"Ich rede gut über dich"

Vortrag von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz zu einem Werk der Barmherzigkeit


Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Vortrag von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz zu einem Werk der Barmherzigkeit...

(BiP). Der Vortrag wurde im Rahmen der Reihe Die Werke der Barmherzigkeit - Geistliche Vorträge am 29.3.2007 in der Erfurter Brunnenkirche gehalten.


Dr. phil. habil. Dr. theol. h.c. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz ist Professorin für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft an der Technischen Universität Dresden.



Ich rede gut über dich

Oder:

Die Macht der Sprache:

Was macht die Sprache?



"Die Sprache tastet wie die Liebe im Dunkel der Welt einem verlorenen Urbild nach."

(Karl Kraus, 1913)




1. Die Macht der Sprache über die Wirklichkeit


Schlechtreden und Schönreden sind zwei geläufige Vorgänge in der gesprächigen Welt. Zusammenleben findet nicht einfach nur statt, sondern muss besprochen werden. Deutung legt sich wie ein Netz über die Dinge. Text heißt wörtlich Gewebe, und längst leben wir in der "weltweiten Webe", wie (man das angelsächsische "world wide web" ins Sächsische zurückübersetzen kann). Dieses Gewebe legt sich als zweite Wirklichkeit über die erste - nicht selten so dicht, dass die erste darunter verschwindet - oder eine andere Gestalt annimmt.

Die Griechen - längst bevor sie Philosophen waren - sprachen als Bauern und Fischer von dem Netz, logos, mit dem sie Fische an Land zogen. Die Maschenweite bestimmte die Größe des Fangs. So wird das Netz zur Sprache: Dinge werden durch die Sprache ausgelesen oder erst sichtbar; Sprache hebt sie im Netz des logos ans Licht - nicht selten aber breitet sie auch Verdunkelung darüber.


Sprache gehört - wie die Kleidung, wie das Haus, wie die Familie - zur Kultur, um die rohe Natur, die unbeherrschte Wildnis dem Menschen wohnlich zu machen.


In dieser unersetzlichen Aufgabe der Deutung, der Humanisierung von Welt liegt aber auch die Versuchbarkeit der Sprache. Stellt sie letzten Endes nicht erst her, was sie nur zu deuten vorgibt? Ü;berlagert die Vergegenwärtigung durch Sprache nicht die Gegenwart des Wirklichen? Oder, anders gefragt, ist wirklich nur, was die Sprache erst hinstellt? Die "linguistische Wende" des 20. Jahrhunderts hat einen außersprachlichen Bezug auf Wirklichkeit, erst recht auf außersprachliche Wirklichkeit, abgelehnt. Auch Denken sei nur sprachgebunden. "Was man aber das Denken nennt, das ist nur eitel Sprache", so Fritz Mauthner 1901. (1)


Von dort ist es nur ein Schritt zur Behauptung, dass es "in Wirklichkeit" die Wirklichkeit gar nicht gebe - wie das am zeitgenössischen Beispiel der gender-Ideologie abzulesen ist: Frausein und Mannsein seien nur sprachlich erstellt. Auch Biologie sei Kultur, nicht Natur; es gebe kein vorsprachliches Geschlecht. Der Funken Wahrheit, der darin steckt, wird damit zum lodernden Feuer der Konstruktionsthese, mit deren Hilfe es nichts mehr "gibt". Das reine Gegebensein wird verbrannt und erlischt - im Kopf. Das Spiegelkabinett der Konstrukte kennt nur noch Gemachtes, nichts Naturwüchsiges mehr. Ein Witz kann das beleuchten: Es sieht aus wie eine Ente, es quakt wie eine Ente, es watschelt wie eine Ente - na, was ist es? Klar: Das soziale Konstrukt einer Ente!

Festzuhalten ist, dass das "Reden über" Macht ausübt - wie die Worte "über" immer von einem erhöhten Standpunkt aus nach unten schauen: über-reden, über-zeugen, über-legen. Sofern Gegenstand dieser Macht die Dinge sind, steigert sich die Macht zu vergrößern oder zu verkleinern, zu heilen oder zu verletzen je nach deren Wertigkeit und Wichtigkeit, die ihnen eignet. Redet man aber "über" Menschen, kann sich solche Macht bis zum Rufmord (welch ein treffsicheres Wort!) steigern oder zum guten "Leumund" verdichten.



2. Die Barmherzigkeit von Sprache: Zusprechen = Leben geben


"Am Du gewinnt sich das Ich." (Martin Buber)


Die Verhaltens- und Sozialisationsforschung stellt das elementare menschliche Angewiesensein auf das Einwirken anderer in exakten Beobachtungen fest. Sie hat nach den bahnbrechenden Arbeiten von Jakob von Uexküll und Konrad Lorenz im Tier-Mensch-Vergleich einige Ergebnisse zu Tage gebracht, welche die Notwendigkeit von Resonanzen zwischen der älteren und der jüngeren Generation von Grund auf beleuchten. Am eindrucksvollsten war wohl das bekannte Experiment von Konrad Lorenz mit der Graugans Martina, die er nach dem Schlüpfen "mütterlich" mit "ga-ga" begrüßte, was er auch nachts stündlich wiederholte, wenn die kleine Gans regelmäßig ängstlich piepste und er mit der Stimme eine Entwarnung geben musste (ohne dass er dabei noch aufwachte).


Das Tier - allgemein gesprochen - ist identisch mit seiner Instinktordnung, kann weder aus ihr aussteigen noch sie erfinden, sie nur - in einigen Fällen - innerhalb fester Grenzen variieren, nämlich innerhalb bestimmter, kurzer "Prägezeiten". Der Mensch dagegen ist offen: Er hat Welt, nicht bloß Umwelt. Aber er hat "unfertige", ungedeutete, alles meinende Welt. Diesen ursprünglich unbesetzten, entsprechend bedrohten Zustand nannten Heidegger und der ihm folgende Existentialismus ein Geworfensein. Deutlich ist dieser feine "Daseinsriss" schon im Wort Existenz enthalten, das übersetzt "Hinausstehen" bedeutet, Hinausstehen nämlich aus dem Gesicherten. Oder stärker naturwissenschaftlich ausgedrückt: Der Mensch ist im Vergleich zum Tier ein Mängelwesen, wie Arnold Gehlen ausführte. Nach ihm ist der Mensch von Anfang an gezwungen, auf den Schultern der vorangegangenen Generationen stehend, Unbekanntes zu deuten, Richtlinien im Chaos der Eindrücke aufzustellen, um rein biologisch zu überleben. Wo das Tier immer schon daheim ist, muss der Mensch im Un-Heimlichen erst heimisch werden.


Eben diesem Vorgang entspricht die Sprache: das Vorfindliche in Tat und Wort zu zähmen, in Dienst zu nehmen. Grundlegend dafür ist vor allem die Sprache: als Deutung des Vieldeutigen, als Tradition erprobter und bewährter Ordnung. Sprache bannt die Welt in ihrer gefährlichen Unbekanntheit; den Namen wissen heißt Macht haben. Sprachverlust ist Rückkehr ins Chaos, Aufhebung der menschlichen Gemeinschaft, Kaspar-Hauser-Elend.


So kürzt die Sprache das Lebenlernen ab, indem sie den Prozess der Einzelerfahrung vorwegnimmt und verbindliche Ordnungen aufstellt: durch die Festlegung von gut und böse, nützlich und schädlich. Der individuelle Erfahrungsablauf wird durch Ü;bernahme fremder Erfahrungen beschleunigt. Sprache greift den gesamtkulturellen Lebensentwurf auf, um nicht jedes Kind wieder am Punkt Null im Lebenskampf anfangen zu lassen. Hinter jeder Kultur steht der Wunsch, das jüngere Leben in die erprobten Ordnungen einschwingen zu lassen, damit nicht "wiederkehrt uralte Verwirrung", wie Hölderlin in anderem Zusammenhang formuliert (2).


Damit ist ein anthropologisches Bedürfnis nach Struktur, nach Prägung, mit einem Wort: nach "zugesprochener, zugespiegelter Welt" von mehreren Wissenschaften, falls man der eigenen Erfahrung nicht traut, bestätigt. Das heißt freilich noch nichts über die Richtigkeit oder Angemessenheit oder den Widersinn solcher Vorgaben. Die uns bekannten Kulturen sind bei genauer Betrachtung höchst unterschiedlich, gerade was die Art der Beziehungen angeht, in welcher die Menschen "mitschwingen".. "Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt... Aber verhängt in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie", so Franz Kafka (3).



3. Gut reden = Leben steigern


"Wie klein kann ein Feuer sein, das einen großen Wald in Brand steckt", weiß der Jakobusbrief (Jak 3, 5). Das ist ohne Zweifel zur Warnung gesprochen; gilt es nicht aber auch im zustimmenden, guten Fall?


Bekannt ist die Legende, wonach die Jünger Jesu auf einer der Wanderungen an einem Hundekadaver vorbeikamen. Während man sich allenthalben die Nase vor dem Gestank zuhielt, wies Jesus auf das zerfallende Fleisch und sagte: "Wie schön seine Zähne in der Sonne blitzen!"


Der Ausruf "wie schön!" vermag das Hässliche zu übergolden. Während die Normalwelt an einer stadtbekannten Sünderin nur die Prostituierte wahrnimmt, wird Jesus an ihr die Geste der Hingabe festhalten: "Solange das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, wird man auch sagen, was sie getan hat."


Jeder Mensch beginnt, von Geburt an, zunächst mit etwas, was ihm zugesprochen wird, oder mit sozialer Identität: die Familie, die Gruppe spiegelt mir zu, wer ich bin; ich finde mich als Teil eines größeren Wir und werde von ihm angeregt. Dies gilt so tief, dass diese mangelnde "Außenhaut" böse Verletzungen, unreifes Klammern, unsicheres Wachstum, im letzten eine Ichschwäche hervorruft. Wer keine starke Stützung durch ein Wir kennt, kann nicht zu einem Ich übergehen.


Die erste Einsicht lautet also: Identität baut sich auf in der Resonanz auf andere, von außen nach innen. Selbstsein beginnt im "Gehäuse" der Familie, der Gruppe, der Kultur, vor allem der Sprache. Längst bevor das Neugeborene zu sehen beginnt, kann es schon hören. Erasmus von Rotterdam (1466-1536), als Humanist ein bedeutender Pädagoge, wagte zu Beginn der Neuzeit den bis dahin ungeheuren Satz: Wie die Bärin die unförmigen Knäuel, die sie geboren hat, in Bärenform zurechtleckt, so werde der Mensch nicht nur geboren, er werde von den Eltern erst zum Menschen gemacht. (4) Die Wahrheit dieser lebensnotwendigen Resonanz ist im 20. Jahrhundert brutal ideologisiert und in eine mörderische Unwahrheit umgewandelt worden: Die Gesellschaft produziert ihre (Un-)Menschen. Das entbindet freilich nicht von der Aufgabe, für jede neue Generation die notwendige Arbeit des Zurechtformens zu leisten. Wenn sie gelingen soll - entgegen dem katastrophalen Experiment des letzten Jahrhunderts -, dann hat sie auf zwei Elemente zu achten, ohne welche "Resonanz" nicht zustandekommt. Das eine ist die Bestätigung, die Anerkennung, die Schätzung des anvertrauten Du (und zwar in seiner Eigenheit, nicht als Kopie). Wir alle leben in einem unersättlichen Hunger nach Bestätigungen, leiden, wenn sie ausbleiben. "Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dich liebe" - ein solcher Satz, mürrisch gesagt, streicht seinen Inhalt durch: Jede Beziehung bedarf der immer neuen Liebe, muss immer neu das Selbstbewußtsein im "Zuspruch" wecken. "Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du", so Martin Buber. (5)


Heute fällt solche Resonanz nicht selten aus; statt Personen werden Sachen als Ersatz für Beziehung angeboten, als Ersatz des lebendigen Ansprechens. Dazu ein naives, aber eindrucksvoll ironisches Gedicht:


"Ich besitze ein Zelt und einen Kran

und eine elektrische Eisenbahn,

siebzehn Puzzles und andere Spiele

und weichgepolsterte Kinderstühle.

Ein Fahrrad, einen Zauberkasten, sechs Bälle,

achtzig Autos mit einer Tankstelle.

Farbfernseher und Tischtennisplatte,

Trimm-Dich-Bodenübungsmatte.

Auch Baukästen hab ich, ich glaube sieben,

und Kuscheltiere zum Streicheln und Lieben.

Kassettenrecorder und Autobahn

schafften für mich meine Eltern an.

Ein handgeschnitztes Kasperltheater.

"Paß auf, es ist teuer!" sagte mein Vater.

Bücher und Platten, Bonbons und Konfekt.

Ich bin mit allem gut eingedeckt.

So hocke ich im Kinderzimmer

allein und langweile mich immer."

(Rolf Krenzer [6])



Person ist auf Person resonant, und eben nicht auf Kassettenrekorder oder noch so teure Objekte. Oder nochmals mit Martin Buber: "Im Anfang ist die Beziehung: als Kategorie des Wesens, als Bereitschaft, fassende Form, Seelenmodel; das Apriori der Beziehung; das eingeborene Du." (7)


Es ist grundsätzlich das, was das vielsagende deutsche Wort Gegen-Stand ausdrückt: Gegen-Stand der Wirklichkeit, die zu bewältigen ist. Vor allem ist es Gegen-Stand der eigenen Person: sich stellen, auseinandersetzen mit dem Gegenüber, Gesicht und Meinung zuwenden, "Sparringspartner" sein. Auch hieran bildet sich das schwache, noch unzentrierte Ich.


Beide Elemente enthalten für dieses schwache Ich aber auch Gefahr: einerseits nur auf Bestätigung hin zu leben, nur in der Aura der Zustimmung handeln zu können, von anderen gebraucht werden zu müssen; andererseits, falls der Widerstand zu groß ist und nicht verarbeitet werden kann, unentwickelt zu bleiben, kindlich-abhängig - oder in den (selbst)zerstörerischen Protest abzurutschen. Eltern wie Erzieher wandeln auf dem schmalen Grat, wo sie möglicherweise zu stark, zu widerständig für das anvertraute Leben sind, möglicherweise zu verhalten ("sollen die doch selber ihre Fehler machen"). Wirkliche Autorität kommt von augere, das heißt wachsen lassen, zum Eigenen entbinden, ohne dass zu frühe, unüberwindliche Verletzungen das Wachsen verhindern. Der berühmte, bei allen Selbstvorwürfen entlarvende Brief Kafkas an seinen Vater von 1919 zeigt kaum gutzumachende Verstörungen durch eine übermächtige Ü;berformung: "Ich verlor das Vertrauen zu eigenem Tun. Ich war unbeständig, zweifelhaft. Je älter ich wurde, desto größer war das Material, das Du mir zum Beweis meiner Wertlosigkeit entgegenhalten konntest (...) du verstärktest nur, was war, aber Du verstärktest es sehr, weil Du eben mir gegenüber sehr mächtig warst und alle Macht dazu verwendetest." (8) Weder die Monotonie unterwürfiger kindlicher Wiederholung noch die Kakophonie des blinden Ausbruches sind Lösungen eines solchen Konflikts.


Von den frühesten Kulturen an, den magischen, bis zur neuzeitlich-kausalen Kultur wachsen die Menschen in solchen Resonanzen auf: in dem, was ihnen die anderen zusprechen. Homo factus, non natus - "der Mensch wird gemacht und nicht geboren", formuliert die Renaissance fast erschreckend (so in ironischer Frage Joachim Camerarius (1500-1574), Dürer-Freund und Philologe des 16. Jahrhunderts [9]). Diese genaue Umdrehung des Credo-Satzes, der Sohn sei "gezeugt, nicht geschaffen" (genitus, non factus), ist das Credo nicht nur der Neuzeit, sondern frühestes Verhalten von Menschengruppen: Der Mensch ist auch, vielleicht vor allem zu verstehen als Werk des Menschen am Menschen. Der bloße Naturbursche, der als Robinson wortlos, antwortlos vor sich hinlebt, ist eine Erfindung später Phantasie; sie entsteht in den müden oder romantischen Phasen der "Western Civ", die der menschlichen Resonanz überdrüssig ist und zum Autistischen neigt. Genau besehen bedarf selbst dieser Robinson eines Freitag, der mit ihm "schwingt" oder schweigt oder jubelt. Angst, Hoffnung, Freude wollen geteilt sein: um sich zu vermindern oder zu vermehren. Wir sind nicht als Autisten, wir sind als Liebende geboren. "Ich muss veröden, wenn ich nur ich bin." (10)

Freilich kann man den anderen auch totschwätzen, oder wie Chesterton sagte: "Nun rede ich schon so lange zu den Leuten, dabei haben sie mir nichts getan." Daher gibt es noch eine schweigende Art, Leben zu geben, Leben zu steigern.



4. Den Anderen redenlassen: Die Barmherzigkeit des Gesprächs


"Was ist herrlicher als Gold?" fragte der König.

"Das Licht", antwortete die Schlange.

"Was ist erquicklicher als Licht?" fragte jener.

"Das Gespräch", antwortete diese.

(Goethe, Das Märchen)



Was aber ist das Gespräch? Eine erste Antwort sei mit Martin Heidegger versucht: "Jedes Gespräch kommt indessen sogleich ins Stocken und ins Fruchtlose, wenn es sich nur im unmittelbar Gesprochenen einrichtet und sich darin versteift, statt dass die Sprechenden durch das Gespräch sich wechselweise erst in den Aufenthaltsort einlassen und sich zu ihm hinbringen, von dem her sie jeweils sprechen. Dieses Sicheinlassen ist die Seele des Gespräches. Es führt die Sprechenden ins Ungesprochene (...) Diese (Konversation) besteht darin, dass man sich am jeweils Gesprochenen entlang schlängelt und sich auf das Ungesprochene gerade nicht einlässt." (11)


Im Gespräch schwingt also ein Ungesprochenes mit, Reden vollzieht sich auf einem Resonanzboden. Person ist auf Person resonant. Man könnte folgende Kette von Zusammenhängen formulieren: Erst wo es Zuhören gibt, gibt es auch ein Reden. Erst wo es Freiheit gibt, gibt es ein Eingeständnis von Enge. Erst wo es Erbarmen gibt, gibt es ein Sich-Öffnen. (Erst wo es Vergebung gibt. gibt es auch Schuld.)


So ist das Freigeben zum Reden auch ein Erbarmen, eine Notwendigkeit, ein Vollzug von Liebe. Peter Handke schreibt: "Den Gedanken an eine Frau kannte ich [...] allein als das Wunschbild von dem schönen Gegenüber - ja, das Gegenüber sollte schön sein! -, dem ich, endlich, erzählen könnte. Was erzählen? Einfach nur erzählen. Der Zwanzigjährige stellte sich das Einander-in-die-Arme-Fallen, das Lieb-Haben, das Lieben als ein beständiges, so schonendes wie rückhaltloses, so ruhiges wie aufschreihaftes, als ein klärendes, erhellendes Erzählen vor." (12)



5. Benedicere, segnen


Eine besondere Form des "guten Redens" ist benedicere, segnen. Ihm steht das Fluchen, maledicere, entgegen. In magischen Kulturen gibt es das gute wie böse Zaubern, Bannen, Beschwören mit Worten und Zeichen (segnen kommt unmittelbar von signum, Zeichen). Erinnern wir uns an die vergangene Müttergeneration, die das Brot, das Haus, ja die Kinder beim Weggehen noch segnete.


Die Bergpredigt Jesu enthält die Herausforderung: "Segnet die, die euch verfluchen." (Lk 6, 28) Nur so kommt es zum Aufbrechen des Kreislaufs des Bösen, zum Versacken der Anklage. In der irischen Sagenwelt gibt es den Helden Fionn, der - um ein Held zu werden - in seiner Jugend einen unbezwingbaren Zauberer bezwingen muss. Dieser Aillen schläfert den Gegner mit einem unirdisch berückenden Ton ein - worauf eine wilde blaue Flamme aus dem Munde des Zauberers pfeift und den Schlafenden zu Asche brennt. doch Fionn "breitete seinen gefransten Mantel aus und fing die Flamme auf - vielmehr, er fing sie ab, denn sie glitt von seinem Mantel und fuhr sechsundzwanzig Soannen tief in die Erde. (...) Aillen blies ein zweites Mal mit der ganzen schrecklichen Macht, die ihm gehorchte, und der große Strahl blauer Flamme fuhr brüllend und pfeifend aus ihm und wurde gefangen und verschwand." (13) Jener "Mantel" ist der Schirm gegen das Tödliche. Ein solches Abfangen der Bosheit, eigener und fremder, ist nicht nichts. Eine solche Tapferkeit des Herzens meint: das Auge im Orkan zu sein, die Ruhe im Sturm, das Schweigen in der Anklage.


Allerdings geht die Bergpredigt aus dem Schweigen heraus ins Segnen über: das gute Reden im Horizont des Göttlichen. Es ist um so notwendiger, als es heute eine neue Unkultur des magischen Verfluchens im Neuheidentum, in den Praktiken der Esoterik gibt. Dagegen haben vor allem Gruppen aus dem Raum der evangelischen Freikirchen eine Bewusstsein für die "Vollmacht" des Segnens neu entwickelt. (14) Allerdings wird dies mit einem bewussten ritualisierten "Brechen" des Fluches verbunden, während das Segnen - vor allem im Bereich des Alltags - nicht so stark ritualisiert werden sollte: Ein Christ ist schon erlöst und muss Segen nicht immer wieder "herholen", oder im obigen Bild: Er ist bereits vom "Mantel" des Heils umgeben.



6. Gottes Rede über den Menschen


"Person" meint im Wortsinn das Durchtönen. Dies setzt zwei voraus: den Rufenden und den "Durchtönten", der Antwort gibt auf das Angerufensein. Der Gedanke klingt zunächst spekulativ. Die Frage lautet aber naheliegend: Wer hat uns zu Personen gemacht? Sind es die Eltern, die das Kind "rufen", so wie man davon spricht, sie hätten es "ins Leben gerufen"? Rufen sie aber tatsächlich ins "Tönen"? Natürlich geht dies von Generation zu Generation, und trotzdem ist in dem Wort Person noch etwas enthalten, das nicht immer wieder nur auf andere Personen zurückläuft.


Die Theologie benennt das in einem Satz, der zunächst in seiner unvermittelten Behauptung ausgesprochen sei: Der Mensch ist Anruf. Das Kind ist da, weil es gerufen ist. Von wem? Es gibt die Antwort, die Eltern hätten es gewollt - aber bereits das kann fraglich sein. Kinder sind "die unbeabsichtigte Folge anderweitig absichtsgeleiteter Handlungen", heißt es im Soziologendeutsch. Selbst wenn man sie "anzielt" oder einfach nur zulässt, sind sie dann nur "Produkt" ihrer Eltern? Sind sie nicht zugleich ursprünglich? Sind es die Eltern, die Kette unbekannter Vorväter und Vormütter, die das Kind in seinem Sosein gewollt haben? Die Antwort ist ungenügend, weil die Eltern selbst das Kind nicht kennen, weder sein Geschlecht noch seine Anlagen bestimmen; ihre gleichermaßen langwierige und schwierige Aufgabe besteht ja darin, es nach dem Erschaffen auch kennenzulernen. Oder bestimmt das Kind sich selber, wenigstens später, wenn es sich aus seinem mitgegebenen Potential gestaltet, sich selbst die eigene Form erarbeitet? Woher aber das Potential? Woher die Notwendigkeit, dass auch Eltern ein Kind erst annehmen müssen, ja dass das Kind selbst sich einmal im Reifungsvorgang annehmen muss, seine Grenze und sein Nichtvermögen ebenso wie seine Mitte und sein Können? Woher denn die Vorgaben, die sich zusammenfügen zu einem lebendigen Menschen? Diese Frage führt zurück an die Stelle, wo wir, zugleich kindlich verletzlich und göttlich, verwundbar sind: nämlich unter mancherlei Anlagen leiden, ohne sie ändern zu können, und andere unbedenklich nutzen.


All dies lässt sich in die Antwort fassen: So wie wir sind, stammen wir aus Anruf. Dies ist eine Metapher für die Grundlosigkeit des Daseins, erst recht des Soseins. Dieser "Anruf" ist zunächst eine Glaubensaussage, man sollte ihr aber auch denkend folgen. Denn es ruft nicht einfachhin eine gestaltlose Ur-Macht oder eine dumpfe, unbewusste All-Natur. Es würde dem menschlichen Selbstverständnis nicht entsprechen, sich nur als eine zufällige Anhäufung genetischer Eigenschaften zu sehen, vielmehr erfährt man sich zugleich fragend, bejahend, verneinend, also reflektierend, schon dadurch aber einem nur blinden Anstoß überlegen. Sofern wir selbst Willen haben und im Willen auch selbig sind, kommen wir zu einer anderen Folgerung als einer unpersönlichen Kausalität: "gewollt zu sein", ist Anfang aller menschlichen Resonanz. Ein ungeheurer Wille schafft mich rufend, wie ich bin, selig, dass ich bin. Anders gelesen: Es ist Seligkeit, gewollt zu sein.


Zu Beginn eines mehrtausendjährigen Textes, der Genesis, steht der Satz, daß "im Anfang" geschaffen wurde (principium), nicht am Anfang, der sofort vergeht (initium). Im Anfang, hebräisch bereshit, heißt wörtlich sogar: "im Haupte" (rosh) Gottes. In diesem Anruf bin ich nicht Kopie, Sklave, ersetzbar von Tausenden, sondern ich bin frei, einzig, "ins Eigensein freigegeben" (15). Dieser Wille entstammt nicht einem Es, er ist auch nicht unbewusste Kraft eines naturhaften Anfangs, der sich emanativ ausgießt oder evolutiv-ziellos entwickelt, sondern er ist Wille, der ein Antlitz trägt und zuspricht: "Du sollst sein". Die Seligkeit, gewollt zu sein, ist nicht ein Wort aus dem religiösen Repertoire zur Beschwichtigung, sondern dient der wirklichen, tiefen Beruhigung: grundlos, umsonst dazusein (16), gratis e con amore. Denn Gründe werden nicht mitgegeben, auch nicht im messbaren Erfolg eines solchen Lebens. Vielmehr ist es unerschöpflicher Anfang: Aus ihm wird das Leben möglich. Es ist die Urtatsache, sich durch ein Wort des göttlichen Ursprungs geschenkt zu sein. "In jedem Menschen ist eine Stimme, die er nicht für das Echo seiner eigenen halten kann." (Joseph Bernhart) Wo diese Stimme nicht thematisiert und nicht erfahren wird, kommt es zu einer Verkürzung: Der Mensch bestätigt sich durch Funktionieren, durch selbsterarbeiteten Wert, durch Selbstbeschwörung. Kann er dieses Funktionieren nicht durchhalten, verliert er angeblich seine Würde, kann sie resignierend abgeben oder in der Empörung gegen das Dasein weiterhin empfinden: Trotz wird zur Erfahrung des eigenen Wertes. Stattdessen ist im Konzept der Person diese Würde als ein Geschenk betrachtet, als ein unerschöpfliches Sich-Zugesprochen-Werden durch den Schöpfer. Anthropologisch setzt es ungeheure Energien frei, wenn sich der Mensch in einer solchen Ur-Beziehung weiß: Dasein entspringt dem Wort des göttlichen Anfangs.



Nun lässt sich der Satz von Karl Kraus noch einmal "aufgeschlossen" wiederholen: "Die Sprache tastet wie die Liebe im Dunkel der Welt einem verlorenen Urbild nach." Auch unser gutes Reden über jemanden soll nichts erfinden, es soll dem Wirklichen nachtasten, das verdeckte Ursprüngliche öffnen. Das befreit es von der Romantik oder gar Sentimentalität eines bloß gutmütigen Redens. Das Urbild des Menschen stammt aus Urwort. Gutes Reden ist ein Nachsprechen der uranfänglichen Güte, die den Menschen ins Leben gesprochen hat.



Anmerkungen

(1) Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde., Stuttgart 1901, ND Frankfurt 1982, Bd. 3, 635.

(2) Friedrich Hölderlin, Der Rhein, in: Hölderlin, Werke, Briefe, Dokumente, Stuttgart/Hamburg o. J., 155.

(3) Franz Kafka, Die Tagebücher, 1919, in: ders., Gesammelte Werke, 12 Bde., Frankfurt 2001, 1, 866.

(4) Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte pädagogische Schriften, besorgt von Anton J. Gail, Paderborn 1963, 116: "Die Bären sollen eine unförmige Masse zur Welt bringen, die sie erst durch langes Lecken bilden und gestalten. Aber kein junger Bär ist so ungestalt wie der Mensch, der roh an Geist auf die Welt kommt." Erasmus benutzt dabei eine bereits bei Aristoteles überlieferte "Beobachtung" der Bärenaufzucht.

(5) Martin Buber, Ich und Du, Leipzig 1923; nachgedruckt in: Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954, 7-171; hier: 15; vgl. ebd. 32: "Der Mensch wird am Du zum Ich."

(6) R. Krenzer/R. Rogge (Hg.), Kurze Geschichten zum Vorlesen und Nacherzählen, Lahr/München 31988, II, 147.

(7) Martin Buber, Ich und Du, a. a. O., 31; vgl. auch ebd. 22.

(8) Franz Kafka, Brief an den Vater, in: Heinz Politzer (Hg.), Das Kafka-Buch. Eine innere Biographie in Selbstzeugnissen, Frankfurt 1965, 22f.

(9) Joachim Camerarius, Disputatio de imitatione, Basileae 1538, 20: "Quis est enim peritus ullius rei, natus, non factus?" - "Wer wäre denn schon einer Sache kundig geboren, und nicht vielmehr dazu gemacht?"

(10) Karl Jaspers, Philosophie II. Existenzerhellung, Berlin/Heidelberg/New York 41973, 56.

(11) Martin Heidegger, Was heißt Denken?, GA VIII, Frankfurt 2002, 182.

(12) Die Wiederholung, Frankfurt 1986, 15.

(13) James Stephens, Fionn der Held und andere irische Sagen und Märchen. Ü;bertragung und Einführung von Ida Friederike Görres, Illustr. von Arthur Rackham, Freiburg (Herder) 1936, 53f., Nachdruck 1993.

(14) Charles H. Kraft, Ich gebe euch Vollmacht, (Asaph) 2004.

(15) Romano Guardini, Die Annahme seiner selbst, Würzburg 1960, 19.

(16) Vgl. zum "Umsonst" des Daseins Ferdinand Ulrich, Der Mensch als Anfang. Zur philosophischen Anthropologie des Kindes, Einsiedeln 1970.

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