Erfurt (BiP). Verreist eine Königin, wird nicht nur ein Köfferchen gepackt. Erst recht nicht, wenn es sich um die Königin der Glocken handelt: die Gloriosa, die größte, frei schwingende mittelalterliche Glocke der Welt. Das Schmuckstück des Erfurter Domes muss bekanntlich nach Nördlingen in eine Glockenschweißerei, um an ihr einen acht Zentimeter langen Haarriss am unteren Glockenrand zu schweißen. Ohne Reparatur dürfte die Gloriosa nur noch schweigen; sie drohte sonst beim Läuten zu zerreißen.
Die Reisevorbereitungen sind gewaltig. Weil es den mittelalterlichen Baumeistern undenkbar schien, dass die Gloriosa eines Tages wieder ihre Glockenstube verlassen muss, gibt es keinen Ausgang für die 11,5 Tonnen schwere und zweieinhalb Meter hohe Glocke. Darum werden nach Pfingsten in luftiger Turmhöhe Kernbohrungen an den Mauern der Glockenstube durchgeführt. In die Bohrlöcher kommen Stahlträger, die einem Fassadengerüst als Unterlage dienen, auf dem Bauarbeiter später mit Diamant-Kettensägen die Öffnung der Schallluken erweitern. Das wird dann der Ausgang für die Gloriosa sein. Unter der Glocke lässt das Dombauamt Schienen in Richtung Maueröffnung verlegen, darauf kommt ein Schienenwagen und auf diesen wiederum die Gloriosa, die so auf eine zuvor an der Außenmauer errichtete Konsole geschoben werden lann. Von dort hebt ein 250-Tonnen-Schwerlastkran die Glocke aus der Glockenstube und setzt sie für den Transport nach Nördlingen auf einen Tieflader.
Was sich wie ein Kinderspiel anhört, ist in Wirklichkeit ein hoch kompliziertes und bisher noch nie durchgeführtes Unternehmen. Erfahrungswerte gibt es nicht, und alle technischen Hilfsmittel, die zur Anwendung kommen, sind Spezialanfertigungen. Nach den Planungen des Dombauamtes wird der Tag der Tage für die Gloriosa der 8. Juli sein. Dann verlässt sie zum ersten Mal und auf den Tag genau 507 Jahre nach ihrem Guss auf dem Erfurter Domberg die Glockenstube des Domes. Gute Reise und eine gute Wiederkehr - das wünschen sicherlich nicht nur die Erfurter der Gloriosa.