Erfurt (BiP). Auf persönliche Einladung von Bischof Dr. Joachim Wanke fand am Abend des 8. Oktobers ein Empfang für Persönlichkeiten aus den Bereichen Kunst und Kultur im Coelicum über dem Kreuzgang des Erfurter Domes statt. Nach einem Empfang für Vertreter aus Kultur und Wissenschaft im Kulturstadtjahr 1999 war es der zweite Kulturempfang des Bistums Erfurt. Im Mittelpunkt des Abends stand ein Vortrag des Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Professor Dr. Hans Joachim Meyer, zum Thema "Begegnungen auf dem Wege zum Menschen. Zum Verhältnis von Kirche und Kultur". Im Folgenden ist der Vortrag von Prof. Meyer dokumentiert.
Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken
Begegnungen auf dem Wege zum Menschen.
Zum Verhältnis von Kirche und Kultur
In einem Bauwerk wie dem Kreuzgang des Erfurter Doms über das Verhältnis der Kirche zu Kunst und Kultur zu sprechen, ist eine Ehre und eine Herausforderung zugleich. Und ein nicht geringer Teil der Herausforderung ist eine Versuchung. Diese Versuchung besteht darin, den Zusammenklang von Kirche und Kultur, wie er in diesem ehrwürdigem Bau beispielhaft für viele Werke der Kunst und Architektur, die in vergangenen Jahrhunderten entstanden, zum Ausdruck kommt, als Selbstverständlichkeit zu nehmen, als eine Norm, an der anderes zu messen ist. Es kann nicht wundern, dass viele in der Kirche an ihrem Begriff von Kultur und an ihrem Verständnis von Kunst festhielten, als die Ü;bereinstimmung von Kirche und Kultur schon zerbrochen war. Was sich auftat, erschien in Inhalt und Form als eine Gegenwelt, die als bedrohlich empfunden wurde. Andere meinten, dass, wenn die Kirche einen Zugang gewinnt zur neuen und ungewohnten Formensprache, sie damit auch wieder eine feste Brücke bauen könnte zur ihr in der Neuzeit entwachsenen Kunst und Kultur - eine Brücke, die vielleicht auch wieder zu einer Einheit helfen könnte. Gewiss bleibt dieser Brückenschlag wichtig, weil er wieder hinüberführen kann in eine Welt, die der Kirche fremd geworden ist. Es ist, als wenn man eine Sprache lernt, um mit den Menschen eines unbekannten Kontinents in Kontakt zu kommen. Freilich kann so auch die schöne, weil angenehme Täuschung entstehen, man stünde im Dialog, wo man in Wahrheit doch eher ein Selbstgespräch führt.
Am Anfang eines redlichen Verhältnisses zwischen Kirche und Kultur muss daher die Einsicht stehen: Schon lange gehen Kirche und Kultur eigene Wege. Es gibt Christen in Kunst und Kultur und für diese, aber durchaus nicht nur für diese können Themen und Impulse vom Christlichen ausgehen. Davon zeugen eindeutig oder verdeckt auch heute noch Werke von Kunst und Literatur. Aber es gibt in unserer Zeit keine christliche Kunst und keine christliche Kultur als relativ klar konturierte Phänomene der gesellschaftlichen Wirklichkeit neben der nichtchristlichen Kultur. Kirche und Kultur sind seit geraumer Zeit in der Welt von heute unabhängige Größen mit ihrer je eigenen Geschichte und ihren je eigenen Handlungsstrukturen und Bewegungsimpulsen. Die Kirche hat sich im Verhältnis zur Entwicklung von Kunst und Kultur lange darauf beschränkt, neu entstehende Formen und Bildwelten in ihr Leben zu integrieren. Zweifellos bleibt dies notwendig, denn der Glaube muss sich immer wieder neu in Bildern, Zeichen, Formen und Gesten äußern, um die Menschen in ihrer Zeit zu erreichen. Und Christen in Kunst und Kultur tragen dadurch ihrerseits zum Gesicht des kulturellen Lebens der Gegenwart bei. Das ändert jedoch nichts an der Unabhängigkeit der modernen Kunst und Kultur. Diese anzuerkennen und als wesentliches Element unserer Gesellschaft zu begreifen, ist für die Kirche eine unabdingbare Voraussetzung.
Freilich hebt dies auch die Unabhängigkeit der Kirche nicht auf, ihren eigenen unverwechselbaren Wert und den Rang der Botschaft, die ihr für die Menschen von Christus aufgetragen ist. Die Unabhängigkeit von Kunst und Kultur anzuerkennen, schafft also nicht eine neue Harmonie - diesmal auf Kosten der Botschaft des christlichen Glaubens. Unabhängigkeit ist immer auch Andersartigkeit und mithin jedenfalls bis zu einem gewissen Grade wechselseitige Fremdheit. Und da die Kirche der Botschaft treu bleiben muss, durch die sie ins Leben gerufen wurde und auf die sie ihre Existenz gründet, Kunst und Kultur aber in einer freiheitlichen Gesellschaft ihre Inhalte und Absichten selbständig formulieren können, besteht zumindest potentiell auch Konflikt und Gegnerschaft zwischen Kirche und Kultur. Dies sagen heißt in einer freiheitlichen Gesellschaft eine Normalität aussprechen. Wichtig für den inneren Zustand der Gesellschaft ist jedoch, dass Unterschied und Gegensatz im Dialog behandelt und aufgearbeitet werden. Das beseitigt nur selten den Konflikt, aber eine dialogische Partnerschaft kann ihn für beide Seiten fruchtbar und anregend machen.
Was begründet nun aber die Erwartung, ein Dialog zwischen Kirche und Kultur könne für beide Seiten fruchtbar sein? Was ist Thema und Sinn einer solchen Beziehung? Der gemeinsame Grund, auf dem sich Kirche und Kultur - unbeschadet ihrer Eigenart und ihrer Unabhängigkeit - treffen, ist, dass es beiden um den Menschen geht und um seine Beziehung zum Mitmenschen. Dieses Interesse am Menschen und an dessen Verhältnis zum anderen Menschen findet seinen Ausdruck in den Begriffen der Identität und des Dialogs. Der Begriff der Identität verbindet unterschiedliche Dimensionen. Gegen die Erfahrung der Einbindung und Unterordnung in Kollektivgebilde wie Masse, Rasse oder Klasse betont Identität den Rang des Individuums, seine Selbstbestimmung, seine Eigenverantwortung und seine Kreativität. Zugleich vereint Identität mit anderen zur Gemeinschaft. Es gibt keine geistige Identität, die wir nicht zumindest in Elementen mit anderen teilen und mit anderen leben. Es gibt keine kulturelle Identität einer Gemeinschaft, die sich nicht mit der Identität anderer Gemeinschaften vernetzt und verschränkt. Niemand kann thüringische, sächsische oder bayrische Identität denken, ohne diese als Teil der deutschen Identität zu sehen. Und deutsche Identität ist wiederum nicht anders zu denken denn als Teil der europäischen Identität und im weltweiten Zusammenhang. So ist Identität immer zugleich Abgrenzung von anderen und Verbindung mit anderen. Identität ist Produkt der Geschichte und Haltung zur Gegenwart. Ohne Identität verlieren wir uns in den Angeboten und Auseinandersetzungen der Gegenwart und im Strom der Geschichte. Wer seine Identität aufgibt oder wegwerfen will, wie das bei einigen in Deutschland für schick gilt, wird keine Brücke bauen können in die Zukunft. Freilich kann Identität für sich genommen statisch und trennend sein. Verharrt sie allein im Ü;berkommenen und Vergangenen, ist sie allein auf sich fixiert und auf ihre eigene Prägung, dann wird der Andere leicht zum Fremden und zum Feind, das Neue wird zur Bedrohung, Gegenwart und Zukunft werden zur Gefahr und der eigene Anspruch zur Bedrohung der Anderen. Identität wird dagegen offen, dynamisch und entwicklungsfähig im Austausch und Dialog mit anderen. Dialog setzt Identität voraus. Aber Dialog mit sich selbst ist in Wahrheit ein Selbstgespräch. Wirklicher Dialog ist dagegen ein Gespräch mit Anderen und die Konfrontation mit dem Unterschied. Dialog ist daher auch immer Spannung und potentieller Konflikt. So wie Toleranz, wenn man den Begriff ernst nimmt, das Festhalten an der eigenen Ü;berzeugung voraussetzt, die dennoch die andere Ü;berzeugung achtet und nach Gemeinsamen sucht, so ist auch der Dialog keine Harmonie, die durch Selbstaufgabe oder Verschweigen des Gegensatzes etabliert wird. Wirklicher Dialog ist spannungsvoll. Er setzt Gemeinsames voraus oder will Ü;bereinstimmung erreichen und handelt doch ganz überwiegend vom Trennenden, wenn nicht sogar vom Widerspruch. Dialog wird fruchtbar in der Interaktion und Kooperation, die von Gemeinsamen ausgeht, und wenn es nur die Ü;bereinstimmung in bestimmten Motiven und Interessen ist, und die Unterschiede und Gegensätze im praktischen Handeln überbrückt. Nicht selten, so hat uns die Geschichte gelehrt, finden die Menschen in der Praxis ihres Lebens zusammen, bevor sie auch eine ideelle Basis ihres Zusammenlebens finden. Dennoch bleibt das gedankliche Mühen im Dialog und in der Kooperation unverzichtbar und von hohem Rang. Denn, wie die Gegenwart auf dem Balkan in schrecklicher Weise lehrt, kann auch geschichtlich gewachsenes Nebeneinander und Miteinander durch Ideologien in kurzer Zeit zerstört werden. Und in ethnischen, nationalen oder rassischen Konflikten werden auch Religionen als Ideologien missbraucht. Auf dem Balkan wurde das gute Erbe von Jahrhunderten in wenig mehr als einem Jahrzehnt verschleudert, weil Nachbarn nur noch das Trennende sahen und das Gemeinsame vergaßen.
Die geistige und die tätige Dimension wirken zusammen, wenn sich Identität und Dialog in der wechselseitigen Haltung und Interaktion verwirklichen und der wechselseitige Zusammenhang von Identität und Dialog wesentliche Eigenschaften des Menschen zur Kultur begründet. Identität ist das Produkt von Kultur im Ergebnis der Geschichte. Und Dialog ist der dynamische Prozess der Kultur, in dem die Identität wieder aufgebrochen und weiter geformt wird. Die Nähe von Kultur und Kirche ergibt sich daraus, dass sich die Christen als das Volk Gottes begreifen, das auf der Wanderschaft durch die Geschichte ist. Auch auf dieser Wanderschaft kommt es, wie wir nur zu gut wissen, immer wieder zu Verhärtungen und Konflikten. Aber die Notwendigkeit, die Frohe Botschaft, die uns von Jesus Christus aufgetragen ist, den sich abwechselnden Generationen und Geschichtsperioden immer wieder neu zu sagen - also Antworten aus dem Glauben zu finden auf die Fragen, die jede Zeit neu stellt und gewichtet - dieses Ringen um die verständliche Formulierung der Wahrheit, an die wir glauben und von der wir überzeugt sind, bricht Verhärtungen und ideologische Erstarrungen auch wieder auf und ermöglicht immer wieder einen neuen Anfang. Lebendige Kirche und gelebter Glaube sind also notwendig dynamische Größen. Darum ist für die Kirche gerade das Verhältnis zu einer Kultur, die ihr als unabhängige Größe gegenübertritt, so bedeutsam, ja, so existentiell wichtig. Denn durch die Kultur erfährt sie authentisch die Wirklichkeit der Gegenwart - jedenfalls einer Gegenwart, die sie nicht prägt und mithin vielleicht auch gar nicht kennt, einer Gegenwart, vor der die Kirche, die ja selbst eine geschichtlich gewachsene und in sich geschlossene Größe ist, gern die Augen verschließt, insbesondere, wenn sie deren Realität als abweisend oder uninteressiert empfindet. In der Kultur der Gegenwart begegnet die Kirche dem Menschen dieser Zeit, der oft Kirche und Glauben fern steht, dem sie aber die Frohe Botschaft verkünden und ihren Glauben bezeugen will, weil sie sonst ihrem Auftrag untreu wird.
Wegen dieser authentischen Erfahrung der gegenwärtigen Gesellschaft ist der Kirche auch der ganzheitliche Begriff von Kultur so wichtig. In dieser Gesellschaft, die sich zur Freiheit bekennt, ist nur weniges verbindlich. Und keine rechtliche Norm hat Bestand, die sich nicht auf einen Konsens in den Wertüberzeugungen stützen kann. Eigeninteresse und Mitmenschlichkeit stehen - zumindest potentiell - in einem ständigen Konflikt, wie uns die gegenwärtige bioethische Debatte dramatisch vor Augen führt. Da ist es um so wichtiger, dass die Menschenwürde als Grundwert der Gesellschaft jeder Zeit geachtet, hervorgehoben und geschützt wird. In einer kulturpolitischen Erklärung hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken im November 1999 auf den Zusammenhang zwischen Kultur und Menschenwürde hingewiesen. Aus dieser Erklärung möchte ich auszugsweise zitieren:
"Kultur ist Verwirklichung des menschlichen Wesens. Sie entsteht, weil der Mensch zur Selbstüberschreitung durch Sprache und andere Ausdrucksformen in der Lage ist. Die Fähigkeit, sich selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen, nötigt ihn zu Auseinandersetzungen mit seiner eigenen Endlichkeit. Hier liegt die anthropologische Quelle aller Religion. ...
Kultur prägt gemeinschaftliches Leben; deshalb hängt die Lebensfähigkeit einer Gesellschaft direkt mit ihrer Entwicklung und Pflege zusammen. Gemeinschaften und individuelle Lebensgeschichten bedürfen stützender und identitätsstiftender Ausdrucksformen. Dies wird um so wichtiger, je mehr sich in einer durch Technik und Wirtschaft globalisierten Welt gesellschaftliche Veränderungen beschleunigen und vervielfältigen sowie die Lebens- und Erlebnismöglichkeiten voneinander abweichen.
Kultur ist ... Bestandteil einer humanen Existenz. Sie ist eine Basis gemeinschaftlichen Lebens und deshalb für das soziale Dasein eines Gemeinwesens unverzichtbar. Kultur sichert Traditionen, ermöglicht Innovationen und ist die Voraussetzung für Interaktionen mit anderen Kulturen. ...
Die Kultur trägt, wie die Religion, dazu bei, die Voraussetzungen unseres demokratischen Staates zu erhalten und weiterzuentwickeln, die er selbst nicht schaffen kann. Kultur leistet die ständig notwendige Neubegründung von Werten und der Menschenwürde."
Die Allgemeinheit des Kulturbegriffs lässt für manchen die Bedeutung der Künste zurücktreten. Tatsächlich aber ist die Kunst zusammen mit dem ständigen Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis die Quelle neuen Lebens in der Kultur. Ohne diesen glühenden und immer wieder neu zu unbekannten Möglichkeiten und überraschenden Bewegungen eruptierenden Kern würde die Kultur erkalten und erstarren wie ein alter und erloschener Vulkan - eindrucksvoll, aber inaktiv und ungefährlich. Künste sind Vorboten des Kommenden und Vorahnungen von Chancen und Risiken. Sie integrieren die Gesellschaft durch Selbstvergewisserung und treiben sie andererseits und oft gleichzeitig in Spannungen und Konflikte. Sie repräsentieren das Selbstbild einer Zeit und provozieren Fragen und Kritik gegen vermeintliche Sicherheiten. Die Künste sind nicht zuletzt ein Spielfeld des Menschen und ein Tummelplatz seiner Phantasie. In dem schon erwähnten Text des Zentralkomitees der deutschen Katholiken haben wir geschrieben:
"Die Künste als wesentlicher Bereich der Kultur fangen Wirklichkeit ein, stellen sie dar, machen sie erfahrbar, nehmen Potentiale des Lebens wahr und erweitern Sensibilitäten für Dimensionen außerhalb des Realen. Die Künste sind in der Lage, Bewusstsein zu verändern, können Orientierungspunkte der Identitätssuche sein und Beiträge zur Daseinsdeutung und Daseinsbewältigung geben. Sie tragen bei zur Sinndeutung und zum Persönlichkeitsausdruck und stellen somit wichtige Elemente des individuellen und gesellschaftlichen Lebens dar. Formen geschichtlicher Veränderungen werden hier am ehesten angezeigt und verarbeitet."
Die Beziehungen der Kirche zu Kunst und Kultur sind vielfältig. Zunächst einmal ist die Kirche eine große und unverzichtbare Bewahrerin unseres kulturellen und künstlerischen Erbes. Sie hält geschichtliche und kulturelle Kostbarkeiten im lebendigen Gebrauch, in dem sie diese auch heute noch nutzt, pflegt und vermittelt. Was wäre unsere Gesellschaft ohne diesen Dienst an der Tradition. Aber auch in einer so alten Institution wie der Kirche wandeln sich die Ausdrucksformen des eigenen Lebens in mehr oder weniger bewusst gesuchter Nähe zur Kunst der Gegenwart. Ich nenne hier beispielhaft die Kirchenmusik und die kirchliche Architektur. Die Kirche ist also zugleich eine Anregerin zu neuen kulturellen Leistungen. Meist verbinden sich im Vollzug des kirchlichen Lebens Elemente des Bewahrens und des Erneuerns. Jeder Kirchenbau, der erhalten wird und in der eine Gemeinde lebt, ist ein Beitrag zur Kultur der Gegenwart. Der Gottesdienst, zu dem sich eine Kirchgemeinde versammelt, ist gesellschaftliches und öffentliches Handeln. Jede geisterfüllte liturgische Feier ist ein Bild gemeinschaftlichen Tuns, das einer inneren Haltung folgt. Die Beziehungen zwischen Kirche und Kultur gehen jedoch weit über den institutionellen Rahmen hinaus. An die Stelle konfessionsgebundenen Glaubens, ja sogar an die Stelle christlich geprägter Religiosität ist heute in der Gesellschaft nicht selten eine vage Suche nach dem Heiligen oder Geheimnisvollen getreten, insbesondere wenn diesem der Charme der exotischen Fremde innewohnt. Hier kann die Kirche durch ihre eigene Traditionen in der Mystik und in der Spiritualität zu vergessenen Schätzen der eigenen Kultur hinführen und damit zugleich die Reflexion der Hinwendung zu solchen Formen der Geistigkeit unterstützen. So kann sie den Menschen helfen, sich auf der Suche zu neuen Ufern nicht selbst zu verlieren.
Ein gemeinsames Anliegen von Kirche und Kultur sollte es sein, die künstlerischen Formen und Aussagen der Vergangenheit verstehbar zu halten. "Eine Kultur wird unverständlich, wenn die sie tragenden Vorstellungen, Bilder und Erzählungen nicht mehr im Bewusstsein der Menschen präsent sind," heißt es in dem schon erwähnten Text des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Die Zeichen, Bilder und Erzählungen aus vergangener Zeit sind von der Geschichte der Antike und des Christentums geprägt und angeregt. Ohne diese Traditionen kommen auch die heutige Kunst und Literatur nicht aus, denn das Tradierte ist - wenn auch nicht selten heute unverstanden - weiterhin Teil unserer Sprache und unserer geschichtlich gewachsenen Umwelt. Ein Gang durch eine in Jahrhunderten gewordene Stadt, ein Gang durch Ausstellungen bildender Kunst oder die Beschäftigung mit literarischen Werken führt uns immer wieder auf dieses Erbe zurück. Insbesondere in der Darstellung menschlicher Grenzsituationen wie Schuld, Leid, Angst und Verzweiflung bleiben die alten Symbole, Bilder und Charaktere bedeutsam. Um so wichtiger ist es, dass sie auch heutigen und kommenden Generationen verständlich sind.
Gerade in dieser Zeit, der nach dem Misserfolg gesellschaftlicher Utopien mit geschichtlichem Legitimitätsanspruch und durch den raschen und unüberschaubaren Wandel aller Lebensformen der Verlust der geschichtlichen Erinnerung droht, ja, in der sogar der Wille zur Geschichtslosigkeit an Einfluss gewinnt, darf die Weitergabe geistiger Erfahrungen und Einsichten nicht abreißen. Ü;berdies droht nach dem Scheitern des Versuchs der perfekten Gesellschaft heute der Versuch des perfekten Individuums. Eine Kultur, die nicht nur um die Höhen des Menschen weiß, sondern auch um seine Tiefen und Abgründe, ist der sicherste Schutz gegen die Versuchung zu neuer Hybris. Wer an der Würde von Leid und Tod festhält und an der Menschlichkeit von Trost und Trauer, der wird die Würde des Menschen auch gegen die Gefahren genetischer Selektion und Perfektionierung verteidigen.
Kirche und Kultur stehen sich heute unabhängig gegenüber und nicht selten verhalten sie sich zueinander wie Fremde. Aber sie begegnen sich immer wieder auf dem Wege zum Menschen. Möge auch der heutige Abend eine Begegnung auf unseren unterschiedlichen Wegen zum Menschen sein.
Zum Grußwort von Bischof Wanke zur Eröffnung des Kulturempfangs bitte hier klicken>
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