Im Mittelpunkt steht der Mensch

Vortrag von Bischof Ulrich Neymeyr beim Elisabethempfang am 10. November 2022

Meine sehr verehrten, lieben Damen und Herren,


zur Vorbereitung des deutschen Katholikentags, der im Jahr 2024 in Erfurt stattfinden wird, wurde bereits ein Leitwort festgelegt, das als inhaltliche Richtschnur für die Vorbereitung der Veranstaltungen dient. Die Katholikentagsleitung hatte nach längerer Diskussion das Thema „Zukunft“ als grundlegend wichtig ausgemacht, das auch noch das Jahr 2024 beherrschen wird.

Der Katholikentag ist nicht nur ein Treffen katholischer Christinnen und Christen zum Erleben von Gemeinschaft in Gottesdiensten, Feiern und Veranstaltungen. Er ist auch nicht nur eine Veranstaltung zur innerkatholischen Diskussion anstehender Themen, sondern er möchte vor allem einen Beitrag der Katholikinnen und Katholiken zum Prozess der gesellschaftlichen Meinungsbildung leisten. Dies soll auch durch das Leitwort zum Ausdruck kommen.

Daher galt als formale Vorgabe, dass das Leitwort keine Phrase sein soll, wie sie die Menschen hierzulande 40 Jahre lang auf sozialistischen Plakaten gelesen haben und wie sie heutzutage mitunter auf Wahlplakaten zu sehen sind. Das Leitwort für den Katholikentag soll vielmehr eine klare Aussage beinhalten, am besten mit einem Punkt enden. Darüber hinaus soll es keine religiöse Grundeinstellung voraussetzen. Das Leitwort „Siehe, ich mache alles neu“ ist zum Beispiel für einen nichtreligiösen Menschen kaum verständlich, weil er nicht weiß, wer mit diesem ´Ich´ gemeint ist - dass damit nämlich Gott gemeint ist.

Auf meiner Suche nach einem Vorschlag für ein Leitwort hatte ich darüber hinaus das Kriterium gesetzt, dass das Leitwort ein Bibelwort sein sollte, schließlich begehen wir in diesem Jahr in Thüringen das 500. Jubiläum der Bibelübersetzung durch Martin Luther, die auf der Wartburg, also in Thüringen, erfolgt ist. Nach längeren Diskussionen in der Katholikentagsleitung und im Zentralkomitee der deutschen Katholiken wurde nun als Leitwort beschlossen: „Zukunft hat der Mensch des Friedens.“ Dieser Satz steht im Psalm 37 in Vers 37.

Dieser Satz ist eine deutliche Aussage, ja eine provokante Aussage. Wer sie liest oder sieht, fragt unwillkürlich: Stimmt diese Aussage? Und er ordnet die Worte in anderer Reihenfolge: Hat der Mensch des Friedens Zukunft? Hat nicht vielmehr derjenige Zukunft, der sich nimmt, was er bekommen kann? Gilt nicht das Recht des Stärkeren? Wir werden sehen, welche Zukunft Putin hat oder nicht. Aber auch im gesellschaftlichen Diskurs ist zu fragen, ob nicht derjenige, der rücksichtlos und ohne Rücksicht auf Fakten lautstark seine Meinung vertritt, am Ende die Meinungshoheit bekommt; ob nicht diejenigen, die sich in den Parlamenten am unverschämtesten verhalten, sich am Ende durchsetzen, weil die anderen, die den demokratischen Meinungsstreit friedlich führen wollen, resigniert aufgeben. Und es ist natürlich zu fragen, ob nicht am Ende derjenige Zukunft hat, der das Geld hat. Alle diese Fragen sind überaus gerechtfertigt und geben viel Anlass zu wichtigen und hoffentlich fruchtbaren Diskussionen sowohl innerhalb unserer Kirche als auch als einen Beitrag unserer Kirche zur gesellschaftlichen Meinungsbildung.

Das Leitwort „Zukunft hat der Mensch des Friedens.“ beinhaltet neben seiner allgemeinen Aussage auch die wichtigen Schlüsselbegriffe des gesellschaftlichen Disputs. Nicht nur junge Menschen rufen bei „Fridays for Future“: „Wir sind jung, wir sind laut, weil Ihr uns die Zukunft klaut!“ Papst Franziskus hat in seiner Enzyklika „Laudato si“ vom 24. Mai 2015 geschrieben: „Der Klimawandel ist ein globales Problem mit schwerwiegenden Umweltaspekten und ernsten sozialen, wirtschaftlichen, distributiven und politischen Dimensionen; er stellt eine der wichtigsten aktuellen Herausforderungen an die Menschheit dar. Die schlimmsten Auswirkungen werden wahrscheinlich in den nächsten Jahrzehnten auf die Entwicklungsländer zukommen (…). Leider herrscht eine allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber diesen Tragödien, die sich gerade jetzt in bestimmten Teilen der Welt zutragen, der Mangel an Reaktionen angesichts dieser Dramen unserer Brüder und Schwestern ist ein Zeichen für den Verlust jenes Verantwortungsgefühls für unsere Mitmenschen, auf das sich jede zivile Gesellschaft gründet.“ (Nr. 25).

Die alarmierende Problematik ist seit Jahrzehnten bewusst, es wird auch hier und da gegengesteuert, aber solange es billiges Gas aus Russland gab, solange genügend Kohle vorhanden war, solange in anderen Ländern Atomkraftwerke betrieben werden, gab es keinen grundsätzlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Erst das drohende Ende der Gaslieferungen aus Russland hat eine hektische Veränderung bewirkt, bei der man staunend feststellen kann, wie schnell jahrelang diskutierte Alternativen umgesetzt werden können.

Das Thema „Zukunft“ betrifft aber nicht nur die ökologische Zukunft unseres Planeten, sondern es betrifft auch die Zukunft der jungen Menschen. Der geringe Stellenwert der Bildung von Menschen in Kindergärten, Schulen und Universitäten wurde durch die Corona-Krise offenbar. Als am Freitag, dem 13. März 2020 ein nahezu totaler Lockdown verhängt worden ist, wurde nur diskutiert, wie die medizinische Versorgung sichergestellt werden kann, wie systemrelevante Einrichtungen weiterbetrieben werden können und wie die Wirtschaft am Laufen gehalten werden kann.

Erst sechs Wochen später, als nach den Osterferien die Schulen geschlossen blieben, konnten sich die ersten Bildungspolitiker Gehör verschaffen und mahnen, dass die Schließung vor allem von Kindergärten und Schulen weitreichende schwierige Folgen haben wird. Das gesellschaftliche Engagement für die Bildung junger Menschen hat nicht den Stellenwert, der ihm gebührt, nicht nur weil Kinder und Jugendliche unsere Zukunft sind, sondern vor allem, weil sie unsere Gegenwart sind. Bei Neubauten oder Sanierungen von Kindergärten und Schulen muss um jeden Euro gefeilscht werden.

Der Mangel an Lehrkräften ist eklatant. Kindergärten werden in Sonntagsreden als Orte frühkindlicher Bildung bezeichnet, in der Praxis muss es allzu oft genügen, wenn die Kinder dort betreut sind. Das gilt auch für die Schulen in der außerunterrichtlichen Betreuung. Hauptsache ist, die Eltern können ihrer Berufstätigkeit nachgehen. Wie wäre es mit einem „Dreifach-Wumms“ für die Bildung?

Das Leitwort „Zukunft hat der Mensch des Friedens.“ beinhaltet auch ein zentrales Wort einer freiheitlichen Grundordnung, nämlich das Wort „Mensch“.

Im Mittelpunkt steht der Mensch, unabhängig von seiner Hautfarbe, seiner Herkunft, seiner Religion oder seiner geschlechtlichen Orientierung. Das müssen wir auch in unserer katholischen Kirche lernen. In vielen aktuellen Debatten unserer Zeit ist immer wieder dazu zu mahnen, Menschen als Menschen zu sehen. Dann wäre jedem Rassismus oder Antisemitismus die Grundlage entzogen.

Dass der Antisemitismus ein wachsendes gesellschaftliches Phänomen ist, steht außer Frage. „Man wird doch einmal sagen dürfen …“ oder „Man wird doch die Politik Israels kritisieren dürfen …“ sind verräterische Sätze. Als Deutsche haben wir durch den Holocaust eine besondere Verpflichtung, solche Phänomene wahrzunehmen. Wer das nicht weiß, kann keine Kunstausstellung kuratieren, wie wir in Kassel gesehen haben.

Unser heutiges Verhältnis zu den Juden sollte aber nicht vom Holocaust geprägt sein, sondern von der Freude darüber, dass Menschen mit jüdischem Glauben und jüdischer Kultur unter uns leben. Das wurde im Themenjahr „Tora ist Leben – 900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen“ sehr schön eine gesellschaftliche Realität.

Dennoch müssen wir jede Form von aufkommendem Antisemitismus bekämpfen. Jungen Menschen sage ich immer wieder: „Ein Judenwitz ist kein Witz“. Nicht nur der Antisemitismus erstarkt in unserem Land, sondern auch der Antiziganismus. Auch in Thüringen haben Menschen gesagt, wir nehmen gerne Ukrainerinnen und Ukrainer bei uns auf, aber keine Zigeuner. Dabei sind die Roma wie alle anderen auch ukrainische Flüchtlinge. Auch geflüchtete Menschen sind zunächst und zuerst Menschen. Und wenn wir darüber debattieren, ob sie nicht in sicheren Teilen der Ukraine auch zuhause leben können oder ob sie wirklich einen Anspruch auf Asyl in unserem Land haben, darf bei dieser Debatte nie vergessen werden, dass wir über Menschen reden. Eine wichtige Instanz dafür ist die Härtefallkommission. Im Mittelpunkt steht der Mensch.

Das gilt auch für seine geschlechtliche Identität oder Orientierung. Hier müssen wir als katholische Kirche noch vieles lernen. Bei der Diskussion um „gendergerechte Sprache“ sage ich gerne, bevor wir uns sprachlich verbiegen und völlig neue Begriffe schaffen, sollten wir uns angewöhnen, immer nur von „Menschen, die …“ zu reden. Also nicht vom Busfahrer zu reden, sondern vom Menschen, der einen Bus fährt und nicht von einer Ausländerin zu sprechen, sondern von einer Frau, die im Ausland geboren oder aufgewachsen ist.

Das Leitwort „Zukunft hat der Mensch des Friedens.“ beinhaltet auch das Wort, das in diesem Jahr völlig neu bedacht werden muss. Ein Krieg in Europa ist natürlich nicht schlimmer als ein Krieg in einem anderen Teil der Welt, aber fast alle Menschen in Europa hatten es nicht für möglich gehalten, dass es einen solchen Angriffskrieg in Europa geben könnte. Wir müssen erschüttert feststellen, dass die europäische Friedensordnung zerstört worden ist.

Auch in unseren Kirchen wird nun heftig über Friedensethik debattiert. Kann der Mensch des Friedens Waffen haben? Kann der Mensch des Friedens andere mit Gewalt verteidigen? Kann der Mensch des Friedens anderen Menschen Waffen zur Verfügung stellen, damit sie sich verteidigen können? Nachdem die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung in der Ukraine mit Waffengewalt angegriffen worden ist, ist die Antwort auf diese Frage eine große Herausforderung. Ganz offensichtlich muss die freiheitlich-demokratische Grundordnung nach innen und nach außen verteidigt werden und es sieht so aus, als sei dies nicht ohne Gewaltanwendung möglich. Die Bischöfe des Zweiten Vatikanischen Konzils haben vor fast 70 Jahren geschrieben: „Der Frieden besteht nicht darin, dass kein Krieg ist; er lässt sich auch nicht bloß durch das Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte sichern; er entspringt ferner nicht dem Machtgebot eines Starken; er heißt vielmehr mit Recht und eigentlich ein ´Werk der Gerechtigkeit´. (…) Insofern die Menschen Sünder sind, droht ihnen die Gefahr des Krieges und sie wird ihnen drohen bis zur Ankunft Christi.

Soweit aber die Menschen sich in Liebe vereinen und so die Sünde überwinden, überwinden sie auch die Gewaltsamkeit bis sich einmal die Worte erfüllen: „Zu Pflügen schmieden sie ihre Schwerter um, zu Winzermessern ihre Lanzen. Kein Volk zückt mehr gegen das andere das Schwert, das Kriegshandwerk gibt es nicht mehr.“ (Jesaja 2,4)
Friedensethische Themen werden uns wohl nicht nur beim Katholikentag 2024 in Erfurt beschäftigen.

Lassen Sie gemeinsam weiter daran arbeiten, zum Wohl der Menschen hier in Thüringen und weltweit.