Gottesdienst im Erfurter Mariendom am 10.Oktober 2000, 18 UhrPredigt über Joh 15,17: "Dies trage ich euch auf: Liebt einander!"
Im Zusammenhang mit der Diskussion über ein mögliches Verbot rechtsradikaler Parteien kommentierte heute eine Zeitung: "Ein Sieg beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe dürfte leichter zu erreichen sein als ein Sieg in den Köpfen". In der Tat: Politischer Extremismus fängt in den Köpfen an. Oder sollte ich besser sagen: Er fängt in den Herzen an?
Nicht erst wir machen heutzutage die Erfahrung: Von der Verfassung vorgegebene Strukturen wie etwa unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung allein reichen nicht aus, um ein humanes Miteinander in Staat und Gesellschaft zu garantieren. Es braucht dazu Menschen, die diese Grundordnung und ihr Wertesystem zu ihrer je eigenen Sache machen. Eine gelingende Balance zwischen Freiheit und Verantwortung braucht mündige Bürger, die wissen was sie wollen. Humanität und Toleranz, Solidarität und Nächstenliebe werden nicht durch Gesetze garantiert, sondern durch Menschen. In den Köpfen, noch mehr: In den Herzen fängt an, was dann durch Gesetze in geltendes Recht gefaßt wird.
Ob dies nicht auch für das gilt, was wir Caritas nennen, Zuwendung der Kirche zum Mitmenschen im Geist und Auftrag Jesu Christi? Man kann noch so schöne Leitbilder verfassen: Wenn nicht in den Köpfen und Herzen anfängt und grundgelegt wird, was dort festgeschrieben ist, bleibt alles nur Papier.
Nichts gegen Leitbilder! Es ist wichtig, sich gemeinsam zu vergewissern, was man will und anstrebt. Aber es muß das passieren, worum wir in diesem Gottesdienst gebetet haben: "Komm, heiliger Geist, entzünde in unseren Herzen das Feuer deiner Liebe!" Jesus gibt seinen Jüngern und damit auch der Kirche unserer Tage eine Grundordnung mit nur einem einzigen Paragraphen: "Dies trage ich euch auf: Liebt einander!"
Nun ist das mit der Liebe so eine eigene Sache. Man kann sie nicht herbeizwingen. Im Gegenteil: Je mehr man sie beschwört, desto mehr scheint sie sich zu entziehen. Das Gebet der Kirche formuliert darum auch bewußt so: "Entzünde Du in uns das, was Du willst! Schaff Du selbst in uns die Wirklichkeit, den Geist, der alle Leitbilder und Grundordnungen Deiner Kirche mit Leben erfüllen kann!"
Wer so betet, setzt sich einem hohen Risiko aus. Er muß damit rechnen, daß Gott mit der Erhörung solcher Bitten ernst macht. In der Geschichte unserer Kirche ist das immer wieder passiert: Menschen wurden zu Träger eines Feuers, das sie selbst ergriff, des Feuers der Liebe Gottes. Sie wurden zu personifizierter Caritas, die viele andere ansteckte und erwärmte.
Es wird manchmal darüber diskutiert, ob die Caritas sich mehr der strukturellen Not oder stärker individueller Not zuwenden soll. Ihre Tagung heute in Erfurt, die sich mit Fragen eines weltweiten Netzwerkes für Menschen in Not beschäftigt, zeigt, daß mit solchen Zielbestimmungen falsche Alternativen aufgebaut werden. Der Mensch ist immer einer. Er ist Einzelsubjekt und gleichzeitig Teil eines gesellschaftlichen Gefüges, ohne das er nicht leben kann. Die Liebe denkt immer auch strategisch. Sie sieht den Einzelnen, aber sie sieht auch das Geflecht, in dem der andere, die andere lebt, gleichsam den Wurzelgrund etwa einer bestimmten Not. Wichtiger als solche Fragen nach der Zielsetzung caritativer Arbeit, die sicherlich immer neu zu bedenken sind, ist freilich: Wie halten wir das Feuer lebendig? Oder noch radikaler: Wie wird aus der Caritas der Kirche eine Kirche der Caritas?
Liebe entzündet sich in der Begegnung, einer Begegnung freilich, die Nähe zuläßt. Der Priester und der Levit sind in der bekannten Beispielgeschichte Jesu auf der Straße nach Jericho ebenso wie der Samariter dem unter die Räuber Gefallenen begegnet. Aber die beiden ersten ließen keine Nähe zu. Der Samariter dagegen sah ihn - und erbarmte sich. Von Franziskus wird erzählt, daß die Begegnung mit dem Aussätzigen, die Berührung, zu der sich Franziskus zwingen mußte, in ihm seine Bekehrung auslöste. Und da liegt der springende Punkt, der auch uns angeht.
Wir müssen Berührung zulassen. Wir müssen noch mehr "Kirche der Berührung" werden. In Indien gibt es bekanntlich die Kaste der "Unberührbaren". Ich weiß nicht genau, wie sich diese Kastenordnung in Indien begründet. Sie ist, wie man weiß, tief in der Mentalität der dortigen Gesellschaft verwurzelt. Selbst die Christen, die Kirche tut sich schwer mit dieser Mentalität. Der Begriff "die Unberührbaren" bringt auf den Punkt, worum es geht: Daß Menschen von der Chance ausgeschlossen werden, durch Berührung in die Nähe zu kommen, und in dieser Nähe Zuwendung und Erbarmen zu erfahren.
Sie, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, haben mit den "Unberührbaren" in unserer Gesellschaft zu tun, mit den je einzelnen, aber auch mit den Strukturen, die solche Unberührbarkeit hervorbringen. Vieles mag bei uns durch die sozialstaatlichen Vorgaben und Hilfen gemildert sein. Die Not bei uns ist sicherlich nur schwer mit der Not in manchen Hungerländern der Welt zu vergleichen. Aber wirkliche Not läßt sich nicht durch Vergleiche mit anderen mildern. Vergleiche mögen für den Augenblick trösten - aber soziale Isolierung, zerbrochene Beziehungen, ständiger Kampf um das Minimum, um Lebenssicherung und Anteilhabe am Notwendigsten können mürbe machen. Ja, es gibt auch hier bei uns "die Armen" des Evangeliums, wobei diese Armut vielgestaltig ist und nicht immer materielle Armut ist.
Meine Einladung geht an unsere Pfarrgemeinden, unsere Verbände und Gemeinschaften, Berührungen zuzulassen mit denen, in denen uns Christus der Herr selbst begegnen will. Fernstenliebe bleibt immer abstrakt. Der Hilfeleistung, die bloß strukturell denkt, droht die Gefahr, das "Feuer" auszugehen. Wer sich der Berührung mit der konkreten Not aussetzt, dem kann geschenkt werden, wovon das Evangelium spricht: Daß dort sich Liebe entzündet, Zuneigung, "Compassion", Mit-Leiden im besten Sinne des Wortes.
Ihre Zentralratssitzung finden in einer Stadt der neuen Bundesländer statt. Darüber freue ich mich sehr. Ich sehe darin auch das Bemühen des deutschen Caritasverbandes, die Caritasarbeit hier vor Ort in den Blick der Öffentlichkeit zu rücken, dieser Arbeit Anerkennung auszusprechen und sie zu würdigen. Ich möchte mich dieser Anerkennung und Würdigung ausdrücklich anschließen. Wir haben hier in Thüringen, im Eichsfeld und der Rhön Frauen und Männer, die die Caritas zu ihrer Herzensangelegenheit machen. So geschieht tagtäglich das, wovon ich hier rede: Berührung mit konkreten Lebensnöten, An-sich-Heranlassen von Menschen, die - verschuldet oder unverschuldet - in Bedrängnis sind. Ich nenne hier auch einmal besonders jene Frauen und Männer der Caritas, die dies in den Zeiten vor der Wende unter ungleich schwierigeren Bedingungen als heute getan und geleistet haben. Einer von ihnen hat einmal eine Caritaschronik Thüringens erstellt, die eindrucksvoll diese Dimension unseres ortskirchlichen Lebens in Wort und Bild darstellt. Ü;ber dieses Zeugnis gelebten Glaubens und konkreter Christusnachfolge freue ich mich. Darauf bin ich stolz.
Ich möchte Sie alle, die heute unter den Bedingungen neuer gesellschaftlichen Vorgaben in der Caritas tätig sind, eindringlich bitten: Vergessen wir nicht, daß Liebe aus der Begegnung erwächst, aus zugelassener Nähe, aus geteiltem Leid und aus geteilter Freude. Das sind letztlich die Quellen immmer neuer Motivation für die Caritasarbeit. Wer sich aussetzt, wird sich einsetzen.
Als kleiner Ministrant hatte ich in der Sakristei meiner Heimatgemeinde immer ein Bild vor Augen mit einem Wort, das dem Hl. Benedikt zugeschrieben wird: Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden. Das ist richtig. Aber ebenso richtig ist, was Vinzenz von Paul den von ihm gegründeten "filles de la charite", seinen Vinzentinerinnen, mit als Weisung auf den Weg gab: Sie sollten getrost von ihren Gebeten weggehen, wenn sie zu einem Kranken gerufen würden. Gottesdienst und Nächstendienst sind eben nicht auseinanderzureißen. Im Gegenteil: Weil Nächstendienst Gottesdienst ist, bleibt im Dienst am Nächsten das Feuer einer größeren Liebe als nur das einer humanitärer Gesinnung erhalten: die Liebe nämlich, mit der Gott selbst uns Arme und im Guten Schwache an sich zieht.
Und darum hat die Kirche nicht nur eine Caritas. Sie ist Caritas. Kürzer weiß ich es nicht zu sagen. Amen.
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