"Jugend muss formulieren, was sie will"

Predigt von Bischof Wanke bei der Jugendwallfahrt zum Erfurter Domberg 2012 unter dem Motto: "Nimm dein Geld und geh!"




Nach der politischen Revolution 1989/90 hat eine ostdeutsche Bürgerrechtlerin, Frau Bärbel Bohley das Wort geprägt: "Wir haben auf Gerechtigkeit gehofft - und haben den Rechtsstaat bekommen!"
In diesem Wort schwingt Enttäuschung mit, ja eine gewisse Resignation. Die Hoffnung der Menschen auf umfassende Gerechtigkeit, auf Wiedergutmachung erfahrenen Unrechts war größer als die nach der Wende erfahrbare Realität.

Nichts gegen den Rechtsstaat. Ich bin froh, in einem Rechtsstaat leben zu kön-nen. In vielen Gegenden der Welt haben Bürger nicht die Möglichkeit, sich ihr Recht vor unabhängigen Gerichten erstreiten zu können, notfalls auch gegen den Staat. Der Rechtsstaat gehört zu den großen kulturellen Errungenschaften der Menschheit. Nein - wir sollten ihn sehr achten.

Aber dennoch: Es schwingt Enttäuschung in dem genannten Diktum mit. Ist die erfahrene Realität, ist das System des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, in den wir Ostdeutsche eingegliedert wurden, wirklich die Erfüllung aller Wünsche und Erwartungen?
Unsere Erwartungen gehen nie ganz und vollständig in der erfahrenen Realität des Lebens auf. Unsere Sehnsüchte zielen auf mehr als auf "den Spatz in der Hand" - wir wollen die "Taube auf dem Dach"! Wir wollen die vollkommene Gerechtigkeit- und nicht nur einen Abglanz davon.

Ob die Arbeiter im Weinberg, die erst eine Stunde vor Feierabend vom Gutsbesitzer angeheuert wurden, insgeheim diese vermessene Hoffnung gehabt hatten - nämlich auch den Tageslohn zu bekommen, mit dem sie ihre Familie ernähren konnten, einen Denar?

Und wenn dieser Gedanke einen kurzen Moment lang in ihrem Herzen aufgestiegen sein sollte - sie werden diesen Gedanken schnell wieder unterdrückt haben. Sie werden sich gesagt haben. Warum sollte es hier anders zugehen als sonst? Hier geht es eben gerecht nach den Maßstäben dieser Welt zu! Und die Gerechtigkeit verlangt, dass wir "Zu spät Gekommenen" eben nur einen Teil des Tageslohnes erhalten. Wo käme die Welt dann wohl hin? Geld muss in der Tat hart erarbeitet werden.

Wer einen Betrieb verantwortlich leiten oder managen muss, der wird dem zustimmen. Wo kämen wir denn hin, wenn der Lohn nicht der Leistung entspräche? Und selbst Gewerkschaftler müssten dem innerlich zustimmen: Lohn muss ein Äquivalent von Leistung bleiben - sonst geht alles in der Wirtschaft drunter und drüber.
Und doch: Es gibt im Innersten des Herzens die Sehnsucht, die vermessene Hoffnung - nicht nur nach Leistung bemessen und abgefunden zu werden. Gerechtigkeit: Ja, und nochmals Ja. Wer mehr kriegt als ihm zusteht - über den murren wir auch, den zählen wir an, über den regen wir uns auf. Aber - wenn es um uns ganz persönlich geht???

Nun geht es in diesem Gleichnis Jesu nicht um eine Handlungsanleitung für Wirtschaftsminister. Es heißt nicht: Mit der freien Marktwirtschaft ist es wie mit einem Gutsbesitzer usw., sondern Jesus sagt: Mit dem Gottesreich verhält es sich so, wie ich euch jetzt anhand der folgenden Geschichte klarmachen will: Dort - im Gottesreich geht es nicht nur gerecht zu, sondern - mehr als gerecht.
Mehr als gerecht? Wie sollen wir das verstehen?

Lasst mich mit einer kleinen Beobachtung einsetzen, die uns bei der Gleichnisgeschichte aufhorchen lässt. Es ist für die Hörer, die wussten, wie es in ihren Dörfern bei der Anwerbung von Tagelöhnern zuging, äußerst verwunderlich, dass der Gutsherr mehrfach auf den Markt ging, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. Die Leute wussten ja: Da stehen schon früh am Morgen so viele da und warten auf Arbeit - da hätte eine einmalige Anwerbeaktion am Tagesanfang gereicht. Mit keiner Silbe ist ja gesagt, dass der Gutsherr nicht genügend Arbeitswillige gefunden hätte. Nein, es heißt einfach in der Geschichte: Um die dritte Stunde (also vormittags um neun) ging er wieder auf den Markt ... und um die sechste Stunde und um die neunte Stunde (also nachmittags um drei) - ja - und jetzt wird es vollends unwahrscheinlich, was Jesus da erzählt: Der Gutsbesitzer geht sogar nochmals nachmittags um fünf Uhr los, um Arbeiter anzuwerben - für ein oder zwei Stunden bis zum Abend!

Immer wenn bei Jesus Geschichten unwahrscheinlich werden, muss man besonders hinhören. Da merkt man, was Jesus sagen will. Ein normaler Gutsbesitzer handelt nicht so. Der ist zufrieden, wenn er morgens seine Truppe zusammenhat - und dann schert er sich einen Dreck um die anderen, die auch noch auf Arbeit warten.

Hier aber ist einer, der anders ist. Der anders handelt. Er schaut nach den Leuten. Und zwar nicht nur einmal am Tag. Alle drei Stunden geht er auf den Markt. Und sogar noch vor dem Feierabend - und alle erhalten einen Lohn, mit dem sie sich und ihre Familien einen Tag lang ernähren können, die Vollzeitarbeiter und die zu spät Gekommenen - wider alle Erwartung.

Das schlägt der Erfahrung der Leute, die Jesus zuhören, ins Gesicht. Ihre Erfahrung ist: Es gibt die, die Glück haben, die einen Job ergattern - und es gibt die anderen, die eben kein Glück haben, die leer ausgehen - und mit knurrendem Magen nach Hause gehen müssen. So geht es eben in der Welt zu. Pech gehabt. Bist eben nicht dabei gewesen!
Das sagen sich wohl auch die Arbeitslosen. Die anderen, die einen Arbeitsplatz haben und gewerkschaftlich organisiert sind, handeln eine Tariferhöhung heraus. Wir, die wir keinen Job haben, sind halt nicht dabei. Pech gehabt.

Nochmals: Jesus gibt hier keine Hilfestellung für Sozialreformen. Für die Sicherung der sozialen Gerechtigkeit, zwischen den Starken und Schwachen, den Gesunden und Kranken, auch zwischen den Generationen müssen wir selbst Sorge tragen. Aber können wir allein von Gerechtigkeit leben? Wir brauchen den Sozialstaat und den Rechtsstaat - und wir brauchen Tarife. Aber kann unser Herz allein davon satt werden? Und unsere Gesellschaft menschlich bleiben? Timo Gothe, unser Jugendpfarrer, hat das bemerkenswerte Wort geprägt: "Geld schießt Tore - aber heilt keine Herzen!"

Der Gutsbesitzer im Gleichnis Jesu handelt anders, als die Zuhörer es aus ihrem Alltag wissen. So handelt Gott, will Jesus sagen - ohne es auszusprechen. Er ist gerecht - aber er ist noch mehr als gerecht. Er schaut nach uns aus, wo wir ab-bleiben. Er schaut aus, was mit den Zurückgelassenen wird. Er schaut danach aus, ob alle heimkommen - die Leistungsstarken und die Leistungsschwachen, und die, die es überhaupt nicht verdient haben, zu Hause - bei ihm - einen Platz zu haben.

Mir fällt spontan das andere Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn ein. Wir kennen es alle. Der Vater hat sich nicht zufriedengegeben, dass der jüngere Sohn davonzog. Die Wunde, die der trotzige Weggang ihm zugefügt hat, blieb in sei-nem Herzen. Der Vater hat den Sohn, der wegwollte, gerecht behandelt. Er erhielt sein Erbteil. Er brauchte sich nicht zu beklagen.

Aber war der Vater verpflichtet, den Gescheiterten, den Heruntergekommenen, den Schandfleck der Familie, der sein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hatte, wieder in Ehren aufzunehmen? Nein, er war es nicht. Und doch hat er es gemacht. So töricht ist Gott. So sieht seine Gerechtigkeit aus. Es ist eine Gerechtigkeit, die nicht uns, sondern die ihn bluten lässt.

Liebe Wallfahrer!
Die erste Botschaft unseres Gleichnisses lautet: So ist Gott. Er schaut nicht weg, sondern er schaut nach uns. Nach jedem. Auch nach Dir, der du meinst: Ich bin abgeschrieben, von wem auch immer.

Die zweite Botschaft dieses Gleichnisses ist aber ebenso wichtig: Wer sich so angeschaut weiß, der fängt an, anders zu leben.

Wer gerecht behandelt wird, sagt vielleicht: Ich erhalte nur mein Recht. Gut so - ich hatte übrigens auch ein Anrecht darauf! Wer aber Erbarmen gefunden hat, der fängt an, selbst Erbarmen zu üben.

Und das fängt nicht erst im Himmel an, so wie der alte Bauer meint, von dem eine schöne bayerische Geschichte erzählt. Er ist nahe dran, den letzten Schnaufer zu tun. Der Pfarrer kommt. Er mahnt den Bauern, der ständig mit seinem Nachbarn im Streit lag, sich doch wenigstens auf dem Sterbebett mit ihm auszusöhnen. Der willigt nach langem Hin und Her endlich ein, beichtet ordentlich, erweckt Reue und Vorsatz und kriegt die Lossprechung - und als der Pfarrer gehen will, ruft der Sterbende ihm nach: "Aber gelt, Herr Pfarrer, wann ich wieder gesund werd` - da gelt´s net, was wir besprochen haben!"

Nein, liebe Jugend: Wer Gottes Handeln mit uns begriffen hat, der fängt schon jetzt an, nicht nur gerecht mit seinem Mitmenschen umzugehen. Ja, auch gerecht - in der Ordnung dieser Welt, soweit wir dazu verpflichtet sind. Aber eben - so wie Gott - auch mehr als gerecht, und zwar besonders dort, wo wir nicht dazu verpflichtet sind. Dazu braucht es freilich Visionen, Träume, Ziele, die über das hinausgehen, was man durch Geld bekommen und durch öffentliche Fördermittel ins Werk setzen kann.
 
Hier möchte ich einmal euch junge Christen besonders ansprechen. Ich beobachte teilweise eine Jugend, die vieles in den Pfarrgemeinden so hinnimmt, wie es ist - oder, falls es einem nicht passt, einfach gleichgültig fern bleibt. Habt ihr keine Phantasie mehr? Habt ihr keine Träume mehr? Hängt wirklich alles daran, dass es bezahlte Hauptamtliche gibt - sonst läuft eben nichts? Lassen wir uns erst blicken, wenn andere alles vorbereitet haben und wir uns nicht mehr die Hände schmutzig machen müssen?

Warum will die Jugend so wenig in der Kirche mitgestalten? Glaubt sie nicht, dass diese Kirche nicht auch ihre Kirche ist? Ihr Jugendliche müsst viel stärker den Pfarrern, den Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten auf den Füßen stehen und Ideen entwickeln. Jugend muss formulieren, was sie will, muss zeigen, was sie kann, wofür die sich einsetzen will. Wer kämpft heute z. B. noch und schreibt und musiziert in einer neuen Sprache, die eure Sprache ist, damit die in den Kirchen erklingen kann?

Ich bin dankbar, dass einige unter euch eigens für das Thema dieser Wallfahrt ein Lied getextet und in Noten gesetzt haben. Ja, es gibt wirkliche Talente unter euch, Talente, die nicht mit Geld zu bezahlen sind. Auch bei Wallfahrten, bei Firmungen und in den Jugendhäusern begegne ich solch kreativen Typen. Und ich denke auch an das schöne Heft mit euren Gedanken, Ü;berlegungen, Visionen und Träumen, die ihr im September des vergangenen Jahres dem Papst in Etzelsbach überreicht habt!

Eurer Phantasie, liebe Jugend, sind keine Grenzen gesetzt. Wer weiß, dass er in einem letzten Sinn sich selbst, sein Leben und sein Heil einem unbegreifbaren Erbarmen verdankt, das mit Kategorien der Gerechtigkeit nicht erklärt werden kann, der fängt an, ein Bürger des Gottesreiches zu werden. Der fängt an, das Unmögliche zu hoffen, und in der Kraft dieser festen, auf Gott gerichteten Hoffnung in dieser Welt das uns Mögliche zu wagen, um die Welt gerechter, wahrhaftiger, menschlicher zu machen. Und der fängt auch an zu hoffen, dass er in der Kirche Gleichgesinnte findet, die mit ihm etwas neu beginnen, erstarrte Strukturen aufbrechen, was steif und unbeweglich geworden ist, wieder neu ins Rollen zu bringen... Manchmal fangen so auch geistliche Berufungen an.....

Und um noch einmal nach dieser speziellen Ermunterung, die euch galt, auf das Thema Arbeit, Geld und soziale Gerechtigkeit zu sprechen kommen:

Natürlich, das geht nicht: sich nicht regen, und doch gesegnet werden wollen (nach einem bösen Wort der alten DDR-Zeit: Was ist der größte Wunsch des DDR-Bürgers? Arbeiten wie in Karl-Marx-Stadt - und leben wie in Düsseldorf!). Die Thüringer und die Sachsen wollen sich ebenso regen wie die Rheinländer und Schwaben - aber ihnen fehlen oft noch die Turngeräte und manchmal auch noch die Sicherheitsnetze, die man als ungeübter Artist in der Marktwirtschaft braucht.

Kann man Solidarität mit Paragraphen verordnen? Ein wenig schon. Aber mehr als verordnete Solidarität brauchen wir das, was der Gutsbesitzer tat, der nicht nur einmal, sondern mehrmals am Tag auf den Markt ging - und nach denen Ausschau hielt, die am Tagesende ihren Denar brauchten.

Frau Bohley hatte doch recht, als sie eine Hoffnung ansprach, die unsere Alltagsrealität übersteigt. Der Rechtsstaat ist etwas sehr Wertvolles und Wichtiges - aber er stillt nicht unsere Sehnsucht nach einer Gerechtigkeit, die keinen vor der Türe stehen lässt, die keinen abschreibt, die uns nicht nur allein, sondern gemeinsam selig macht. Nochmals Timo Gothe: Geld schießt Tore, aber heilt keine Herzen!

Liebe Jugend, es ist eine bekannte Erfahrung: Wenn die Liebe erkaltet, fängt das Rechnen an. Schenken wir der Welt, der Kirche, uns gegenseitig mehr als Gerechtigkeit und die Erfüllung von Ansprüchen. Die Gesellschaft braucht euren Elan, eure Phantasie, eure Visionen - und auch unsere Kirche. Gott geht ja auch so mit uns um, nicht nur nach trockenen Paragraphen und dem Aufrechnen von Dingen, die mir zustehen. Er gibt mehr als das: Er schafft Freiraum für Hoffnung, für Neues, für das Unwahrscheinliche - und das beginnt dort, wo wir nicht nur rechnen, sondern Träume haben - und lieben. Amen.