Gehalten am 19. November 2003 in der Erfurter Bildungsstätte St. Martin
Heute, am Festtag der Heiligen Elisabeth heiße ich Sie alle ganz herzlich willkommen. Ich freue mich immer wieder auf die alljährliche Begegnung mit Ihnen, die Gelegenheit zu Austausch und Gespräch bietet. Aus einem offenen und kontinuierlichen Dialog erwächst gegenseitiges Vertrauen und Verständnis füreinander; wir brauchen nicht übereinander, sondern wir können miteinander sprechen.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich verstehe unsere Begegnung meinerseits vor allem als ein Zeichen des Dankes und der Ermutigung. Wenn ich im letzten Jahr beim Elisabethempfang gesagt habe: "Der Dienst in öffentlich-politischer Verantwortung ist ohne Zweifel schwieriger geworden und verdient überall dort, wo er gewissenhaft wahrgenommen wird, Respekt", dann suche ich in der jetzigen Situation nach einer Steigerungsform für eine zutreffende Beschreibung der Bürde und Last Ihres gegenwärtigen Dienstes in den verschiedenen parlamentarischen und ministerialen Ebenen: Steuermindereinnahmen; Haushaltslöcher; Nachtragshaushalte, Neuverschuldung, Reformkommissionen wie Hartz, Rürup, Herzog, Kirchhoff, Merz oder Koch-Steinbrück mit kurzfristiger aber auch langfristiger Aufgabenstellung und schließlich Gesetzentwürfe im Buchformat . . .
Es ist wahrlich schwer, einen Ü;berblick zu behalten, geschweige denn, die Dinge zu gewichten und zu bewerten.
Seit Jahren wird über Reformen in unserer Gesellschaft diskutiert. Ich würdige ausdrücklich das derzeitige Bemühen der Parteien, zu tragfähigen und nachhaltigen Lösungen zu gelangen, ja, möglichst die Sozialreformen parteiübergreifend anzugehen.
Daher appelliere ich im Sinne unseres Gemeinwohls an alle Verantwortlichen in der Politik und in den Interessenvertretungen sowie an den einzelnen Bürger, das Wissen um die Notwendigkeit von Reformen mit echtem Reformwillen und Reformbereitschaft zu verbinden.
Da eine zukunftsfähige Politik eng mit verantwortungsvollen Politikern verbunden ist, hoffe ich mit Blick auf die vor uns liegenden Wahlen, dass sich - besonders im kommunalen Bereich - genügend Frauen und Männer finden, die bereit sind, Verantwortung für unser Gemeinwesen zu tragen, um so die Demokratie in unserem Land zu stärken.
Sehr geehrte Damen und Herren, sicher wusste die Heilige Elisabeth noch nichts von Versicherungen für Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Aber sie hatte eine Ahnung davon, dass Verantwortung, Gerechtigkeit und Solidarität ein Gemeinwesen zusammenhalten, und verfügte damit über eine Wertorientierung für ihr Handeln.
Auch heutige Reformen müssen sich an ethischen Kriterien ausrichten und die entscheidende Frage nicht vergessen: Was kann und muss die Solidarität aller tragen und was können und müssen Menschen selbst tragen und verantworten?
Lassen Sie mich auf diesem Hintergrund einmal den Begriff Verantwortung als eine Nahtstelle zwischen Individuum und Gesellschaft in drei Facetten beleuchten:
1. Verantwortung als Eigenverantwortung
2. Verantwortung als Verantwortung für Andere und
3. Verantwortung als Verantwortung zur Veränderung
Verantwortung als Eigenverantwortung
Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, inwieweit sie den Einzelnen - je nach Fähigkeiten und Möglichkeiten - Chancen auf Teilhabe und Lebensperspektive eröffnet.
Ein zu Grunde liegendes Prinzip ist die Beteiligungsgerechtigkeit. Sie hat zunächst das Ziel, Menschen zu eigenverantwortlichem Handeln zu bewegen. Viele leben dies in beispielhafter Weise. Erfahrungen nach der Wende haben gerade im Osten Deutschlands dazu beigetragen, so etwas wie eine Kultur der Selbstständigkeit zu entwickeln. Jedoch ist die Zahl derjenigen größer geworden, die Verantwortung für sich selbst nicht wahrnehmen können oder wollen, nicht zuletzt bedingt durch institutionelle Fehlsteuerungen.
An dieser Stelle kann das christliche Bild vom Menschen hilfreich sein: Das Geschenk der Freiheit an den Menschen ist eng mit der Verpflichtung zur Ü;bernahme von Verantwortung für sich selbst verbunden. Eigenverantwortung bedeutet dabei nicht nur den eigenen Vorteil im Blick zu haben, sondern auch die Situation der anderen mitzubedenken.
Damit wäre ich beim 2. Punkt.
Verantwortung als Verantwortung für andere
Eigenverantwortung ist immer zugleich Verantwortung für andere. Der Ruf nach Eigenverantwortung darf weder als zügelloser Egoismus missverstanden werden noch dazu führen, den Einzelnen allein zu lassen, wenn seine eigenen Kräfte überfordert werden, denn: Eigenverantwortung und Solidarität als Verantwortung für andere bedingen einander.
Der Sozialwissenschaftler John Rawls schreibt: "Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind zulässig, wenn sie . . . zum größten zu erwartenden Vorteil für die am wenigsten Begünstigten . . . sind." (Rawls, Theory of Justice) Das heißt: Auch wenn die Möglichkeiten der Einzelnen ungleich verteilt sind, ist Eigenverantwortung als Voraussetzung gesellschaftlicher Solidarität gefordert.
Jede Sozialreform sollte sich meines Erachtens an diesem Zusammenhang orientieren. So wie jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten Eigenverantwortung wahrnehmen kann, so kann auch das Maß der Solidarität von der jeweiligen Leistungsfähigkeit abhängen. Der Leistungsstärkere kann und muss stärker als der Leistungsschwächere belastet werden.
Das bedeutet: Auch eine künftige Krankenversicherung sollte am Solidarprinzip festhalten, damit die vorhandene Bereitschaft zu solidarischem Verhalten gewahrt bleibt und nicht anonymisiert wird. Das Aufheben der Solidarität in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme wäre mehr als nur die Aufhebung eines Finanzierungsmechanismus, unabhängig von Kopfpauschalen oder Bürgerversicherungen.
Damit komme ich zum 3. Punkt.
Verantwortung als Verantwortung zur Veränderung
In den politischen und gesellschaftlichen Diskursen dieser Wochen ist uns wie kaum zuvor deutlich geworden, wie eng Reform und Verantwortung zusammenhängen und wie notwendig sich das Wahrnehmen von verantwortlicher Veränderung mit der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft verbindet.
Wir brauchen einen Nachhaltigkeitsfaktor nicht nur in der Rentenformel, sondern auch in der Wahrnehmung von Verantwortung zur Veränderung. Hans Jonas wies bereits vor 25 Jahren darauf hin, dass sich die Ü;bernahme von Verantwortung nicht allein auf das bereits Vergangene, sondern auf die Zukunft der Generationen bezieht. Ich zitiere aus seinem Buch "Das Prinzip Verantwortung":
"Vorausdenkende Verantwortung brauchte es früher nicht zu geben, weil die Reichweite menschlicher Macht, die Auswirkungen menschlichen Handelns wie auch die Reichweite menschlicher Voraussicht sehr begrenzt waren . . . (heute) ist das Prinzip Verantwortung erstmals in den Vordergrund getreten und hat sogar Vorrang vor vielen Wünschen, Begierden und Verwöhnungen der Gegenwart einschließlich des Vermehrungsbedürfnisses."
Ich bin überzeugt, die Wahrnehmung politischer Verantwortung in den hier kurz beschriebenen Facetten kann gelingen, wenn eine "reflektierte Modernisierung" (Ulrich Beck) einhergeht mit einer wertgebundenen Politik, die sich an der Würde der menschlichen Person, am Gemeinwohl, an Solidarität und Subsidiarität orientiert.
Sehr geehrte Damen und Herren, auf dem Hintergrund dieses Exkurses über ethische Verantwortung möchte ich abschließend einige aktuelle Themen kurz ansprechen:
- Als Bischof gilt meine Sorge immer wieder unseren Ehen und Familien, denn nur sie ermöglichen die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft; letztlich auch eine erfolgreiche Reform unserer Sozialsysteme. Deutschland ist zu einem der ärmsten Länder der Welt geworden. Es steht unter 191 Staaten an 180ster Stelle in der Skala der Armut an Kindern.
- Dankbar bin ich für die umfänglichen Bemühungen der Enquetekommission des Thüringer Landtages "Wahrung der Würde des menschlichen Lebens in Grenzsituationen", die Ende des Monats ihren Abschlussbericht vorstellen wird. Durch Anhörungen, Gutachten und Stellungnahmen konnte ein Zeichen für den Schutz menschlichen Lebens in allen Phasen gesetzt werden. Ich hoffe, dass die Ergebnisse der Arbeit nicht folgenlos bleiben und Spuren in unserem Land hinterlassen.
- Ich schließe mit einem Blick auf unser im kommenden Jahr größer werdendes politisches Europa, das sich anschickt, sich eine Verfassung zu geben. Leider ist es bei aller Würdigung des Bemühens um den EU-Verfassungsvertrag bisher nicht gelungen, die jüdisch-christliche Herkunft Europas und den Gottesbezug als eine Bürgschaft gegen Totalitarismen in pluralistischen und säkularen Gesellschaften in die Präambel aufzunehmen. Ich meine, auch das politische Europa braucht eine Vergewisserung über seine geistige und religiöse Herkunft und einen Transzendenzbezug. Ich begrüße ausdrücklich auch das Bemühen Thüringer Europaabgeordneter, noch in letzter Minute Ergänzungen in der Verfassung herbeizuführen. Auch in diesem Anliegen bitte ich um Ihre Unterstützung.
Auf die Gründe kann ich hier nicht eingehen. Angesichts der demografischen Entwicklung und ihrer Folgen werden unser Staat und unsere Gesellschaft mehr und mehr daran gemessen, was sie zur Entfaltung von Ehe und Familie beitragen.
Ich begrüße ausdrücklich alle Initiativen der Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, die sich um die "Standortbedingungen" von Ehe und Familie bemühen. Ein Landesbündnis für Familie wird zu einer erfahrbaren und nachhaltigen Einrichtung, wenn unsere Kommunen aktiv beteiligt sind bzw. wenn das Land einen gesetzlichen Rahmen für eine Familienförderung (Stichwort: Familienleistungsgesetz) schaffen kann.
Gleiches gilt auch für die Arbeit der Enquetekommission "Erziehung und Bildung", deren Bemühen um eine zukunftsweisende Gestaltung von Erziehung und Bildung in Thüringen noch andauert.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle noch eine kurze Bemerkung zur bioethischen Diskussion: Mit Besorgnis habe ich kürzlich eine Äußerung der Bundesjustizministerin zur Kenntnis genommen. Erneut wird die Schutzwürdigkeit von Embryonen in vitro in Frage gestellt und ihre Menschenwürde relativiert. Bereits das vom Bundestag verabschiedete Stammzellgesetz hat den absoluten Lebensschutz von Embryonen ausgehöhlt, da embryonale Stammzellen für Forschungszwecke nach Deutschland importiert werden können. Die befruchtete Eizelle trägt von Anfang an das volle Lebensprogramm für die Entwicklung eines Menschen in sich. Jede Phase der Entwicklung geht kontinuierlich in die nächste über, sodass der Embryo nicht erst in einem bestimmten Entwicklungsstadium zum Menschen wird: Der Mensch wird nicht zum Menschen, sondern ist Mensch von Anfang an.
Helfen Sie mit, dass die bestehenden Gesetze, die menschliches Leben schützen (z. B. das Embryonenschutzgesetz) nicht weiter aufgeweicht werden.
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