"So sieht Jesus das Verhältnis Gottes zu den Menschen"

Bischof Joachim Wanke predigt über die Seligpreisungen der Bergpredigt

Predigt in der evangelischen Augustinerkirche Erfurt am Reformationstag, 31. Oktober 2002, im Rahmen eines ökumenischen Abendgebetes


Predigttext: Mt 5,1-12


Mit der Bergpredigt sei keine Politik zu machen - das ist ein oft gehörtes und gebrauchtes Wort. Richtig daran ist sicher, dass aus der Bergpredigt keine direkten Handlungsanweisungen für Parteivorsitzende und Minister abzuleiten sind. Mit der Bergpredigt wird der Weg zum Reich Gottes gewiesen, nicht zu einem menschlichen Reich. Mit Politik kann man höchstens einen Staat machen, aber nicht den Himmel. Also: Die Bergpredigt für den Gottesdienst - und die Politik für das richtige Leben? Die Seligpreisungen für die Frommen - und die Parteiprogramme für den Rest der Menschheit?


Viele Leute werden sagen: Wir haben doch das Grundgesetz und mit ihm zumindest eine solide Verfassung - nicht eine absolut vollkommene, aber doch die weitaus beste gesetzliche Grundlage für unser Volk und das Zusammenleben der Deutschen in ihrer Geschichte. Wie lautet der erste Satz dieser Verfassung? "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Gut dass es diesen Satz in unserer Verfassung gibt. Aber ich habe Angst um diesen Satz, genauer: um die Ü;berzeugungskraft, mit der er sich in der Breite unserer Gesellschaft behaupten kann.


Ich stelle einmal diese These auf: Grundgesetz und Bergpredigt verhalten sich zueinander wie die Straßenverkehrsordnung zur Nächstenliebe. Die Straßenverkehrsordnung wird dort zur Farce, wo sie nur um der Polizei willen, um der Angst vor Geldbußen und Strafpunkten in Flensburg eingehalten wird. Wenn nicht in jedem von uns ein Mindestmaß an Achtung vor jedem Menschenleben vorhanden ist, das Wissen, dass Rücksichtslosigkeit, Raserei und sträflicher Leichtsinn nicht nur Blechschäden hervorrufen, sondern das Leben von Mitmenschen aufs Spiel setzen, so lange bleibt die Straßenverkehrsordnung ein lästiger Zaun, bei dem man nur die Schlupflöcher sucht, durch die man - ohne erwischt zu werden - schnell und unbemerkt schlüpfen kann. Ein Gesetz erlangt durch die Gesinnung der Bürger Kraft und Geltung, erst in zweiter Linie durch Androhung von Strafen.


Vielleicht ist es doch für das Grundgesetz und seine Geltung gut, dass Jesus uns zu Reich-Gottes-Anwärtern machen will. Zumindest gut für die zentralen Werte, auf denen dieses Gesetz aufruht, z. B. für die unbedingte Achtung der Würde jedes Menschen!


Ich rede hier ja nicht von irgendwelchen spekulativen Möglichkeiten. Ich rede von sehr konkreten Gefahren, die sich am Horizont unserer Gesellschaft abzeichnen, z. B. am biotechnischen Horizont. Werden uns Gesetze allein vor dem Abgrund der Inhumanität bewahren? Werden uns Paragraphen vor dem Zugriff skrupelloser Macher retten, die auch noch mit menschlichem Leben Geld verdienen wollen?


Gesetze und Paragraphen haben ihr relatives Recht und ihre Notwendigkeit. Die Bergpredigt weist uns freilich einen Weg, wie über Gesetze und Paragraphen hinaus die Würde des Menschen gesichert werden kann: durch die Anerkennung des Rechtes Gottes an seinen Geschöpfen. Doch ich verbessere mich gleich: durch die Anerkennung der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen, vornehmlich des Menschen, der das Angesicht Jesu Christi trägt und darum heilig und in seiner Würde unverletzlich ist - nicht, weil Gerichte das dekretieren, sondern Gott selbst, der Schöpfer und Erhalter unseres Lebens, sich des Menschen voll Liebe erbarmt.


Wenn ein Mensch etwas kaputt macht und zerstört, ist das schlimm und verwerflich. Wenn er aber etwas kaputt macht und zerstört, was ich liebe, was mir ein hoher Wert ist, wenn etwa ein mir nahestehender Mensch ermordet wird, einer, an dem mein Herz, ja mein eigenes Leben hängt, da ist das für mich doppelt und dreifach schlimm und verwerflich! Die Angehörigen der Ermordeten von der Gutenbergschule wissen, wovon ich rede!


So sieht Jesus das Verhältnis Gottes zum Menschen. Das steht hinter den Seligpreisungen als Denkhorizont. Jesus setzt jene, die arm, schwach und traurig, die voll innerer und äußerer Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Friede sind, in Beziehung zu Gott: Sie sind Söhne und Töchter Gottes - und darum werden sie selig gepriesen. Sie sind Reich-Gottes-Anwärter, von Gott Akzeptierte - und darum stehen sie unter Gottes besonderem Recht, über das Recht und den Schutz jeder menschlichen Gesetzesordnung hinaus.


Der Satz Jesu: "Was ihr den Kleinen und Geringen getan habt, das habt ihr mir getan!", dieser Satz hat mehr Nächstenliebe in der Geschichte frei gesetzt als alle philosophischen Reflexionen von Sokrates angefangen bis hin zu Kants kategorischem Imperativ (vom 20. Jahrhundert möchte ich in diesem Zusammenhang lieber schweigen!). Die Würde des Menschen fängt dort zu leuchten an, wo ein Mensch geliebt wird - geliebt, nicht nur respektiert, nicht nur geduldet, nicht nur mit Nahrung versorgt und mit dem Existenzminimum ausgestattet. Weil wir von Gott geliebt sind, von ihm angenommen, geheiligt und als Sünder gerechtfertigt sind (ich sage es gern so: als unvollkommene Mängelwesen von ihm akzeptiert sind, so wie auch häßliche Mädchen von ihren Müttern geliebt werden!) - darum haben wir eine Würde, die uns niemand nehmen kann, selbst nicht die Sozialhilfe oder ein armseliges Sterben zwischen Apparaten auf einer Intensivstation.


Aber eben das steht nicht im Grundgesetz. Das lesen wir in der Bergpredigt. Das ist die zentrale Botschaft der Bibel auf jeder ihrer Seiten: "Du bist geliebt, mehr als du meinst!"


Ich gestehe jedem Nichtchristen zu, dass er auf seine Weise den ersten Satz des Grundgesetzes für sich zu begründen sucht, wegen mir auf philosophische Weise, oder mit Kants Imperativ oder einfach mit Hilfe der Goldenen Regel: "Was du nicht willst, was man dir tut, das füg? auch keinem andern zu!" Diese Regel stammt zwar auch aus der Bibel, aber sie wird doch von vielen nichtchristlichen Menschen, auch nichtreligiösen Zeitgenossen als tragfähiges Fundament menschlichen Zusammenlebens angesehen. Für mich gilt: Jeder Mitbürger, der die Würde seines Mitmenschen achtet, auch auf Grund seiner nichtchristlichen Ü;berzeugung, ist mir willkommen und wird von mir respektiert. Aber ich wünschte mir, dass möglichst viele Menschen zu dieser Ü;berzeugung nicht nur deshalb stehen, weil sonst unter uns das Chaos ausbrechen würde, sondern aus der Ü;berzeugung, dass in jedem Menschenangesicht sich Gott selbst uns zu erkennen gibt.


Denken wir noch einmal an die Straßenverkehrsordnung: Sie ist nützlich und gut. Noch nützlicher und noch wichtiger ist das Grundgesetz unseres freiheitlichen Staates. Aber diese Ordnungen benötigen eine Seele, sonst bleiben sie totes Papier. Sie brauchen Menschen, die von innen heraus das tun, was uns gemeinsam und jedem Einzelnen heilsam ist. Ich sehe als einzige Macht, die imstande ist, uns Menschen dazu zu bringen, die Liebe. Und darum ist die Liebe - nach dem Apostel Paulus - neben Glaube und Hoffnung das größte Geschenk: das größte Geschenk, was wir einander machen können - und das uns von Gott her gegeben ist. Denn ER ist die Liebe, wie die Schrift sagt!


Weil das Jesus wusste, hat er seinen Jüngern keine Verfassung verordnet, sondern ihnen die Bergpredigt gehalten. Darum hat Jesus keine Gesetze erlassen, sondern die nach Gott Hungernden selig gepriesen, und nicht die Satten und jene, die meinen, schon alles zu haben, z. B. das Grundgesetz, weil man angeblich mit ihm auch ohne Gott "Staat machen" könne. Ob die Bergpredigt nicht auch im Jahr 2003 Bedeutung hat? Nochmals: Mit ihr allein (!) kann man keinen Staat machen - aber man kann mit ihr einen Staat menschlich machen. Und das wäre auch für unsere Politiker im Bundestag und im Landtag ein Grund, sich die Bergpredigt Jesu zu Herzen zu nehmen; und für uns alle - jeden Tag neu aus ihrem Geist, aus ihrem Zuspruch zu leben. Amen.

Pressemitteilung zum Ökumenischen Abendgebet