Liebe Wallfahrerinnen!
"Der Bischof soll mit uns Frauen nicht so vorsichtig umgehen!", so hat mir der Vorbereitungskreis der heutigen Wallfahrt ausrichten lassen. Manche Frauen hätten den Eindruck: Bei der Männerwallfahrt redet der Bischof gesellschaftspolitischen Klartext, bei der Frauenwallfahrt spricht er nur vom Evangelium!
Als ob das Evangelium nicht politisch wäre.
"Sehnsucht nach Leben!" Dieses von der Heiligen Schrift inspirierte Leitwort enthält für mich eine hochaktuelle Aufforderung: Sorgt euch um das Leben! Ist das zu unpolitisch? Das ist im Gegenteil hochpolitisch - und ist gleichzeitig eine Kernbotschaft des Evangeliums.
Darum mein erster Gedanke:
1. Stellt euch schützend vor das Leben!
Am 7. Mai hatte ich auf der Wartburg vor hochrangigen Forscherinnen und Forschern, vor Frauen und Männern aus Politik und Kultur über Probleme der heutigen Human-Biotechnologie zu sprechen. Dürfen wir alles, was wir können? Berechtigt die Hoffnung auf Ü;berwindung von Krankheiten dazu, menschliches Leben in seinem Frühstadium zu töten?
Da habe ich gespürt, wie politisch im wahrsten Sinne des Wortes das Stichwort Leben ist. Politisch ist etwas, was alle angeht, was nicht in Hinterstuben oder Bio-Labors von einigen wenigen ausgekungelt werden darf. Dafür möchte ich euch sensibilisieren: Seid und werdet immer mehr Verteidigerinnen des Lebens!
In der Gesellschaft macht sich derzeit der Gedanke des gestuften Lebensschutzes breit. Es heißt: Wenn die befruchtete menschliche Eizelle noch nicht eingenistet sei, könne man doch ruhig aus ihr noch Stammzellen gewinnen. Im Klartext: das werdende Leben töten. Und was ist, wenn nach der Geburt die soziale "Einnistung" nicht gelingt? Im alten Rom wurde die Tötung neugeborener Mädchen nicht bestraft. Sie galten nicht so viel wie männliche Nachkommen. Sind wir bald wieder soweit?
Der Thüringer Landtag hat vor kurzem eine erfreuliche Aussage zum Lebensschutz gemacht. In einem Enquetebericht, an dem viele Abgeordnete mitgewirkt haben, wird klar gesagt: Wer anfängt, die Werthaftigkeit bestimmter Stadien des Lebens gegeneinander abzuwägen, gerät in die Gefahr, soziale - und schließlich auch medizinische Selektion zu betreiben. Menschliches Leben hat keine Zwecke. Es hat seinen Wert in sich und aus sich heraus - und durch nichts anderes!
Und wer sagt, die Tötung von ein paar ohnehin absterbenden Zellkügelchen in der Petrischale sei doch humaner als eine spätere Abtreibung, der treibt den Teufel mit Beelzebul aus. 4494 Abtreibungen im Freistaat Thüringen im Jahr 2003 sind 4494 Abtreibungen zu viel! So viele Abtreibungen sind erschreckend und beschämend zugleich. Ü;brigens in nur 73 dieser Fälle waren es medizinische Notlagen von Müttern, die zur Abtreibung führten.
Darum diese meine dringende Bitte an euch, an alle Liebhaber des Lebens hier in Thüringen : Unsere Regierung, ob in Erfurt oder Berlin, die Wissenschaftler, die Künstler und Medienmacher sollen eure mahnende Stimme hören: "Haltet das Leben heilig! Sorgt dafür, auch durch gute Gesetzgebung, auch für unsere Ehen und Familien mit Kindern, dem Leben eine Chance zu geben - am Lebensanfang, und später, wenn es um die geborenen Kinder geht und auch, wenn das Leben zu Ende geht!
Stellt euch schützend vor das Leben!" - Ein zweiter Gedanke, den ich unserem Leitwort entnehme:
2. Lebt hier und heute euer Leben!
Was meine ich damit? Die Sehnsucht nach Leben wird bleiben, solange wir atmen. Ja, es gehört geradezu zu unseren konstitutiven Kennzeichen als Menschen, dass die Sehnsucht in uns nie stirbt.
Was wir nicht alles ersehnen: Einige Frauen aus eurer Mitte haben mir die Stichworte aufgeschrieben:
- ein friedliches Leben ohne existenzielle Sorgen,
- Gerechtigkeit, soziale Sicherheit,
- Zuneigung, Zärtlichkeit, Geborgenheit, einen Menschen, mit dem ich meine Freuden und meine Sorgen teilen kann,
- bezahlte Arbeit,
- für jemanden bedeutsam sein,
- mich entfalten, im guten Sinne verwirklichen zu können, in einer Aufgabe, im Beruf.
Was ich ersehne:
Nein, das sind keine spezifischen Frauensehnsüchte. Das sind auch Sehnsüchte von Männern. Aber reicht es, dies bloß festzustellen?
Ich denke mir: Wir dürfen vor lauter Sehnsüchten nicht vergessen, unser Leben, so wie es ist zu leben. Und das heißt konkret: es anzunehmen und daraus das Beste zu machen.
Lebt hier und heute euer Leben! Damit meine ich: Seid nicht immer und ständig mit euren Gedanken und mit dem Herzen - entweder in der Vergangenheit oder in einer noch nicht eingetroffenen Zukunft. Wie sagt es uns der Herr? "Jeder Tag hat genug eigene Plage!" (Mt 6, 34). Ich meine: Jeder Tag hat auch genug eigene Schönheit und Qualität, wenn wir dafür nur aufmerksam genug sind.
Es ist ein Kennzeichen unserer Zeit: Wir werden getrieben und gehetzt. Der Terminkalender regiert, die Pflichten lassen nicht zur Besinnung kommen, man fühlt sich wie im Joch, dauernd getrieben von dem, was morgen und übermorgen ansteht.
Aber wann soll Leben gelingen, wenn nicht heute und hier? Leben wir wirklich, wenn wir nur an morgen denken? Im Psalm heißt es: "Du füllst mir reichlich den Becher!" Natürlich, der Lebenswein ist nicht immer süß und angenehm. Glück, Liebe und Freude werden immer nur in kleinen Portionen geschenkt - dafür aber andauernd, (im Gebetsteil der Andacht wollen wir einmal ausdrücklich dafür danken!) - wenn auch durchwachsen mit dem, was es auch gibt: Sorgen, Enttäuschungen, Schmerzen.
Man kann das Schöne übersehen, weil man sich nach dem Schöneren sehnt; man kann die Freude unterdrücken, weil man dauernd nur das Haar in der Suppe sieht; man kann von der Liebe eines anderen nicht erreicht werden, weil man überzogene Erwartungen an ihn hat. Das Denken an die Fleischtöpfe Ägyptens ist auf einer Wüstenwanderung ebenso gefährlich wie eine Fata morgana. Vieles, was uns heute von der Werbung versprochen wird, ist wie eine Fata morgana: "Kauf mich, hab mich, benutze mich - und du wirst glücklich!" Pustekuchen: Du wirst nur dein Geld los! Oder im schlimmsten Falle: Es macht dich nur süchtig.
Suche in deinem Leben "Inseln des Glücks", Biotope eines erfüllten Lebens, die es klug zu schützen gilt. Man kann sich über viele kleine Dinge freuen - über den Blumengruß, den Brief aus der Ferne, über den Telefonanruf guter Freunde, über ein gutes Gespräch, ein kleines Hobby, - und auch über einen Tag wie diesen, wo ihr nicht zu kochen braucht! Und es gibt auch große Dinge, die man als tiefe Freude erfährt: wie die Kinder langsam heranreifen, wie eine eheliche Liebe tiefer und tragfähiger wird, wie man im Alleinsein auch stark wird, oder wie man in Krankheit gehalten und im Schmerz getröstet wird.
Sagt euch auch einander eure Wünsche! Mache denen, die dir nahe sind, immer wieder einmal eine kleine, überraschende Freude - und du wirst erleben, dass die Freude Dir in reichem Maß zurückgeschenkt wird! Wie sagen manche beim Griff in die Pralinenschachtel? "Man gönnt sich ja sonst nichts!" Besser wäre es, wenn ihr - etwa im Blick auf gemeinsame Unternehmungen in der Familie - dies sagen würdet: "Wir wollen uns bewusst gemeinsam etwas gönnen!"
Und ich denke mir: Auch wenn dich die Arbeitslosigkeit hart trifft, auch wenn in der Familie knapp gerechnet werden muss: Das Falscheste, was du tun kannst, ist dich zurückzuziehen, dich zu schämen. Sag dem Lehrer: Unser Kind kann nicht mit nach Paris auf Klassenfahrt gehen. Könnte nicht auch eine Wanderung im Dün reichen? Widersetzt euch dem Druck, der mit überzogenen Standards Minderwertigkeitskomplexe schafft. Lebt hier und heute euer Leben - und freut euch nicht nur über die Dinge, die ihr habt, sondern vor allem, dass ihr einander habt!
Und lasst mich auch das zum Thema Lebenssehnsucht sagen:
3. Bleibt bei der Sehnsucht!
Es gibt eine Kleinkariertheit, die sich mit dem Spatz in der Hand begnügt, weil die Taube auf dem Dach anscheinend unerreichbar ist. Jede kleine Freude ist immer nur ein Angeld der Freude, die Gott für uns bereithält. Unser irdisches Leben ist Anzahlung - noch keine Schlussabrechnung!
Haltet daran fest: Für uns Christen ist Leben mehr als irdisches Glück und Gesundheit. Und damit bin ich beim heutigen Evangeliumstext (Mk 10,46-52). Natürlich wollte der Blinde sehen - aber er hat sich mit dem Sehen nicht begnügt. "Er folgte Jesus auf seinem Weg". D. h.: Er wurde durch seine Begegnung mit Jesus ein an Gott glaubender Mensch. Er begriff, dass dieser Jesus mehr zu geben hat als gesunde Augen, Heilung von Aussatz und einen aufrechten Gang.
Die Sehnsucht nach Leben darf in uns nicht absterben, weil wir dieses oder jenes erreicht haben. Vom Verkosten allein wird man nicht satt!
Manchmal spreche ich mit älteren Leuten, die mir etwas resigniert sagen: "Jetzt haben wir nichts mehr zu erhoffen. Die Kinder sind aus dem Haus, das Berufsleben ist vorbei, die ersten Freunde und Bekannten sterben weg - für uns ist das Leben gelaufen!"
Lasst in euch die Sehnsucht nicht sterben! Wir müssen den Wanderweg des Lebens auch im Alter weitergehen. Wer rastet, der rostet! Und das meint zunächst einmal ganz praktisch: Auch das Alter hat seine Chancen, in Bewegung zu bleiben, körperlich, geistig, durch ein Ehrenamt, durch Wahrnehmung von Bildungsangeboten, durch tätige Nächstenliebe.
Aber das Wort vom Rosten beim Rasten gilt auch religiös: Jesus sagt uns heute wie damals dem Blinden vor Jericho: "Dein Glaube hat dir geholfen!" - nämlich wieder zu hoffen, zu vertrauen, zu lieben auch dort, wo dir alles aus den Händen zu gleiten scheint. Wirf diesen Glauben, diese Hoffnung auf Gottes Lebensmacht nicht weg. "Bei dir, Herr, ist die Quelle des Lebens. In deinem Licht schauen wir das Licht!" Macht diese Bitte um letzte Lebenserfüllung zu eurem täglichen Gebetsanliegen.
Liebe Wallfahrerinnen!
Bin ich zu vorsichtig mit euch umgegangen? Ich denke: Nein.
Ich nenne noch einmal meine drei Predigtpunkte:
- Stellt euch schützend vor das Leben!
- Lebt hier und heute euer Leben! Unser konkretes, irdisches Leben ist Angeld, Vorgeschmack des Himmels, wenn auch unter Schmerzen! Vielleicht gerade deshalb sollten wir
- bei der Sehnsucht bleiben, sie nicht verlieren!
Und wenn ihr diese drei Punkte doch wieder vergesst, so merkt euch wenigstens diesen einen Satz des heutigen Evangeliums, den letzten: "Und der geheilte Bettler folgte Jesus auf seinem Weg!" Wer das tut, bleibt auf dem Weg - zum Leben. Amen.
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