"Tretet nicht den Rückzug ins Private an!"

Predigt von Bischof Joachim Wanke zur Jugendwallfahrt 2004 >>kreuzbewegt

Evangelium: Die Emmaus-Jünger (Lk 24,13-35)


"Da siehst du alt aus!" Wenn wir das sagen, denken wir an Situationen, die uns Angst machen. Nichts gegen die Älteren hier unter uns - ich selbst gehöre ja auch zu ihnen. Aber "alt aussehen" ist mehr als nur eine Frage der grauen Haare oder der Falten im Gesicht. "Alt aussehen" meint in unserem Zusammenhang: nichts mehr machen können, festgenagelt sein, in einer total verfahrenen Situation stecken - wie in einer Klemme, in der man sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen kann.


- Der Auto-Unfall, plötzlich und mit bitteren Folgen. Ein komplizierter Bruch, einige Wochen im Streckverband, danach Reha-Klinik, insgesamt ein halbes Jahr verloren. "Da siehst du alt aus!"

- Oder: keinen Ausbildungsplatz finden, auch nach der 50. Bewerbung : "Da siehst du alt aus!"

- Oder: Wenn der Freund, die Freundin dir den Laufpass gegeben hat, dich hat fallen lassen hat wie eine heiße Kartoffel: "Da siehst du alt aus!"

- Oder: Die Eltern wollen aus dir mit aller Macht einen mathematischen Wunderknaben machen, eine Konzertpianistin, sie drangsalieren dich und du merkst: Mir fehlt einfach das Talent: "Da siehst du alt aus!"


Ich glaube, die beiden Jünger, die nach dem Karfreitag von Jerusalem weg sich auf den Heimweg nach Emmaus machten, sahen auch "alt" aus. Ihre Hoffnungen waren verflogen, ihre Erwartungen enttäuscht. Das war wohl nichts mit diesem Jesus - aus und vorbei, ein schöner Traum. Die Römer waren eben doch stärker als Gott, von dem Jesus so schön geredet hatte.


So traten die beiden Jünger den Rückzug ins Private an. Weglaufen - wegducken - von nichts mehr etwas wissen wollen. Ja - solche Erfahrungen kennen wir. In der Schule läuft es nicht gut. Zu Hause hängt der Haussegen schief, die Freunde lassen einen hängen - wie schnell sind wir da dabei, wegzulaufen, zu flüchten, abzutauchen. Und wie schnell bieten sich für ungelöste Probleme Ersatzlösungen an: das Ganze verdrängen, die Realitäten nicht wahrhaben wollen, sich abschotten, vielleicht sogar die Flucht in Alkohol oder Drogen!


Wie geht Jesus mit diesen beiden Jüngern um? Es ist interessant: Er überfällt sie nicht schulmeisterlich nach dem Motto: "Ich bin der große Zampano! Ich sage euch schon, wo?s lang geht!" Nein. Jesus geht anders vor. Er gesellt sich zu ihnen - aber in einer fremden Gestalt. Er will sie nicht "belöffeln" - wie ihr so schön zu sagen pflegt. Er lässt sie selber "kommen"!


Ihr wisst: Selber drauf kommen ist tausendmal besser als mit dem pädagogischen Zeigefinger gepiekst zu werden. Und so fängt Jesus geduldig an: Er geht mit ihnen ein Stück des Weges - er stellt Fragen - er sagt dieses und jenes. Und schließlich sagt er gar nichts mehr: Er tut etwas. Er hält mit ihnen Mahl. Und da erkennen sie ihn - und auf einmal begreifen sie, was mit diesem ihrem Meister geschehen ist: Er lebt! Er ist nicht im Tod geblieben! Gott hat ihn uns neu geschenkt - und wir haben das irgendwie auch vorher schon gewusst, aber eben nicht begriffen, was das heißt: Gott ist kein Gott der Toten, sondern der Lebenden. An Jesus ist das wahr geworden. Jetzt haben wir begriffen, was das heißt: Bürger des Reiches Gottes werden! Auch im Sterben zu wissen, dass wir leben werden.


Und so kommen die Jünger in Bewegung, aber jetzt kehrt sich die Richtung um. Nicht mehr: Weglaufen, wegducken, verdrängen und vergessen - sondern: zurück nach Jerusalem. Es hält sie nicht zu Hause. Sie wollen den anderen sagen, was sie erfahren und von Jesus begriffen haben. Sie werden zu Zeugen für den Auferstandenen - und ich vermute: Seit dieser Erfahrung mit Jesus in Emmaus hat sich ihr Leben dauerhaft verändert.


Liebe junge Christen!

In Bewegung bringt uns allein die Begegnung mit Jesus Christus. Aber es sind keine spektakulären Begegnungen, sondern solche in der Art wie auf dem Weg nach Emmaus. Das Kreuz des Weltjugendtages ist schon seit einigen Tagen in den Gemeinden auf dem Weg. Es hat viele von euch in Bewegung gebracht. Dieses Kreuz ist ja mehr als ein Marterwerkzeug. Es ist ein Siegeszeichen. Es ist - gerade als leeres Kreuz - ein Osterzeichen. Der für uns in den Tod Gegangene ist mit uns zusammen auf dem Weg zum Vater im Himmel. Die gestrige Station in der Augustinerkirche zusammen mit unseren evangelischen Freunden, der heutige Wallfahrtstag der Bistumsjugend hier auf dem Domberg, der Weltjugendtag im kommenden Jahr in Köln: Das alles sind nur Stationen auf einem Weg, zu dem uns das Kreuz Beine machen will.


Bleibt nicht in eurer kleinen Welt hocken! Vergrabt euch nicht in eure Probleme, geht nicht auf in reiner Selbstbespiegelung, kommt raus aus den selbst fabrizierten Schneckenhäusern, in die man sich so schön zurückziehen und abschotten - und dabei auf Gott und die Welt schimpfen kann! Ich hab?s mal bei einem kleinen Jungen erlebt: Er konnte nicht abwarten, bis die Mutter ihm die Apfelsine aufschnitt: Er schnappte sich selbst das Messer - und schnitt sich prompt in den Finger, dass es kräftig blutete. Da richtete sich der Dreikäsehoch auf, reckte seine Hand mit dem blutenden Fingern den Anwesenden entgegen und rief aufgeregt: "Da seht! Das geschieht euch recht, dass ich mir wehgetan habe!"


Ja, da kann man nur lachen. Aber dem Kleinen war es bitter ernst. Es gibt eine Menge Leute, die es genauso machen wie er. Sie tun sich weh - und schmollen, wälzen die Schuld auf andere, giften gegen die da oben und beschimpfen noch die Leute, die ihnen helfen wollen. Einer sagt: "Ich bin schwach in der Schule, also lasst uns die Lehrer auswechseln!" Oder: "Ich komme nicht mit den Eltern aus - also ziehe ich aus und mache ihnen und mir selbst das Leben schwer so gut ich kann!"


Lauft nicht vor den Problemen weg! Vor allem nicht: vor den selbst verursachten Problemen. Beziehungsprobleme löst man nicht durch Alkohol, und wirklich Freunde gewinnt man nicht durch Imponiergehabe. Gebt auch ruhig einmal eure Schwächen zu. Die Eltern sollen ruhig wissen, dass nicht aus jedem oder jeder von euch ein kleiner Einstein oder ein Nobelpreisträger werden kann!


Habt auch keine Angst, euch in bestimmten Situationen für etwas zu entscheiden. Man kann eine Entscheidung so lange hinausschieben, bis es nichts mehr zu entscheiden gibt. Ich weiß: Sich entscheiden, das macht ihr nicht gern. Möglichst hinausschieben. Mal sehen, mal abwarten. Ich könnte ja anderswo irgendwas verpassen! Und dann wartet man ab, bis die günstige Gelegenheit verpasst ist. Zum Beispiel: So lange morgens trödeln, bis man vom Schulbus nur noch die Rücklichter sieht, oder vielleicht auch so: So lange mit dem Heiraten warten, bis man Rentner geworden ist! So lange unentschieden sein, ins Priesterseminar einzutreten, bei einer Ordensgemeinschaft anzuklopfen, bis der Ruf Christi vor lauter Zweifeln und Grübeln in deinem Herzen verhallt ist.


Lernt auch manchmal "Nein" zu sagen. Löst euch von Freuden, wenn sie sich als falsche Freunde entpuppen. Gruppenzwang gibt es nicht nur in einer Affenherde. Christliche Jugendliche sollte es auszeichnen, dass sie eigenständige Persönlichkeiten sind, zumindest sich auf dem Wege dazu befinden. Ehe ihr mitlauft, schaltet das Denken ein. Ich meine, die kirchliche Jugendarbeit in der Nazizeit, in der kommunistischen Zeit hat gezeigt: Wer Jesus Christus kennt, fällt nicht auf alle Massenbenebelung herein - auch heute nicht.


Liebe Jugend!

Das Kreuz bringt in Bewegung. Es hindert uns daran, uns nur mit uns selbst zu beschäftigen. Jesus Christus ist auch heute mit uns auf unseren Wegen - nach Emmaus, nach Köln im nächsten Jahr, und anderswo. Stellt ihm eure Fragen. Erzählt ihm, wie es euch geht, was euch bedrückt, welche Enttäuschungen ihr zu verkraften habt. In der Klemenskapelle, im Domkreuzgang wird dann nach dem Gottesdienst das Kreuz und die Marienikone aufgestellt sein. Und ihr könnt ja auch vor dem Kreuz an die morgige Abiturarbeit denken. Der Heilige Geist wird euch sicher nicht das Thema der Klausurarbeit verraten. Aber vielleicht sagt er euch: "Du bist mehr wert als ein noch so gutes Abiturzeugnis! Du bist ein von Gott geliebter Mensch! Hab Vertrauen in dich selbst - und vertrau dem, der mit dir durch das Leben gehen will. Er lässt dich nicht in der Klemme stecken, er lässt dich nicht alt aussehen, mag es bei dir derzeit noch so schlimm aussehen wie es will."


In Jena wurden in der letzten Osternacht sechs Erwachsene getauft. Darunter war ein junger Mann. Ich konnte ihn kennen lernen. Er trug sein langes Haar hinten in einem kühnen Zopf. Als ich ihn interessiert fragte, wo er arbeitet, sagte er mir: "Lieber Bischof, Sie werden lachen. Ich habe gerade einen Job in einer Disco. Ich bin mitten in der Spaßgesellschaft - aber ich habe gemerkt: Das langt nicht!"


Vom Kreuz bewegt werden. Bei diesem jungen Mann ist etwas passiert. Ihm ist Jesus begegnet, auch sicher zunächst in fremder Gestalt, in Gestalt von Freunden, von Christen aus der Gemeinde. Und dann begann sein Herz zu brennen. Ob das nicht auch bei dir passieren kann? Amen.



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