Warum sonntags in die Kirche gehen?

Fastenhirtenbrief 2023 von Bischof Ulrich Neymeyr

Liebe Mitchristen,
in einem Brief, den ich am 14. März 2020 an Sie geschrieben habe, musste ich Ihnen mitteilen, dass wir wegen der Infektionsschutzmaßnahmen vorerst keine gemeinsamen Gottesdienste feiern können und dass für die Gläubigen die Sonntagspflicht vorerst ausgesetzt ist. Viele, die das gelesen haben, waren erstaunt, dass es eine solche Sonntagspflicht überhaupt gibt.

Wer sonntags den Gottesdienst mitfeiert, tut dies auch nicht, um eine Pflicht zu erfüllen, vielmehr sind die Gründe vielfältig. Das wissen Sie, die Sie meinen Fastenhirtenbrief hören, am besten. Denn Sie sind ja zum Gottesdienst gekommen. Manche kommen aus guter Gewohnheit, weil die Kirche für sie zum Sonntag gehört und die digitalen Angebote das nicht ersetzen konnten. Viele möchten den Leib Christi empfangen, was mit Ausnahme der Krankenkommunion nur im Gottesdienst in der Kirche möglich ist.

Andere freuen sich auf die Kirchenlieder oder darauf, gleichgesinnte Bekannte zu treffen. Manche kommen zur Kirche, weil sie das Haus Gottes für die Menschen ist und sie dort am besten beten können. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.

Jesus Christus hat einer Gemeinschaft von Gläubigen seine Gegenwart versprochen. Nur wenn wir zusammenkommen, können wir uns auch gegenseitig im Glauben bestärken. Und wenn der Glaube an Jesus Christus nicht wenigstens einmal in der Woche auch konkret im Leben vorkommt durch den Gang zur Kirche, rutscht er an den Rand des Lebens, weil es genügend andere Dinge gibt, die uns beschäftigen oder ablenken.

Schon im zweiten Jahrhundert nach Christus beschreibt der Heilige Justin die Sonntagsmesse:

„An dem Tag, den man Sonntag nennt, findet eine Versammlung aller statt, die in Städten oder auf dem Land wohnen; dabei werden die Denkwürdigkeiten der Apostel oder die Schriften der Propheten vorgelesen, solange es angeht. Hat der Vorleser aufgehört, so gibt der Vorsteher in einer Ansprache eine Ermahnung und Aufforderung zur Nachahmung all dieses Guten. Darauf erheben wir uns alle zusammen und senden Gebete empor. (…) Wenn wir mit dem Gebet zu Ende sind, werden Brot, Wein und Wasser herbeigeholt, der Vorsteher spricht Gebete und Danksagungen mit aller Kraft, und das Volk stimmt ein, indem es das Amen sagt. Darauf findet die Ausspendung statt, jeder erhält seinen Teil von dem Konsekrierten; den Abwesenden aber wird er durch die Diakone gebracht. Wer aber die Mittel und guten Willen hat, gibt nach seinem Ermessen, was er will, und das, was da zusammenkommt, wird bei dem Vorsteher hinterlegt; dieser kommt damit Waisen und Witwen zu Hilfe, solchen, die wegen Krankheit oder aus sonst einem Grunde bedürftig sind, den Gefangenen und den Fremdlingen, die in der Gemeinde sind.“
(Justin der Märtyrer, Erste Apologie, Kap. 67; Bibliothek der Kirchenväter, Reihe 1, Band 12) Soweit der Heilige Justin.

Es ist das große Verdienst der Kirche, dass sie das Geschenk der Heiligen Eucharistie durch zwei Jahrtausende bewahrt hat. Es gab und gibt verschiedene Formen und Riten für die Feier der Heiligen Messe. Es haben sich verschiedene Dienste entwickelt und auch das Amt des Vorstehers und seiner Ordination hat sich gewandelt. Das Wesen der Eucharistie wurde immer tiefer entdeckt. Der große Theologe Thomas von Aquin hat das Geheimnis der Eucharistie nicht nur tief erfasst, sondern auch betend besungen:

Gottheit tief verborgen, betend nah ich dir.
Unter diesen Zeichen bist du wahrhaft hier.
Sieh, mit ganzem Herzen schenk ich dir mich hin,
weil vor solchem Wunder ich nur Armut bin.

Daher sollte für uns katholische Christen der wichtigste Beweggrund für den Gang zur Kirche der Empfang der Heiligen Kommunion sein. Jesus offenbart uns, dass er auch für uns seinen Leib hingegeben und sein Blut vergossen hat. Er bezieht uns ein in seine Liebe, die im Kreuzesopfer gipfelt. Diese seine Liebe wird uns nicht nur spirituell, geistlich zuteil, sondern auch leibhaftig, wirklich. Dieser eucharistische Glaube ist die intensivste Einladung zur Mitfeier des Sonntagsgottesdienstes und zum Empfang der Heiligen Kommunion.

Wie ich höre, kommen in vielen Kirchen nach dem Ende der Infektionsschutzmaßnahmen weniger Gläubige zum Gottesdienst. Da ist auch Ihr Glaubenszeugnis gefragt, die sie jetzt in der Kirche sind. Erzählen Sie anderen, warum Sie zum Gottesdienst gehen, was Ihnen das bedeutet. Laden Sie diejenigen ein, die vor der Pandemie gekommen sind.

Vielleicht hilft ein Gedanke von Bischof Hugo Aufderbeck, den er vor 60 Jahren gesagt hat, um zu den Wortgottesfeiern einzuladen, die damals Stationsgottesdienste hießen:

„Wovon lebt die Gemeinde? Ich will ein wenig provozieren. Sie lebt nicht in erster Linie von der Existenz und dem Dasein des Priesters, denn wenn das der Fall wäre, gäbe es im Laufe der Kirchengeschichte Zeiten, wo die Kirche ausgestorben wäre, weil die Priester nicht da waren. Sie lebt offenbar zu allererst von der sonntäglichen Versammlung. Ich denke mir das ungefähr wie bei einer Überlandleitung. Sie braucht bestimmte Pfeiler, damit sie keine Erdberührung bekommt und kein Strom verlorengeht. Wenn drei oder vier ausfallen, hängt die Leitung und was dann passiert ist klar.“

Ich weiß, dass die katholische Kirche in unserem Land in den letzten Jahren erheblich an Vertrauen verloren hat. Das wird Sie vermutlich auch bewegen, auch wenn Sie – Gott sei Dank! – nicht aufhören, zur Kirche zu kommen. Über den richtigen Weg der katholischen Kirche in die Zukunft wird hart gerungen. Es gibt dazu ganz verschiedene Vorstellungen. Mit einem weltweiten synodalen Prozess will Papst Franziskus die Kirche auf einem gemeinsamen Weg führen. Das erfordert Zuhören, Beten und Geduld und die Bereitschaft, seine Meinung zu ändern. Was die Kirche gegen das Übel sexualisierter Gewalt tut, wird leider in der Öffentlichkeit nicht genügend zur Kenntnis genommen. Ich möchte in diesem Fastenhirtenbrief nicht weiter darüber sprechen.

Wir alle müssen gegen die Sünden und gegen schlechte Gewohnheiten ankämpfen. Die Fastenzeit ist auch eine Bußzeit, die uns mahnt, auch die dunklen Seiten unseres Lebens wahrzunehmen und vor Gott hinzuhalten, damit er uns heilt. Vor den Menschen können wir unsere Schattenseiten verbergen wie der Mond, vor Gott nicht. Meinungsverschiedenheiten und Streitereien gibt es überall, auch in der Kirche und in unserem persönlichen Leben. Überall erfordern sie Zuhören, Beten und Geduld und die Bereitschaft, unsere Meinung zu ändern. Und die Fastenzeit ist eine Zeit, in der wir unsere guten Gewohnheiten pflegen, auch die gute Gewohnheit, sonntags den Gottesdienst mitzufeiern.

Am Ende dieses Briefes kann ich schreiben, dass das Corona-Virus so weit bekämpft ist, dass keine Infektionsschutzmaßnahmen für unsere Gottesdienste mehr nötig sind. Damit entfällt der Grund, die Sonntagspflicht auszusetzen. „Pflicht“ und „Pflegen“ haben sprachlich dieselbe Wurzel. Pflegen wir die Gewohnheit, uns sonntags zum Gottesdienst zu versammeln, unserem Herrn Jesus Christus im Sakrament der Eucharistie zu begegnen und unseren Glauben gemeinsam zu feiern.

Ich danke allen, die dafür sorgen, dass das möglich ist: Besonders den Priestern, den Diakonen und denen, die Wortgottesfeiern leiten, und allen, die liturgische Dienste übernehmen. Erlauben Sie mir, besonders den Messdienerinnen und Messdienern zu danken, die ich im letzten Jahr bei zwei Assisiwallfahrten begleitet habe. Ich danke auch den Küsterinnen und Küstern sowie den Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern und all den vielen, die sich um die Kirchengebäude und ihre würdige Ausstattung kümmern.
Ich danke auch allen, die dafür Sorge getragen haben, dass die Infektionsschutzmaßnahmen eingehalten wurden. Wir können jetzt voll Dankbarkeit sagen, dass von unseren Gottesdiensten keine Infektionen ausgegangen sind. Ein besonderer Dank gebührt dafür auch Herrn Generalvikar Beck, der die Infektionsschutzkonzepte erarbeitet und ständig aktualisiert hat.

Es segne Sie alle der allmächtige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.

Ihr Bischof Ulrich Neymeyr