Ökumenisches Hainich Klinikum: "Ein herausragender Ort menschlicher Solidarität"

Grußwort von Bischof Joachim Wanke auf dem Festsymposium zum 90-jährigen Bestehen der Klinik am 6.12

Im Jahr 2002 hat die Caritas, der Wohlfahrtsverband der katholischen Kirche in Deutschland mit dem bundesweiten Jahresthema "Mittendrin draußen: psychisch krank" einen immer noch vorhandenen Tabubereich unserer Gesellschaft aufgegriffen.


Die Reaktionen der Menschen auf das Stichwort "psychische Krankheit" sind ambivalent.

Auf der einen Seite schämt man sich solcher Krankheiten, versteckt oder leugnet sie. Heute las ich die Schlagzeile in der Zeitung, Erwachsene wollen psychische Leiden der Kinder nicht wahrhaben. Auf der anderen Seite findet eine psychische Erkrankung durchaus auch Anerkennung als ein Defekt, der ähnlich wie ein Knochenbruch oder ein Krebsgeschwür zu heilen ist. Irritation gibt es freilich dann, wenn dies nicht so schnell möglich ist wie bei anderen, "normalen" Erkrankungen.


Selbstverständlich ist also die Zuwendung zu Menschen mit einer psychischen Erkrankung nicht - besonders wenn daraus dauerhafte Beeinträchtigungen erwachsen. Wenn ein Krankenhaus wie dieses hier in Mühlhausen auf 90 Jahre Engagement für solche Zuwendung zurückblicken kann, ist es mehr als angebracht zu danken und die Mühen und Sorgen der hier Tätigen anzuerkennen.


Bei allen heute vorhandenen Problemen wächst gottlob die Zahl derer, die sich gegen die Ausschließung von psychisch Erkrankten aus der Gesellschaft wenden. Das ist auch Ihrem engagierten Einsatz, liebe Pfleger, Schwestern und Ärzte zu danken.


Eigentlich gilt die Zuwendung der in diesem Bereich Tätigen nicht nur den Patienten, mit denen sie auf Station oder während der Behandlung konfrontiert sind. Sie gilt auch den Personen aus dem Umfeld der Patienten, die sich oft sehr vorschnell als "normal" verstehen. Was heißt eigentlich "normal"? Die Reife einer Gesellschaft zeigt sich u. a. darin, wie sie mit psychisch Kranken umgeht. Gerade im Bereich von psychischen Erkrankungen gibt es für die Außenstehenden viel Lernbedarf, und wenn es nur die Bereitschaft ist, sich nicht vorschnell in die Leidensgeschichte des Kranken einzumischen und sie gar zu deuten.


1. Sie kennen alle das Buch Ijob aus der Bibel. Der gerechte und fromme Ijob wird von Gott geprüft, ob er auch im Leid seine Frömmigkeit durchzuhalten vermag. Interessant ist das Verhalten der Freunde des Ijob. Sie hören von seinem Unglück und kommen, ihre Teilnahme zu zeigen und ihn zu trösten. Die Bibel erzählt , dass sie 7 Tage und 7 Nächte bei ihm blieben, ohne ein Wort mit ihm zu sprechen: "weil sie sahen, dass sein Schmerz übergroß war". Leid lässt sich nicht theoretisch verstehen, sondern nur praktisch bestehen. Das Leid entfremdet - von sich selbst, von den Mitmenschen, von Gott. Es gibt die Erfahrung, von Gott und den Menschen verlassen zu sein - eine Erfahrung, die gerade psychisch kranke Menschen immer wieder machen. Ich denke an den Schrei Jesu am Kreuz: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?"


Für sich allein betrachtet ist das "Kreuz" als Inbegriff des Leidens ein Fiasko. Es ist rein innerweltlich betrachtet letztlich sinnlos, es sei denn, man misst ihm eine gewisse therapeutische oder pädagogische Bedeutung zu. Der Christ stellt das Leiden entschlossen in den Sinnhorizont der Auferstehung Christi. Der Christ sagt: Es gibt ein Leben über die Situation des Leidens und Sterbens hinaus. Es gibt "richtiges" Leben inmitten des "falschen", wie es Th. W. Adorno einmal formuliert hat. Leiden und österliche Hoffnung gehören in der Bibel unlösbar zusammen.


2. Die Aussagen der Bibel helfen auch dort weiter, wo sich im Engagement mit den Leidenden und Kranken Menschen mit unterschiedlichem religiösen Glauben und unterschiedlichen Weltanschauungen begegnen.


Zu den eindrucksvollen Geschichten des Neuen Testaments gehört die Erzählung vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,25-37). Diese Parabel ist auch vielen nichtchristlichen Menschen bekannt und in ihrer Aussage akzeptiert. Dabei scheint es schon kein Aufsehen mehr zu erregen, dass die zentrale Gestalt, über deren Handeln in nüchterner Protokollform berichtet wird, gar nicht dem auserwählten Volk angehört. Für uns als Mitglieder einer Kirche, besonders für uns Priester liegt darin eine Provokation. Der Priester, der Levit gehen in dem Gleichnis Jesu bekanntlich an dem Ausgeplünderten am Wegesrand vorbei. Der Samariter, also der "Andere", der nicht einmal zum eigenen Volk gehört, der sieht nicht nur das Leiden und die Hilfsbedürftigkeit des unter die Räuber Gefallenen, sondern im Text steht: "Als er ihn sah, hatte er Mitleid."


Diese Geschichte ist für mich Anlass, die Solidarität, die selbstverständliche Hilfsbereitschaft, das Engagement, die Mitmenschlichkeit der vielen nichtchristlichen Menschen in unserer Gesellschaft nicht nur wahrzunehmen, sondern dafür von ganzem Herzen dankbar zu sein.


Ein christliches Krankenhaus ist von sich aus keine Gewähr für Menschenfreundlichkeit. Sich anrühren lassen von der Hilflosigkeit des Kranken und so zu handeln, das dieser in seiner Würde nicht verletzt wird, das bedarf Menschen - Christen und Nichtchristen - die nicht nur über das entsprechende Fachwissen und über Handlungskompetenz verfügen, sondern die diese ganz feine "Witterung" für die Hilfsbedürftigkeit und Angewiesenheit des Menschen auf andere haben, ohne diese Situation auszunutzen.


"Mitleid-haben" geht über berufliche Fachkenntnisse hinaus, und seien sie noch so vorzüglich. Patienten spüren genau, ob bei einem Mediziner auch das Herz mitspricht.


"Sich anrühren lassen" - freilich nicht so, dass diese "Rührung" uns handlungsunfähig macht - bedeutet doch, sich mit Kranken solidarisch zu fühlen, in deren konkreter Situation.


Ich weiß, Begriffe wie "Christliches Krankenhaus" oder "Ökumenisches Krankenhaus" hat manche unter Ihnen unruhig gemacht. Das Gleichnis vom Samariter kann helfen, solche Ängste abzubauen. In diesem Gleichnis wird ein Menschenbild beschrieben, dass solche Häuser wie das ökumenische Hainich-Klinikum auszeichnen sollte. Es ist ein Menschenbild, dem auch nichtchristliche Menschen zustimmen können.


Wo kann man die Begrenztheit des Menschen intensiver erfahren als in der Krankheit? "In Grenzen leben müssen", "Grenzen akzeptieren müssen", das ist für mich ein anderes Wort für Kreatürlichkeit. Wir sind keine Götter. Wir sind geschaffene und somit begrenzte Wesen. Die eigentliche Lebenssicherung auf Dauer liegt noch vor uns.


Christen wissen um diese Kreatürlichkeit, um diese Erbarmungswürdigkeit der Menschen. Ich bitte die Nichtchristen unter Ihnen: Nehmt uns, die wir uns zum christlichen Gottesglauben bekennen, dabei in die Pflicht!


3. Ich erwähne noch diesen weiteren Gedanken:

Der Samariter im Gleichnis hilft nicht nur punktuell. Er hilft "nachhaltig"! Er bringt den Verletzten in der Herberge unter, damit er sich auskurieren kann. Unsere Krankenhäuser sind mehr als Reparaturanstalten. Hier begegnet man nicht nur dem Patienten als einem Fall, in dem aktuell geholfen werden muss und geholfen werden kann, sondern einem Menschen mit seiner Geschichte. Um ein sinnvolles und menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, bedarf es Schwestern und Ärzte, die über die Behandlungsdauer hinausblicken, die den Patienten in seiner Lebensgeschichte sehen und ihn im Wissen um diese Lebensgeschichte begleiten, die sich z. B. auch fragen, wie es dem Patienten später gehen wird, wenn er das Haus verlassen wird.


4. Auf einen letzten Punkt macht diese biblische Geschichte noch aufmerksam. Eigentlich wissen wir nichts über den Mann, der unter die Räuber fiel. Wir wissen nichts über seine mögliche Religion und Weltanschauung oder über seine Herkunft. Er ist gleichsam anonym. Er ist "nur" Mensch. So ist neben der Annahme der Kreatürlichkeit, neben der "Nachhaltigkeit" der Fürsorge auch ausgesagt: Der Mensch, wer immer er konkret ist, ist als Mensch zu respektieren. Die Würde und Achtung kommt ihm einfach deshalb zu, weil er Mensch ist.



Diese drei Kriterien können die Messlatte für ein Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft sein: Zuwendung zu unseren Patienten aus der Haltung der Empathie heraus, im Bemühen um Nachhaltigkeit in der Hilfe und im Wissen darum, dass auch der psychisch Kranke eine Würde hat und behält, die ihm niemand nehmen kann. Dabei weiß ich, dass es immer schwieriger wird, vor diesen "Maßstäben" zu bestehen. Budgetdeckelung, Personalknappheit, Verweildauer und was es noch alles an Problemfeldern gibt, sind Lasten, die uns drücken. Ich hoffe: nicht erdrücken.


Der Dienst an den Kranken und damit auch das Krankenhaus selbst sind und bleiben in der Gegenwart und für die Zukunft für Christen und Nichtchristen herausragende Orte menschlicher Solidarität. Sie bleiben Orte der Nächstenliebe - auch in Zeiten hochmoderner Medizin. Dass das ökumenische Hainich-Klinikum auch in Zukunft ein solcher Ort konkreter Menschen- und Nächstenliebe bleibt, wünsche ich sehr. Für diesen Dienst tätiger Nächstenliebe danke ich Ihnen allen und ich erbitte Ihnen dazu von ganzem Herzen weiterhin Gottes Segen.



link