Was ist Wahrheit? (Joh 18,38)

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr am Karfreitag, 15. April 2022

Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,

der Kreuzestod Jesu ist das Ende eines Konflikts.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine und seine furchtbaren Folgen haben auf erschreckende Weise gezeigt, wie schwer es ist, Konflikte zu lösen, ohne dass einer den anderen besiegt. Es kommt dann nicht mehr darauf an, was der bessere Weg ist oder was der Wahrheit entspricht, sondern nur noch, wer der Stärkere ist.

Bei der Passion Jesu waren dies die religiösen Führer seiner Zeit und die römische Staatsmacht. In diesen Konflikt wird ein Mann hineingezogen, der die Möglichkeit und die Macht hat, die übliche Konfliktlösungsstrategie zu durchbrechen: Pontius Pilatus, der immerhin nach fast 2.000 Jahren im Glaubensbekenntnis der Christen namentlich erwähnt wird.

In der Johannes-Passion, die am Karfreitag verkündet wird, wird sein inneres Ringen besonders deutlich dargestellt. Da der Hohepriester Kajaphas und seine Leute das römische Prätorium nicht betreten wollten, um nicht kurz vor dem Pessach-Fest unrein zu werden, ging Pilatus vier Mal zu ihnen hinaus. Er war auch körperlich unruhig und unterwegs von drinnen nach draußen. Zunächst fragte er nach dem Grund der Anklage gegen Jesus und sprach dann mit Jesus darüber. Dann ging er wieder hinaus, um mitzuteilen, dass er keine Schuld an Jesus gefunden habe und ihn freizulassen gedenke. Im Prätorium ließ er dann Jesus geißeln – besser wäre Ausspruch foltern – um ihn nicht ganz straffrei davonkommen zu lassen. Dann ging er wieder mit dem blutüberströmten, gefolterten Jesus vor das Prätorium: „Ecce homo! Seht der Mensch!“ Mit diesen Worten stellte er ihn vor. Er versuchte, die Ausführung der Todesstrafe dem Hohepriester zu überlassen, der dazu aber nicht befugt war. Wieder ging Pilatus unruhig ins Prätorium hinein, um noch einmal mit Jesus zu sprechen. Von draußen hörte er dabei die Schreierei: „Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers!“ (Johannes 19,12) Dann ging er nochmals hinaus auf den Richterstuhl, um das Urteil der Todesstrafe zu sprechen. Pontius Pilatus stand in einer äußerst beunruhigenden Spannung zwischen dem Geschrei der Volksmenge vor seinem Amtssitz und dem Gespräch mit Jesus im Inneren des Hauses. So wie er innerlich auf der Suche nach einer Lösung war, so war er äußerlich unterwegs zwischen drinnen und draußen.

Im Zentrum dieser enormen Spannung fällt der entscheidende Satz: „Was ist Wahrheit?“ (Johannes 18,38). Zu Recht ist diese Frage als Pilatus-Frage berühmt geworden. Pontius Pilatus scheint ein Skeptiker gewesen zu sein, der bestreitet, dass es überhaupt eine Wahrheit gibt im Sinne der Definition von Wahrheit, wie sie der verstorbene Münsteraner Philosoph Josef Pieper vorgeschlagen hat: „Wahrheit bedeutet das Offenbarsein und Sich-Zeigen der wirklichen Dinge.“ Ob es solche wirklichen Dinge wirklich gibt und ob der Mensch fähig ist, sie zu erkennen, wurde und wird immer wieder bestritten. In der heutigen akademischen Diskussion, in der die Biologie immer mehr zur Leitwissenschaft wird, kann Wahrheit auch als zerebraler Vorgang verstanden werden. Wer bezweifelt, ob es überhaupt eine Wahrheit an sich gibt, für den ist der Satz Jesu, dass er für die Wahrheit Zeugnis ablegt, unverständlich oder ärgerlich.

Friedrich Nietzsche schreibt im „Antichrist“: „Im ganzen Neuen Testament gibt es nur eine ehrenhafte Figur: Pilatus, der römisch Regierende. Die noble Ironie eines Römers, vor dem ein unverschämter Missbrauch des Wortes Wahrheit stattfand, hat das Neue Testament mit der einzigen Phrase bereichert, die einen strikten und gut abgegrenzten Wert hat, denn es ist seine Kritik und man könnte fast sagen seine Vernichtung: Was ist Wahrheit?“

Nun ist die Frage über die Wahrheit Gottes, der Welt und des Menschen keine rein akademische Frage. Sie hat unmittelbare Bezüge zum konkreten Verhalten des Einzelnen und zur Gestaltung der Gesellschaft. Daher muss die Frage nach der Wahrheit hinter den Dingen erörtert werden, um Wege aus Konflikten zu finden.

Der Ukrainekrieg hätte niemals stattfinden dürfen, denn alle Beteiligten bekennen sich zum Christentum und stehen für christliche Werte ein. Trotzdem führen sie Krieg gegeneinander. Sie haben andere Wahrheiten als die der christlichen Religion. Auch Pontius Pilatus hatte eine Wahrheit. Seine Frage „Was ist Wahrheit?“ kann beantwortet werden: Seine Wahrheit war seine Karriere. Ausschlaggebend für seine Entscheidung war das Geschrei der Menschen: „Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers“ (Johannes 19,12). Über Pontius Pilatus sagte der heilige Papst Johannes Paul II. in seiner Betrachtung am Karfreitag des Jahres 2000: „Der Mensch, der sich nicht von der Wahrheit leiten lässt, ist sogar bereit, einen Unschuldigen schuldig zu sprechen.“