"Stillstand und Abwarten-Wollen wären Verweigerung dessen, was Gott mit uns vorhat"

Ansprache von Altbischof Joachim Wanke bei der Abschlussfeier der Erfurter Bistumswallfahrt 2013

"Nicht nur ganz viel Platz ist da, sondern auch der Herr ist nah!" So sang eben unsere Selbsthilfe-Truppe in Fragen Gemeindestruktur-Reform. Und ich vermute: Dieses Lied hat Karin, die mit ihrem persönlichem Problem nicht so richtig zum Zuge kam, wieder etwas versöhnt. Das wäre ja in der Tat eine Horrorvorstellung: Anton, der die Gemeinde als große Ich-AG versteht, und Conny, die genau weiß, wo es langgeht - zumindest für die anderen, einschließlich des Pfarrers und des Pfarrgemeinderats samt dessen Vorsitzenden. Danke für diese humorvolle, aber eben auch nachdenklich machende Selbstkritik.

Ü;brigens: Dass Laien auch in andere Gemeinden "ausgeleiht" werden könnten, finde ich als Anregung ganz prima. Eigentlich machen wir das ja schon längst - wenn ich nur an unsere mobilen Diakonats- und Kommunionhelfer denke. "Pastorale Leiharbeit!" - nicht nur für Pfarrer, sondern auch von Gemeindemitgliedern zugunsten anderer Gemeinden!



Aber da sind wir schon beim Leitgedanken unserer diesjährigen Wallfahrt: Viel Raum zum Christsein. Ja, den haben wir - kirchlich und gesellschaftlich, in der Bandbreite unterschiedlichster Frömmigkeitsformen (von der Rosenkranzandacht bis hin zum Nightfever unserer Jugend), durch die neu gewachsenen Vernetzungs- und Informationsmöglichkeiten im Bistum, ja sogar in andere Länder und Erdteile hinein. Wahrlich: Türen und Fenster haben sich für uns aufgetan: in andere Gemeinden hinein, in die säkulare Öffentlichkeit hinein, Kontakte zu ostkirchlichen Christen, die als Flüchtlinge unter uns leben, Begegnungen mit Muslimen, Auseinandersetzungen mit Agnostikern und Atheisten. Die Meinungsvielfalt ist nicht nur in der Gesellschaft gewachsen, sondern auch unter uns. Natürlich: das hat auch zur Folge, dass es manchmal Zugluft gibt. Das kann zu schaffen machen! Darum lasst mich vor unserem gemeinsamen Weg zu den Domstufen ein wenig bedenken, was geweitete Räume bedeuten.



Räume erfordern Beweglichkeit. Es ist verständlich, dass es für manche zu viel Bewegung in der Kirche gibt, räumlich ("mein Kirchweg ist weiter, ist umständlicher geworden!") - aber eben auch geistig und spirituell. "Lasst uns doch beim Alten, beim (scheinbar) Bewährten, beim Ü;berkommen bleiben ...!" Schon unser Herr seufzte einmal etwas resigniert, wie der Evangelist Lukas berichtet (vgl. Lk 5,38f): Der Umgang mit dem neuem Wein des Evangeliums verlangt nach neuen "Schläuchen", sprich: nach neuen Verhaltensweisen. Und das ist bekanntlich anstrengend. Und deshalb meinen so manche, der alte "Wein", also das Ü;berkommene und Gewohnte, sei doch besser!



Es hilft nichts: Auch für unseren Glaubensweg braucht es Beweglichkeit. Stillstand und Abwarten-Wollen wären in diesem Falle Rückschritt, wäre Verweigerung dessen, was Gott mit uns vorhat. Die Welt bleibt nicht still stehen. Die Zeiten sind permanent im Wandel. Die Pfarrer saßen früher viel mehr in ihrem Pfarrhaus und konnten warten, dass die Leute kamen. Das fanden viele gut. Heute sind sie "Pfarrer auf vier Rädern" und müssen so, mit Terminkalender und Computer, ihren Dienst ausüben - eben: beweglich. Und wenn ein neuer, überheblicher Atheismus und platter Materialismus uns herausfordern, können wir nicht bei den alten Glaubensantworten bleiben. Es braucht Lernbereitschaft, geistige Beweglichkeit, Weitung des Horizontes, um das Evangelium tiefer zu verstehen und sich so als Christ für das 21. Jahrhundert zu rüsten. Größer gewordene Räume erfordern Beweglichkeit.



Aber es gilt auch: Räume schenken Weite. Schon im 19. Jhd. war es Sitte, dass Handwerksburschen, ehe sie sich als Meister niederließen, erst einmal auf die Walz mussten. Vater Kolping war da keine Ausnahme. Und Studierenden tut es gut, wenn sie einmal den Studienort wechseln, vielleicht sogar für ein Jahr ins Ausland gehen. Gottlob, dass ist heute möglich. Wir rücken als Weltkirche zusammen. Wir lernen - manchmal sogar durch Besuche vor Ort -, wie andere unter ganz anderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen ihr Christsein leben, selbst unter Bedrängnissen und sogar Verfolgungen. Und was in den wachsenden Kirchen Afrikas und Lateinamerikas geschieht, kann wegweisend auch für uns sein. Wir merken ja an unserem Papst Franziskus, welche Frische und Lebendigkeit er in die Weltkirche einbringt - er, der scheinbar "vom Rand der Welt kam", wie er bei seiner ersten Vorstellung auf dem Petersplatz sagte. Unsere katholische Kirche in Deutschland braucht eine neue Weite, eine Besinnung auf das Evangelium, das nicht nach einer Vergrößerung der kirchlichen Bürokratie verlangt, sondern nach brennenden Herzen..... Und wir in unseren Diasporagemeinden mit ihren geweiteten Räumen haben bei allem schmerzlichen Lernbedarf, wie wir damit umgehen sollen, doch mehr Grund zur Dankbarkeit als zum Jammern, wie schwierig alles ist. Räume schenken Weite!



Und: Räume geben Beheimatung - auch größer gewordene Räume. Ich gebe gern zu: Jeder Mensch braucht einen Ort, wo er sich zu Hause fühlt. Ich bin gerade dabei, mich in meiner Emeritenhöhle im Hinterhof des Priesterseminars häuslich einzurichten. Eine Wohnung, in die man gern heimkommt, ist das eine. Das andere ist: dass ich mich freue, in Erfurt, in unserem Bistum eine Heimat zu haben, in der ich mich - nicht zuletzt durch gute Freunde, durch langjährige Weggefährten - und nicht zuletzt durch Euch, liebe Mitchristen in den Gemeinden unseres Eichsfelder Landes, unserer Thüringer Diaspora zu Hause weiß (und ich schließe hier auch mal - freilich nur inoffiziell - die Rhöner Mitchristen ein, die vielleicht auch heute wieder bei uns sind!). Darum geht es: eine Heimat zu haben nicht allein durch vertraute Wohnungswände und Möbel, sondern durch lebendige Menschen! Das wird, so meine ich, auch den Himmel Gottes ausmachen: Denn er vermag uns einmal eine Heimat zu schenken, die keine irdische Begrenzungen kennt - und die dennoch unsere Sehnsucht nach Beheimatung in der Weite seines göttlichen Herzens, in die viele andere eingeschlossen sind, erfüllen wird.








Also, liebe Conny, lieber Anton, liebe Karin: Weite Räume verhindern nicht das Christsein - es dürfen freilich aus unseren Gemeinden keine Ich-AG´s werden. Lasst uns voll Vertrauen den Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gemeinsam weitergehen, auch wenn die Räume der Kirche und unseres Lebens weiter werden. Denn er, der Herr, geht mit uns. Amen.

 




Ansprache gehalten am 15.9.2013 auf der Marienwiese des Erfurter Domberges.