Während des Eröffnungsgottesdienstes der bundesweiten Weihnachtsaktion des Lateinamerika-Hilfswerkes ADVENIAT, sprach die Psychologin María Lourdes Álvarez einleitende Worte. Die Predigt hielt Kardinal Alvaro Ramazzini.
Einleitende Worte von María Lourdes Álvarez, Kolumbien
Mein Name ist María Lourdes Álvarez. Ich lebe und arbeite als Psychologin an der kolumbianischen Grenze zu Panama und begleite dort im Namen des Bistums Apartadó die vielen Tausende an Flüchtlinge in ihren Alltagssorgen. Es geht leider sehr oft um Leben und Tod.
Ich habe hier einen kleinen Teddybär mitgebracht. Er drückt für mich das ganze Elend der Flüchtlinge aus, mit denen ich tagtäglich zu tun habe. Es geht um Flüchtlinge, die gegen ihren Willen und auf unmenschliche Art und Weise ihr Land verlassen müssen. Durch Armut, Elend, Gewalt und Perspektivlosigkeit sind sie dazu gezwungen. Seit vielen Jahren ziehen Flüchtlingsströme verschiedener Nationalitäten, besonders aber Venezolaner, Ecuadorianer, Kubaner und Haitianer, Männer und Frauen, Kinder, Jugendliche, jüngere und ältere Erwachsene, durch Kolumbien – auf der Suche nach der Möglichkeit, menschenwürdig zu leben.
Die Familien müssen durch unser Bistum, um sich dann auf einen lebensgefährlichen Dschungelweg von über 100 km nach Panama zu begeben. Dort lernte ich in einem kleinen Laden eine Familie aus Venezuela kennen, die schon ganz Südamerika durchlaufen hatte, um nur irgendwie und irgendwo ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Diese Familie, mit einem 8-Monate-alten Baby, bettelte um Essen. Das Baby hatte immer diesen Teddybär in der Hand: der Vater sagte, dass sein Sohn nur mit diesem Bärchen schlafen konnte. Und dennoch – für etwas Essen verschenkte die Familie auch diesen Teddybär. Sie waren nicht davon abzubringen, drängten den Teddy anzunehmen, um ihren Dank zu zeigen und einen letzten Rest an Würde zu wahren. Wie groß muss die Not dieser Familie gewesen sein! – Wie groß die Sehnsucht nach Überleben, nach menschenwürdigem Leben!
In Solidarität mit den vielen Menschen auf der Flucht, insbesondere in Lateinamerika, möchten wir diesen Gottesdienst feiern.
Predigt von Kardinal Alvaro Ramazzini
Die erste Lesung zeigt uns den Dialog zwischen Jahwe und dem Propheten Jesaja. Es sind Betrachtungen über die Geschichte Israels. Sie erinnern an die Barmherzigkeit Jahwes, an seine Güte, seine Liebe und sein Erbarmen. Jahwe ist der Hirte der Herde Israels, derjenige, der ihnen seinen Geist gegeben hat. Aber vor allem ist er der Vater, der sich kümmert und beschützt, der befreit und vergibt.
So hat es auch Jesus gelehrt: „Wenn ihr betet, sagt ‚Vater‘“.
Es ist höchst interessant, dass in der Tradition der indigenen Völker Guatemalas gelehrt wird, dass Gott Vater und Mutter ist. Dabei wird in besonderer Weise zum Ausdruck gebracht, dass Gott Leben gibt und schenkt.
Daran erinnert uns der Gruß des Apostels Paulus, den wir in der zweiten Lesung gehört haben: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus“.
In der Geschichte des Christentums wurde seit dem ersten Jahrhundert eine Wahrheit nachdrücklich bekräftigt, die wir in unserer Zeit oft vergessen: Wir sind alle Brüder und Schwestern, denn wir haben denselben Vater. Ein Gott der uns mit der Liebe einer Mutter liebt. Deswegen ist in der Kirche niemand ein Fremder. Wir alle sind Geschwister.
Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Egoismus und ethnische Auseinandersetzungen sind heutzutage eine der größten Sünden. Sie widersprechen absolut der Identität Gottes. Sind wir uns dessen bewusst?
Wenn ich kein Kardinal oder Bischof wäre, würde man mich dann mit der gleichen Sympathie und Herzlichkeit behandeln, wie ich sie bisher erfahren habe? Verzeihen Sie mir, dass ich diese Frage stelle. Vielleicht ist es ein schlechter Gedanke.
Ich komme aus einem Land, in dem sich achtundneunzig Prozent der Menschen als Christinnen und Christen bezeichnen. Und dennoch werden viele Menschen in Guatemala diskriminiert. Sei es aus ethnischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder, schlimmer noch, religiösen Gründen.
Wäre es bei so viel Diskriminierung dann nicht ehrlicher, zuzugeben, dass man ungläubig ist?
Es gibt eine große Zahl gläubiger Katholiken, Frauen und Männer, für die das Bekenntnis zum katholischen Glauben und die Verteidigung christlicher moralischer Grundsätze das beste Argument sind, um sich als bewusster und verantwortlicher Gläubiger zu definieren. So könnte solch ein Mensch zu Recht im Sinne des Pharisäers im Evangelium antworten: „Ich glaube, was die heilige Mutter Kirche mich lehrt und im Allgemeinen kann ich sagen, dass ich die Gebote halte, daher kann ich mich als guten Christen betrachten, der den katholischen Glauben praktiziert“.
Demgegenüber lassen Sie uns nun über die Migranten sprechen, die vielleicht vor dem Haus oder auf den Straßen der Stadt zu sehen sind. Und wir fragen: „Wie haben Sie reagiert, als Sie sie gesehen haben?“ Oder um es noch direkter zu formulieren: „Wenn dieser Migrant Sie um eine Unterkunft in Ihrem Haus bitten würde, würden Sie ihm oder ihr diese gewähren?“ Oder noch konkreter: „Würden Sie einem Menschen aus Haiti oder Venezuela, Kuba oder aus einem afrikanischen Land, der Sie um Unterkunft und Essen bittet, die Tür zu Ihrem Haus öffnen?“
Ich habe diese Frage gestellt, weil wir in der heutigen Zeit so viele Formen erleben, den christlichen Glauben zu praktizieren, dass es uns am Ende schwerfällt, das Wesentliche vom Unwesentlichen in der Glaubenspraxis zu unterscheiden.
Deshalb haben die Worte des Evangeliums eine unglaubliche Kraft. Sie sind eine Einladung: Seht hin! Das Evangelium, das wir gerade gehört haben, bekräftigt dies dreimal. Es geht um Achtsamkeit und Wachsamkeit!
Als unser Herr und Bruder Jesus Christus von einem Gelehrten des mosaischen Gesetzes gefragt wurde: „Wer ist mein Nächster?“, erklärte es ihm Jesus auf sehr deutliche Art und Weise mit dem Gleichnis des barmherzigen Samariters. Der Nächste ist, wer sich dem anderen als Nächsten nähert. Und zwar demjenigen, der am Boden liegt und von Räubern verwundet wurde.
Achtsamkeit bedeutet und erfordert, die Bedürftigen zu entdecken, zu sehen.
Wachsamkeit bedeutet zu verstehen, dass das Leben einen tieferen Sinn hat: Für mich bedeutet es, nach dem Tod bei Gott zu sein. Diese Überzeugung hilft mir, eine wahrhaft christliche Haltung in meinem Handeln einzunehmen, nämlich frei zu sein von der Sorge um mich selbst und für den Armen und Notleidenden eintreten zu können.
Heute eröffnen wir die jährliche Weihnachtsaktion von ADVENIAT.
ADVENIAT erfüllt als christliches Hilfswerk unter anderem zwei wichtige Aufgaben: Es zeigt den Christinnen und Christen in Deutschland, wer wir sind, die wir auf der Straße liegen und Hilfe und Liebe brauchen. Und gleichzeitig weckt es mit der Verbindung, die während der Aktion – auch finanziell – geschaffen wird, ein tiefes und lebendiges Gefühl der geistlichen Geschwisterlichkeit in der deutschen Gesellschaft und mit den Menschen in Lateinamerika und der Karibik
Aus Guatemala. Aus Lateinamerika, tausend Dank im Namen des Herrn Jesus für diesen Ausdruck wahrer christlicher Nächstenliebe, die einen Namen hat: ADVENIAT.

