Predigt von Bischof Wanke am Tag der deutschen Einheit

Tag der deutschen Einheit 3.Oktober 2000
Ökumenischer Gottesdienst im Erfurter Mariendom
Predigt von Bischof Dr. Joachim Wanke über Joh 4,13-15

"Einen schönen Tag der deutschen Einheit auch!", so rief mir vor wenigen Tagen ein Bewohner des Raphaelsheimes in Heiligenstadt zu, ein Haus für geistig Behinderte. Ich hatte dort mit den Heimbewohnern und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Patronatsfest gefeiert. Und beim Abschied dieser aufgeregte, leicht stotternde Gruß des etwas altklugen Michael! Er weiß, was er der deutschen Einheit zu verdanken hat: Neue Wohnungen für die Heimbewohner, moderne Behindertenwerkstätten, in den letzten Jahren errrichtet, nicht zu vergleichen mit den armseligen Verhältnissen der DDR-Zeit. Gerade in diesem Bereich der Arbeit mit und für Behinderte gab es nach der Wende einen gewaltigen Qualitätssprung, über den man sich nur freuen kann. Kein Wunder, dass Michael mir deshalb diesen Gruß beim Abschied nachrief "... und einen schönen Tag der Einheit auch!"

Wir denken heute an den 3. Oktober 1990 zurück. Ich werde diesen Tag nicht vergessen. Es war ein klarer, sonnendurchfluteter Oktobertag. Ü;ber dem Gottesdienst hier in der Domhalle lag eine besondere Atmosphäre, eine ausgesprochene Festlichkeit. Alle waren sich damals bewusst: Dieser Tag ist eine Zäsur. Ein neues Kapitel der Geschichte unseres Volkes wird begonnen. Dankbarkeit für die errungene Freiheit, Freude über die so lang ersehnte und erbetene Einheit unseres Volkes erfüllte die Menschen. Das war damals keine Stunde banger Fragen.

Heute schauen wir auf 10 Jahre Nachwendezeit zurück. Die damalige Euphorie ist verflogen. Alltäglichkeit hat sich eingestellt. Manche llusionen sind geplatzt wie Seifenblasen, mancherlei Enttäuschungen waren zu verkraften. Das Leben ist weitergegangen, neue Herausforderungen haben sich gestellt und mussten gemeistert werden. Und wer meinte, die Menschen seien nach der Wende alle zu Heiligen geworden, musste ernüchtert feststellen: Der alte, erbsündliche Adam in uns hat die Wende überlebt. Er steckt noch genauso in uns wie damals in der Zeit vor der Wende - hier im Osten wie anderswo.

Also - im Grunde nichts Neues? Gehen die alten Spiele jetzt nur unter veränderten Bedingungen weiter? In vieler Hinsicht: Ja, ohne Zweifel. Aber eine Veränderung spüre ich doch - zumindest hier bei den Menschen in den neuen Ländern. Der Hunger nach Leben ist gestiegen, die Suche nach neuer Lebensqualität hat sich ausgeweitet.

Im Blick auf den Schrifttext, auf die Szene mit der Frau am Jakobsbrunnen (vgl. Joh 4) gesprochen: Die Schöpfeimer, mit denen wir das Wasser des Lebens schöpfen wollen, sind bedeutend größer geworden. Was vor der Wende noch ging und als allgemeiner Standard akzeptiert wurde, das reicht heute nicht mehr. Unsere Bildungshäuser brauchen unbedingt Nasszellen, der Urlaub muss schon mindestens in Spanien sein und die alten Trabis und Wartburgs sind höchstens noch für Nostalgiker von Interesse.

Nichts gegen die vielen Verbesserungen, die wirklichen Qualitätssteigerungen in unserem Leben in den letzten zehn Jahren! Wir sind dankbar dafür - vor allem für das, was letztlich unbezahlbar ist: neue Freiheitsräume, die Weitung unseres Lebens über enge Grenzen hinaus, das Ende von Lüge und Verstellung.

Aber, liebe Mitchristen, liebe Gäste, trotz dieser unbestrittenen neuen Lebensqualität: Sind wir wirklich satt geworden? Ist es nicht vielmehr so, dass nur unser Hunger, unser Durst nach Leben größer geworden ist?

Darum ist es gut, in dieser Stunde des gemeinsamen Gottesdienstes auf die Worte zu hören, die Jesus im Johannesevangelium der Frau am Brunnen, und in ihrer Person auch uns zuruft: "Wer von diesem Wasser trinkt, das Warenhäuser, Reisebüros, die Unterhaltungsindustrie anbieten, der wird bald wieder Durst bekommen!" Ich füge hinzu: Noch größeren! Das ist wie bei Olympia: immer weiter, immer höher, immer schneller - und: immer teurer! Ich sehe auch schon bei uns hier im Osten die ersten "Lebenssucht-Geschädigten"! Ist das der Weg, der uns weiterführt?

Nein, wir müssen das quantitative Denken verlassen. Wir brauchen eine neue, eine qualitativ neue Lebensdefinition jenseits von Verdienst und Konsum, von Produktion und Leistung, so wichtig solche Faktoren auch sind.

Was meint Jesus mit dem Wasser, dass ER zu geben vermag, "Wasser des ewigen Lebens"? Ich übersetze diesen Bildausdruck mit dem Wort: Freundschaft, Gottesfreundschaft. Gern wiederhole ich in Predigten und Vorträgen, wenn es um die hier bei uns im Osten vorfindliche Situation geht, diesen Satz: "Uns macht nicht reich, dass wir viele Dinge haben, sondern dass wir einander haben!"

Lebensqualität misst sich nicht allein an materiellen Dingen oder allein an gestiegenen Möglichkeiten von Selbstverwirklichung. Viele, auch nichtchristliche Zeitgenossen messen Lebensqualität an noch manch anderen Faktoren, etwa dem Gelingen von Beziehungen, von Freundschaft, Partnerschaft, Ehe und Familie. Was wirklich arm machen kann, ja das Leben unerträglich werden lässt, sind weniger materielle Nöte als vielmehr Beziehungsnöte: Aufgekündigte Treue, verratene Liebe, Fallen-Gelassen-Werden gerade dann, wenn man jemanden besonders dringend nötig hätte - das schneidet Leben ab. Das lässt verbittern, das ist Vorwegnahme des Sterbens.

Das Evangelium, die Botschaft Jesu sagt uns:
Es gibt eine Treue, auf die wir uns ganz verlassen können - ob im Leben alles glatt geht oder schief.
Es gibt eine Freundschaft, die vom anderen nicht gekündigt wird - egal ob wir topfit sind oder Versager.
Es gibt eine Liebe, die mich im wahrsten Sinne des Wortes "nachhaltig" trägt - im Leben und im Sterben.

Wir Christen nennen die Quelle, das Grundwasser einer solch lebenseröffnenden Freundschaft, Treue und Liebe - Gott. Jesus sagt - wohl weil er wusste, wie sehr wir Menschen geneigt sind, Gott mit einer Sache, mit einem blassen Abstraktum zu verwechseln - er sagt zu dieser Quelle. Abba, lieber Vater im Himmel. Und er hat uns gelehrt, diesen seinen Vater auch als unseren Vater anzurufen. Gleich werden wir es wieder gemeinsam tun.

Sicher, es stimmt: Auch wer zu diesem Vatergott betet, muss weiter alle Kräfte anstrengen, um im Lebenskampf zu bestehen, und der kann nach der Wende ebenso hart sein wie davor. Und auch wer sich fest in der Gottesfreundschaft, im christlichen Glauben verwurzelt weiß, ist dadurch noch lange nicht gegen alle Tücken und Unbilden des Lebens allianzversichert.

Aber das vertrauensvolle Aufblicken zu dem, den Jesus seinen und unseren Vater im Himmel nennt, befreit uns von der Angst um uns selbst, von der Angst, nicht genug, nicht alles vom Leben mitzubekommen. Dieser Glaube an Gott macht uns frei, auf das richtige Leben mitten im falschen zu hoffen, uns für ein solches Leben einzusetzen, es in kleinen Schritten, mit bescheidenen Möglichkeiten zu antizipieren, es vorwegzunehmen - und das allen Bedenkenträgern zum Trotz. Dieser Glaube gibt uns Mut, etwas füreinander und für eine gute Zukunft zu wagen, auch und nicht zuletzt durch eine gute Politik.

Das Wasser des Lebens, das Jesus vermittelt, schenkt Lebensqualität auf einer höheren - oder wenn Sie wollen: auf einer tieferen Ebene. Hier geht es um Leben, das sich angerufen weiß von dem, der unser lebenshungriges Herz erfunden hat: Gott, unser Schöpfer und Erlöser. Und dieser Lebenserfinder will uns nicht zum Narren halten. Er will auf seine Weise und mit seinen Möglichkeiten unseren Lebensdurst auf Dauer löschen. Bei manchen schönen Dingen, die uns Gott hier auf Erden erleben lässt, ahnen wir, wie das gehen könnte. Er hat ja noch mehr "Wendeerlebnisse" in petto als jene vor zehn Jahren!

Gottesfreundschaft - diese "Beziehungskiste", das ist das Wichtigste, was wir zum Leben brauchen. Wir brauchen diese Freundschaft als je Einzelne, wir brauchen sie gemeinsam als Volk, wenn denn unsere Zukunft menschlich bleiben soll. Jede gelungene mitmenschliche Beziehung ist ein Abglanz, ein Vorgeschmack dessen, was einmal auf Ewigkeit unseren Durst löschen wird.

Kennen Sie das? Manchmal kann eine Wohnung "übermöbliert" sein. Da hilft nur, einen Container zu bestellen und sich von manchen Dingen, auch liebgewordenen zu trennen. Man kann an Quantitäten ersticken. Auch ein Menschenleben, eine Gesellschaft kann "übermöbliert" sein. Verstellen uns die vielen Dinge, die wir alle noch mitbekommen und haben wollen, den Blick auf das eigentlich Schöne und Kostbare im Leben?

Nochmals: Nicht dass wir viele Dinge haben, macht uns reich, sondern dass wir einander haben. Und dass wir IHN haben, dessen Freundschaft mehr wert ist als alle Lebensversicherungen zusammen.

Als mir Michael, mein behinderter Spezialfreund im Raphaelsheim seinen Gruß zur deutschen Einheit zurief, sah ich ihn im Kreis der anderen Heimbewohner, der Angestellten, der Ordensschwestern stehen. Das Kostbarste am Raphaelsheim sind nicht die neuen Wohnausstattungen und Werkstätten. Das Kostbarste, was den Behinderten wirklich ein Zuhause schafft, sind die Menschen, die dort ihre Zeit, ihre Nerven, ihr Herz für die Behinderten investieren. Mein Michael lebt nicht vom Pflegesatz (allein!), er lebt von der Zuwendung, die andere ihm schenken.

Ob das nicht auch für uns Deutsche in Ost und West, in Nord und Süd gilt, samt den Ausländern und Gästen in unserer Mitte? Wir leben nicht vom Solidaritätszuschlag (allein!), sondern von jeder menschlichen Zuwendung, die wir einander schenken. Und das gilt für den kleinen Lebenskreis des Privaten ebenso. Ich schlage vor: Sagen Sie es heute einmal einem Menschen an ihrer Seite, durch Worte oder Zeichen: "Gut, dass es dich gibt! Du machst mein Leben reich!" Dies Gott zu sagen - können Sie jetzt gleich anfangen. Amen.



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