Was kann die Politik von der Kirche erwarten?

Ansprache von Bischof Joachim Wanke beim Elisabethempfang des Bistums Erfurt 2010

 

[...] Vielleicht werde ich heute Ihre Erwartungen an meine Ansprache zum Elisabethempfang enttäuschen, denn ich möchte nicht der Frage nachgehen:

    Was erwartet der Bischof oder die Katholische Kirche in Thüringen von der Politik?,

sondern ich möchte heute einmal umgekehrt in die andere Richtung fragen:

    Was kann die Politik, was kann unser Gemeinwesen, von der Kirche erwarten?

Dazu möchte ich im Folgenden vier Thesen nachgehen.


Erste These: "Keine Verfassung garantiert sich selbst."

Dieser Satz von Joseph Eichendorff im Kontext des Hambacher Festes markiert in der Demokratie- und Freiheitsgeschichte die Ergänzungsbedürftigkeit eines sich zunehmend weltanschaulich neutral verstehenden Staates. Er braucht die "öffentliche Gesinnung", es bedarf ethischer Voraussetzungen, damit eine freiheitliche Ordnung Akzeptanz und Raum gewinnen kann. In diesem Sinne ist das Wort von Eichendorff auch als ein Signal an die Kirchen zu verstehen, sich um diesen Staat zu "kümmern".

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat dies 150 Jahre später bekanntlich so formuliert: "Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, über die er selbst nicht verfügen, die er nicht aus eigener Kraft sichern kann.", oder anders formuliert: Demokratie und Freiheit brauchen außerstaatliche Quellen der Freiheits- und Demokratiefähigkeit.

"Der Freiheitsgedanke trennt den freiheitsverpflichteten Staat von der freiheitsberechtigten Gesellschaft. Er versagt dem Staat, die religiösen Fragen zu stellen und ist deshalb darauf angelegt, dass andere Institutionen -  die Kirchen - auf diese Fragen in einer erprobten und stets erneuerten Kulturtradition antworten." (so Paul Kirchhof). Das ist freilich eine hoher Anspruch, den es beherzt anzunehmen gilt.
Auch wenn mit der Aufklärung zunächst anstelle der Religion die Vernunft gestellt wurde, wissen wir heute, dass Glaube und Vernunft keine Gegensätze sind und einander bedürfen. Angesichts der aktuellen Laizismusdiskussion in manchen Parteien behaupte ich einmal: Sowohl der Laizismus als auch der Fundamentalismus verhindern einen fruchtbaren Dialog.

Jürgen Habermas schloss vor einigen Jahren seine vielbeachtete Diskussion mit Kardinal Ratzinger angesichts der Tatsache, dass sich die Gesellschaft wohl oder übel auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften einstellen muss, mit den Worten: "Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen."

Grundgesetz und Landesverfassung - ich erinnere an den Jubiläumstagtag der Thüringer Verfassung und des Landtags im Deutschen Nationaltheater Weimar - stellen zu Recht die Würde des Menschen als einen zur Freiheit befähigten Menschen an den Anfang. Und für die Begründung der Unantastbarkeit der Menschenwürde ist das christliche Menschenbild mit der Gottebenbildlichkeit und der Menschwerdung Gottes unverzichtbar. Dafür steht bekanntlich der Gottesbezug in der Präambel unserer Verfassung

An diesen Fundament, an diesen Wurzeln, die nach wie vor das vereinte Europa prägen, sollten wir selbstbewusst, aber auch dialogbereit mit anderen Kulturen und Religionen, festhalten. Wir wissen ja: Einem echten Dialog geht eine Vergewisserung über die eigene Position voraus. Darum mühen wir uns im Bistum, etwa wenn wir derzeit das pastorale Leitthema bearbeiten: "Mit dem Himmel beschenkt". Christen wissen einfach: Wir sind reicher, als unser Kontostand ausweist. (Ob das die Finanzministerin auch weiß?)


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich wiederhole bewusst an dieser Stelle, was ich bei der Feier des Tages der Einheit am 3.Oktober im Erfurter Theater gesagt hatte:
Die Freiheit, die uns vor 20 Jahren neu eröffnet wurde, ist kein Selbstzweck. Sie soll die Würde des Menschen achten, der Gerechtigkeit aufhelfen, die gegenseitige Solidarität befördern, zu einem innovativen Denken und verantwortlichen Handeln Mut machen und die Angst vor der Zukunft klein halten. Und ich füge als Bischof hinzu: Sie soll der Barmherzigkeit Raum geben, ohne die selbst die perfekteste Gesellschaft nicht menschlich bleiben kann.


Zweite These: Staat und Kirche sind je auf ihrem Gebiet autonom, beide aber dienen dem gleichen Menschen und sollten daher zusammenwirken, d. h. Kirche begegnet dem Staat in Eigenständigkeit und freiheitlicher Kooperation

Diese durch das II. Vatikanische Konzil getroffene Aussage findet ihre verfassungsrechtliche Entsprechung in den Artikeln der Weimarer Reichsverfassung, die bekanntlich in unser Grundgesetz und in unsere Landesverfassung inkorporiert wurden. Ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen Staat und Kirche schließt sowohl eine Staatskirche als auch einen durch absolute Trennung geprägten Laizismus aus. Die Autonomie der Kirche sichert ihre Unabhängigkeit vom Staat, berücksichtigt aber auch ihre Mitverantwortung für den Menschen. Vielleicht könnte das Bild von freien Nachbarn, die sich gegenseitig nicht gleichgültig sind, dieses Verhältnis zueinander gut auf den Punkt bringen.

Die Kooperation zwischen Staat und Kirche in Thüringen hat sich seit 1990 unter Wahrung der Eigenständigkeit der Partner kontinuierlich und nachhaltig entwickelt. Das Zusammenarbeiten von Staat und Kirche fand nicht nur seinen Niederschlag in Verfassungs- oder Vertragstexten , sondern eröffnete konkrete Lebensfelder für die Menschen in Thüringen über die Kirchenmitgliedschaft hinaus. So bedeutet Dienst am gleichen Menschen, etwa durch

·    Kooperation im Bildungsbereich, d. h.:

-    Religionsunterricht an Schulen als ordentliches Lehrfach
-    Errichtung kirchlicher Schulen und deren angemessene Förderung (ich komme auf diesen Punkt noch einmal zu sprechen)
-    Anerkennung und Förderung kirchlicher Kindertagesstättenbetreuung
-    Möglichkeit geförderter kirchlicher Erwachsenen- und Familienbildung
-    Beitrag der Katholisch-Theologischen Fakultät zur staatlichen Lehrerausbildung

·    (durch) Kooperation im Sozialbereich, d. h.:

-    Unterstützung kirchlicher sozialer Einrichtungen der Caritas wie Krankenhäuser, Seniorenheime, Behinderteneinrichtungen und Beratungsdienste

Oder

·    (durch) Kooperationen in besonderen Bereichen der Seelsorge, wie:
-    Seelsorge im Strafvollzug oder in der Bundeswehr oder bei der Polizei.

Die gemeinsame Ausgestaltung all dieser Bereiche in je eigner Verantwortung ist meines Erachtens im Sinne der Betroffenen gut gelungen und bereichert nicht zuletzt unser Gemeinwesen. Dank an dieser Stelle dem "Nachbarn" (Staat), um im oben genannten Bild zu bleiben.

Allerdings gilt bezüglich der sozial-caritativen Dienste der Kirche sich immer wieder vor Augen zu halten: Kirchen mit ihrer Diakonie und Caritas können in der Öffentlichkeit nicht auf ihre gesellschaftliche Nützlichkeit reduziert werden und quasi wie ein "sozialer Reparaturbetrieb" der Gesellschaft betrachtet werden. Darüber hinaus kann die Notwendigkeit und die Wahrnehmung dieses Dienstes nicht allein von einer staatlichen oder kommunalen Förderung abhängig gemacht werden. Der Option für die Schwachen und die Bedürftigen der Gesellschaft geht die Frage nach der Finanzierung bzw. der praktischen Umsetzung voraus. Hier sind in Zukunft neue Wege gefragt; ich nenne nur das Stichwort Ehrenamt (mit unserem im Bistum Erfurt gegründeten Ehrenamtskolleg wollen auch wir neue Wege eröffnen).

Gestatten Sie mir an dieser Stelle noch eine Anmerkung zu einer aktuellen Diskussion, die u. a. durch die Rede des Bundespräsidenten zur Feier der Deutschen Einheit ausgelöst wurde.
Staatliche Förderung von Religion und Kirche im weiteren Sinne (hier geht es nicht nur um Finanzen) folgt in der Regel einem Maßstab, nämlich der "Gemeinschaftserheblichkeit" kirchlicher Tätigkeit, wie es Paul Kirchhof einmal genannt hat. Er führt - etwas zugespitzt - weiter aus:

"Unterstützt der Staat die Kirche institutionell ..., darf er ... nicht kulturblind sein und in einer multireligiösen Offenheit die Gleichrangigkeit aller Kulturen in ihrer Bedeutung für Deutschland behaupten. Eine solche Beurteilungsschwäche drückt eher ein Desinteresse für das Religiöse oder aber eine Unsicherheit, eine Ängstlichkeit im Umgang mit dem Religiösen aus." (Soweit Paul Kirchhof.)

Um nicht missverstanden zu werden: Ich begrüße sehr, dass durch die Integrationsdebatte das Nachdenken über das Ziel gelingender Beheimatung von Menschen anderer Kulturen und Religionen neu belebt wird. Aber Integration bedeutet nicht Gleichmacherei. Und noch weniger: Profillosigkeit.


Dritte These: Kirche nimmt das Recht in Anspruch, auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person es verlangen

Damit dieser Anspruch, formuliert durch das II. Vatikanische Konzil, in rechter Weise erfüllt werden kann, sind kirchlicherseits einige Voraussetzungen notwendig: Bereitschaft zum Dialog in geeigneten Strukturen, eine kontinuierliche Gesprächskultur zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft, Sachkompetenz und eine gesamtgesellschaftliche über den binnenkirchlichen Bereich hinaus gehende Wahrnehmungsfähigkeit.

Inzwischen sind regelmäßige Gespräche mit politisch Verantwortlichen, Arbeitsgespräche mit Ämtern und Ministerien aber auch der Austausch mit Vertretern der Gewerkschaft und der Wirtschaft zum Alltag geworden. Kirchen werden bei Gesetzgebungsverfahren sowohl durch Ministerien als auch durch das Parlament angehört. Hier findet auch ein Diskurs über wertebezogene Grundfragen unseres Gemeinwesens statt. Jedoch die Pluralisierung der Lebensentwürfe und Wertorientierungen macht einen Konsens über grundlegende Fragen zwischen Staat und Kirche keineswegs selbstverständlich. Grundsätzliche Ansichten (beispielsweise zur Präimplantationsdiagnostik oder zur Familienpolitik) können da schon auseinander liegen. Um die jeweils andere Seite zu kennen und zu verstehen sind zunehmend wechselseitige Selbsterklärung und Neuentdeckung notwendig.

Wenn die Kirche dem Staat begegnet, so können das einerseits Hilfe und Begleitung sein, aber andererseits auch Warnung und Widerspruch, wo dies nötig ist. Kirche unterstellt politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung, wenn Schwache in der Gesellschaft keine Stimme haben, wenn es um Krieg und Frieden geht, wenn es um die Erziehung und Bildung der Kinder geht, wenn es um Armut und Reichtum geht, wenn der Schutz des Lebens - besonders am Anfang und am Ende - betroffen ist oder wenn die Verantwortung für die nachwachsenden Generationen auf dem Prüfstand steht.

In diesem Zusammenhang sehe ich (auch in diesem Jahr) mit Sorge auf die Finanzsituation der öffentlichen Haushalte. Weitere Kredite erhöhen auch in Thüringen die derzeitige Verschuldung auf das bald zweifache des Landeshaushaltes. Ich weiß, es ist einfach für einen Bischof, auf nachhaltige Finanzentscheidungen aufmerksam zu machen, ohne das Anliegen umsetzen zu müssen. Ich möchte auch alle Bemühungen und Ansätze anerkennen.
Wir werden auch uns als Kirche betreffende Kürzungen dann mittragen - etwa bei den freien Schulen - wenn der Grundsatz der Gleichbehandlung von staatlichen und freien Schulen zugrunde gelegt wird. Wenn gesetzliche Rahmenbedingungen von Kontinuität, Berechenbarkeit und Transparenz ausgehen, haben Sie uns auf ihrer Seite. Ich hoffe, dass durch die gestrige Anhörung und die weiteren parlamentarischen Beratungen eine doppelte Kürzung der Finanzhilfe verhindert werden kann.

In diesem Zusammenhang hoffe ich auch, dass bald die vorgesehenen Erleichterungen für Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge greifen sowie mit dem Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit die Auseinandersetzung mit dem Extremismus wirksam unterstützt werden kann.


Vierte These: Kirchen wollen nicht selbst Politik machen; sie wollen Politik möglich machen

Kirche ist keine politische Partei und auch nicht an eine bestimmte Partei gebunden. Es besteht zunächst eine Äquidistanz zu den verschiedenen Parteien in einer Demokratie. Sie misst natürlich die Parteiprogramme aus ihrem Selbstverständnis heraus, etwa im Blick auf die christliche Soziallehre, auf deren Bild vom Menschen und den damit verbundenen Wertvorstellungen. Die Kirche strebt keine politische Macht an, um ein bestimmtes Programm zu verwirklichen. Kirche wird niemals zur politischen Gesetzgeberin werden können, sie kann und soll jedoch Zumutungen an den Gesetzgeber herantragen. Wenn ich es richtig sehe, haben wir Sie mit solchen Zumutungen auch nicht verschont.

Der Auftrag der Kirche im öffentlichen Diskurs liegt darin, für eine Wertorientierung einzutreten, die dem Gemeinwohl dient. Handlungsfähigkeit der Politik wird in der Demokratie entscheidend durch Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürger bestimmt. Der kirchliche Beitrag ist um so erfolgreicher je mehr es gelingt, wertebezogene Einstellungen und Verhaltensweisen Grund zu legen. Das wird um so besser gelingen, je entschiedener der Einzelne bereit ist, selbst politische Verantwortung zu übernehmen. Dies kann nur in einer Atmosphäre der Wertschätzung der Demokratie gelingen. Hier tragen auch die Kirchen eine hohe Verantwortung, denn ein Rückzug ins Private bleibt für ein Gemeinwesen nicht ohne Folgen.

Politik möglich machen heißt für die Kirchen aber auch, aus dem Glauben heraus Orientierung zu geben im Sinne von Gewissensbildung, um Urteilskraft und personale Verantwortung zu stärken. Diese Horizonterweiterung ermöglicht einen konkreten Dienst am Menschen und am Gemeinwohl, der sich an den Erfordernissen des Guten orientiert, d. h. all das, was dem Leben dient und die Kunst eines verantwortlichen Lebens vermittelt.

Sehr geehrte Damen und Herren,

es wird in Zukunft für die Kirche (auch im Verhältnis zum Staat) darauf ankommen, demütig und selbstbewusst in einem theologischen Horizont ohne falsche Anpassungen Profil zu zeigen. Ihr Programm ist und bleibt die Verkündigung der Frohen Botschaft.

Wenn für unsere Kirche der Konzilstext gilt: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.", dann, sehr geehrte Damen und Herren, dann ist mir um die Zukunft nicht bang.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld und lade Sie im Anschluss ganz herzlich zu Begegnung, Gespräch und leiblicher Stärkung in das gegenüberliegende Martinshaus ein.


Ansprache gehalten beim Elisabethempfang für Thüringer Politiker am 18.11.2010 in der Erfurter Brunnenkirche.