katholik, als Eichsfelder. Wer zu einer Wallfahrt aufbricht, bringt die Sorgen seines persönlichen Lebens und der Welt, in der wir leben, mit.

„Wende doch Herr unser Geschick“
Solche und ähnliche Gebete prägen jede Wallfahrt. Die Wallfahrt ist aber auch eine wichtige Vergewisserung dafür, dass wir als katholische Christen nicht alleine sind, sondern dass der katholische Glaube für viele Männer eine wichtige Grundlage ihres Lebens und ihrer Identität ist. Für die Eichsfelder ist diese Wallfahrt auch ein Ausdruck ihrer Identität als Eichsfelder und gerne nehmen Katholiken aus der Diaspora daran teil und spüren die Kraft, die von dieser Gemeinschaft ausgeht. Es ist ja nicht nur die Gemeinschaft unter uns hier, sondern es ist auch die Gemeinschaft mit dem Dreifaltigen Gott. Der auferstandene Herr Jesus Christus hat sich ja am Himmelfahrtstag nicht von uns verabschiedet. Er hat uns den Heiligen Geist versprochen, dessen Ankunft wir an Pfingsten feiern und im Heiligen Geist schenkt er uns lebendige Gemeinschaft. Die Wände des Abendmahlssaales fallen weg und wir bilden hier bei der Feier der Heiligen Messe eine große Tischgemeinschaft mit unserem Herrn Jesus Christus, der unser Leben trägt und hält, komme, was da wolle. Das ist der tiefe und innere Kern unseres christlichen Glaubens, den wir unserer Kirche zu verdanken haben. Feiern wir in diesem Geist jetzt miteinander die Heilige Messe.