Vortrag von Weihbischof Reinhard Hauke zu einem Werk der Barmherzigkeit
Vorwort
Gedenktage und -jahre sind für Historiker bedeutsam. Ereignisse und Personen werden in den Blick genommen. Legendäres und Historisches wird voneinander unterschieden und getrennt. Zusammenhänge der Geschichte, Kultur und Religion werden dargestellt und erhellen einen Abschnitt der Menschheitsgeschichte, die bisweilen auch Kirchengeschichte und Heilsgeschichte ist.
Seit dem 19. November 2006 begehen die katholischen Christen im Bistum Erfurt das Gedenkjahr des 800. Geburtstages der heiligen Landgräfin Elisabeth von Thüringen. Im Vorfeld des Jubeljahres beriet Bischof Dr. Joachim Wanke mit seinen Mitarbeitern über das Profil des Jubeljahres. Die Frage stand im Raum: "Was würde Elisabeth heute tun? Wo würde sie heute die Nähe zum leidenden Christus suchen?" Damit fiel der Blick auf unsere Zeit der Postmoderne, die noch Wunden der sozialistischen Diktatur zu heilen hat. Eine Befragung durch die Kirchgemeinden im Bistum hatte zum Ziel, die Außensicht von Kirche zu erkennen. Diese Außensicht wird am ehesten durch Aussagen von Menschen möglich, die der Kirche derzeit noch fern stehen, aber durchaus Interesse an ihr haben, d.h. besonders an den caritativen und seelsorglichen Aktivitäten der Kirche. Aus der Befragung ergab sich, dass es vor allem die leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit sind, die von der Kirche erwartet werden. Gemeint waren damit nicht unbedingt die traditionellen Werke der Barmherzigkeit, sondern diese wurden neu bekleidet und traten nun frisch und jung wieder auf. Bischof Dr. Joachim Wanke fasste die Erwartungen an die Kirche in sieben Sätzen zusammen, die dann als die Sieben Werke der Barmherzigkeit für Thüringen heute veröffentlicht wurden. Diese sieben Werke sind:
- Ich besuche dich
- Ich teile mit dir
- Ich höre dir zu
- Du gehörst dazu
- Ich bete für dich
- Ich rede gut über dich
- Ich gehe ein Stück mit dir.
Bei der Eröffnung des Elisabethjahres wurden diese sieben Werke in beeindruckender Weise in der Messehalle vorgestellt. Bischof Dr. Wanke bat im Anschluss an die Eröffnungsfeier die Gläubigen in den Gemeinden, mit diesen sieben Werken die Körbe zu füllen, die in die Gemeinden gegeben wurden und bei der großen Bistumswallfahrt am 16. September 2007 als Gaben der Gemeinden zum Altar gebracht werden sollen.
Die Vorträge hier in der Brunnenkirche sollen "rein theoretisch" das Anliegen, die theologischen Hintergründe und die praktische Verwirklichungsmöglichkeit aufzeigen. In einem Flyer werden die Referenten angekündigt, die aus Politik und Kirche die Werke der Barmherzigkeit für Thüringen heute betrachten.
Lassen Sie mich heute mit dem Werk der Barmherzigkeit beginnen:
"Ich besuche dich."
1. Der Besuch als heilsgeschichtliches Ereignis
1.1. Abraham und die drei Engel (Gen 18, 1-33)
Abraham hat sich mit seinem ganzen Leben Gott anvertraut. Zusammen mit Sara und seinem Neffen Lot ist er aus der Heimat aufgebrochen, um das Gelobte Land in Besitz zu nehmen, von dem er nichts weiß außer der Tatsache, dass es dieses Gelobte Land gibt und dass Gott es ihm geben will. Er lebt in einer hohen Sensibilität für Gott. Er hat Gottes Stimme hören können, weil er diese Sensibilität besitzt. Die Stimme Gottes hat sein Leben grundhaft verändert und er scheint in der Veränderung seine Freude zu haben. Nicht nur für ihn bringt Gott Veränderung, sondern auch für seine Frau und den Neffen Lot. Andere werden in das Heilsgeschehen mit hinein gezogen - sie partizipieren daran in Freude und Leid.
Die Heilige Schrift erzählt in Genesis 18 von einem geheimnisvollen Besuch bei Abraham:
Der Herr erschien Abraham bei den Eichen von Mamre. Abraham saß zur Zeit der Mittagshitze am Zelteingang. Er blickte auf und sah vor sich drei Männer stehen. Als er sie sah, lief er ihnen vom Zelteingang aus entgegen, warf sich zur Erde nieder und sagte: Mein Herr, wenn ich dein Wohlwollen gefunden hab, geh doch an deinem Knecht nicht vorbei! Man wird etwas Wasser holen; dann könnt ihr euch die Füße waschen und euch unter dem Baum ausruhen. Ich will einen Bissen Brot holen, und ihr könnt dann nach einer kleinen Stärkung weitergehen; denn deshalb seid ihr doch bei eurem Knecht vorbeigekommen. Sie erwiderten: Tu, wie du es gesagt hast! Da lief Abraham eiligst ins Zelt zu Sara und rief: Schnell drei Sea feines Mehl! Rühr es an, und backe Brotfladen! Er lief weiter zum Vieh, nahm ein zartes, prächtiges Kalb und übergab es dem Jungknecht, der es schnell zubereitete. Dann nahm Abraham Butter, Milch und das Kalb, das er hatte zubereiten lassen, und setzte es ihnen vor. Er wartete ihnen unter dem Baum auf, während sie aßen. Sie fragten ihn: Wo ist deine Frau Sara? Dort im Zelt, sagte er. Da sprach der Herr: In einem Jahr komme ich wieder zu dir, dann wird deine Frau Sara einen Sohn haben. Sara hörte am Zelteingang hinter seinem Rücken zu. Abraham und Sara waren schon alt; sie waren in die Jahre gekommen. Sara erging es längst nicht mehr, wie es Frauen zu ergehen pflegt. Sara lachte daher still in sich hinein und dachte: Ich bin doch schon alt und verbraucht und soll noch das Glück der Liebe erfahren? Auch ist mein Herr doch schon ein alter Mann! Da sprach der Herr zu Abraham: Warum lacht Sara und sagt: Soll ich wirklich noch Kinder bekommen, obwohl ich so alt bin? Ist beim Herrn etwas unmöglich? Nächstes Jahr um diese Zeit werde ich wieder zu dir kommen; dann wird Sara einen Sohn haben. Sara leugnete: ich habe nicht gelacht. Sie hatte nämlich Angst. Er aber sagte: Doch, du hast gelacht. (Gen 18, 1-15).
Die christlichen Theologen deuten diese drei Engel als die drei göttlichen Personen. Der alttestamentliche Schriftsteller konnte daran noch nicht denken. Vielleicht hat er unbewusst aufgeschrieben, was erst durch die christliche Theologie erklärt werden konnte. Viele kennen die Ikone aus Lavra in Moskau (um 1410) von Andrei Rublew, die das biblische Geschehen darstellt und dabei auch den drei Engeln die drei göttlichen Personen zuordnet.
Betrachten wir das biblische Geschehen aber heute einmal allein unter dem Aspekt des Besuches.
a) Unverhoffte Begegnung
Wir können feststellen, dass der Besuch unverhofft kam. Abraham hatte keine Ankündigung bekommen. Er ist aber offen für das Neue und Unverhoffte und erfährt dadurch sein Heil und kann für seine Familie, d.h. für seinen Neffen Lot und dessen Familie Heil schaffen.
Personen begegnen sich und waren bisher darauf nicht eingestellt. Es soll die Begegnung dem anderen gut tun und zum Leben helfen. Der, dem geholfen werden soll, muss offen sein für die Veränderung. Wer keine Veränderung zulassen will, wird den Besuch nicht hereinlassen, sondern auf die Besitzstandswahrung hoffen. Das Wort "plötzlich" spielt in der Heiligen Schrift eine große Rolle. Es zeigt an, dass Gott immer in der Nähe ist und Veränderungen ständig möglich sind, wenn wir Menschen nur wollen und es zulassen. Christentum ist deshalb nichts für Ängstliche, die nur der Gegenwart und Vergangenheit eine Wirklichkeit zuordnen. Christentum hat mit Veränderung zu tun, die nicht immer aus dem Verstand des Menschen kommt, sondern in Gott seine Ursache hat. Der Glaubende ist deshalb nicht so sehr überrascht oder auch durch den Besuch überfordert. Er weiß, dass ein Besuch immer von Gott kommt und damit ihn bereichern will. Die alten Väter - besonders auch der heilige Benedikt von Nursia, haben die Kostbarkeit des Besuchs erkannt und sagen, dass Gott plötzlich und unverhofft kommt und um Einlass bittet. Die Eschatologie - die Lehre von der Endzeit - wird von diesem Gedanken geprägt. Es ist deshalb bei den Christen niemals eine Endzeitstimmung, die zur Depression führt, sondern freudige Erwartung des Freundes und Bruders Jesus Christus, der uns reich machen will mit den Gaben des Himmels.
b) Kontakt
Der unverhoffte Besuch bei Abraham sucht den Kontakt. Die drei Gäste kommen nicht nur in das Zelt des Abraham und der Sara, sonder wollen mit ihnen sprechen und ihnen eine gute Nachricht betreffs eines Sohnes bringen, den Sara gebären soll. Kontaktbereitschaft bedeutet: Ich gebe meine Privatsphäre auf und lasse dich an mich heran und in mein Leben hinein.
Wenn wir den Zeitgeist analysieren, dann entdecken wir eine starke Tendenz zum Egoismus und zum Single-Dasein. Das Zappen und die Gewohnheit des Honky-Tonk zeigen einerseits die Suche nach Nähe und anderseits die Angst vor der Bindung. Kontakt ist hier eher nur Berührung mit dem anderen, aber nicht die Bereitschaft, mir von ihm etwas sagen zu lassen oder mein Leben durch die Begegnung zu verändern. Bei Abraham ist Gastfreundschaft zu spüren, die aus der Verantwortung für den Nächsten kommt und in der Gottes- und Nächstenliebe seinen Ursprung hat. Der biblische Text bringt mich zum Nachdenken über die Formen der Begegnung, die wir als Christen pflegen. Auch hier besteht die Gefahr, nur eine Berührung zuzulassen und den wirklichen Kontakt, der den Menschen verändert, zu meiden. Das Gebot der christlichen Nächstenliebe verpflichtet uns zu mehr als nur zum distanzierten Kontakt oder der Nächstenliebe im gebührenden Abstand. Wenn es sicherlich auch das Recht auf die Privatsphäre gibt, in die ich keinen hineinlassen muss, so wird doch Erfolg in meiner Zuwendung nur dann möglich sein, wenn ich mich öffne und "ins Herz schauen" lasse - ein beliebtes Wort unseres Bischofs Joachim Wanke.
c) Beziehungen
Das Wort "Beziehungen" hat in unserer heutigen Welt einen eigenen Charakter bekommen. Mit diesem Wort verbinden wir unentgeltliche Vorteile aufgrund näheren Kennens. "Vitamin B" wurden diese Beziehungen im Sozialismus genannt und sie spielen bisweilen auch heute eine Rolle, wenn es um Karriere oder um begehrte Plätze im Kindergarten geht. Bei Abraham bewirkt die Begegnung mit den drei Männern die Rettung seiner Familie aus Sodom. Abraham legt bei den drei Männern ein Wort für Sodom ein und erreicht, dass sein Neffe Lot mit der Familie vor dem Untergang die Stadt verlassen kann.
Der Herr sprach also: Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra, ja das ist laut geworden, und ihre Sünde, ja die ist schwer. Ich will hinabgehen und sehen, ob ihr Tun wirklich dem Klagegeschrei entspricht, das zu mir gedrungen ist. Ich will es wissen. Die Männer wandten sich von dort ab und gingen auf Sodom zu.
Abraham aber stand immer noch vor dem Herrn. Er trat näher und sagte: Willst du auch den Gerechten mit den Ruchlosen wegraffen? Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte in der Stadt: Willst du auch sie wegraffen und nicht doch dem Ort vergeben wegen der fünfzig Gerechten dort? Das kannst du doch nicht tun. Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten? Da sprach der Herr: Wenn ich in Sodom, in der Stadt, fünfzig Gerechte finde, werde ich ihretwegen dem ganzen Ort vergeben (Gen 18, 20-26).
Abraham handelt mit Gott weiter und endet damit, dass Gott selbst wegen zehn Gerechter die Stadt nicht zerstören wird.
Wenn Beziehungen anderen nicht schaden sondern auch nur wenigen nützen, kann man sie nicht als schlecht bezeichnen. Von den Beziehungen zu Gott würde och sogar sagen: sie sind eine Lebensnotwendigkeit, um die wir alle als Christen besorgt sein sollten. Im Fall des Abraham wurden durch seine Beziehungen Menschenleben gerettet, die aufgrund der Schuld anderer Mitbewohner Sodoms zu Tode gekommen wären. Der Besuch Gottes bei Abraham hat irdische heilbringende Konsequenzen. Weil einer in der Familie eine Gottesbeziehung hat und sich über den Besuch Gottes in seinem Haus freut, kann er für andere zum Heil werden. Hier sehe ich eine Ermutigung für die Glaubenden, die nach dem Sinn ihrer Religiosität in Praxis und Leben fragen, wenn ihre Familienmitglieder, die Kinder und Enkel, dem Gemeindeleben fern bleiben. Stellvertretend für die Familienmitglieder, die abständig sind, treten die glaubenden Familienmitglieder vor Gott und erbitten Heil und Segen. Das wird oft gern gesehen, wenn bisweilen auch mit einem Naserümpfen. Manchmal bringen die getauften aber abständigen Kinder und Enkel die Großeltern in die Kirche und holen sie nachher wieder ab, aber sie betreten selbst nicht das Gotteshaus. Der eigene Glaube bleibt "auf Eis gelegt". Anderen wird eine Rolle übertragen - die Rolle des Betens. Altenheime und Krankenhäuser sollten deshalb ins besondere als Orte des Betens für die Gemeinde und Gesellschaft gelten.
d) Loslassenkönnen und -müssen
Christen besuchen einander, um dem anderen zum Leben zu helfen, das von Gott kommt. Es geht nicht allein um das eigene Heil, sondern um die Rettung des anderen - sogar bis hin zum Einsatz des eigenen Heiles. Nicht für sich selbst handelt Abraham mit Gott bezüglich der Bewohner von Sodom, sondern bezüglich seiner Familie. Er riskiert dabei die gute Beziehung zu Gott. Er könnte dem Abraham Gram werden, wenn er sich auf die Diskussion einlässt. Aber es ist dem Abraham das Leben seiner Verwandten so viel wert, dass er auf den eigenen Vorteil gern verzichtet.
Gewöhnlich sagen wir, dass uns der Einsatz in Liebe selbst zum Heil und zur persönlichen Reifung hilft, aber am Beispiel Jesu Christi erkennen wir das Risiko, das eigene Leben zu verlieren, um das Leben der vielen zu retten. Wir denken über Werke der Barmherzigkeit in diesem Elisabeth-Jahr nach und können gerade bei diesem Werk der Barmherzigkeit "Ich besuche dich" die heilige Elisabeth als lebendes Beispiel der Selbstlosigkeit nennen, die beim Besuch der Armen und Kranken nicht auf sich selbst geachtet hat, sondern der es wichtig war, konkrete Not zu lindern- auch auf die Gefahr hin, ihre bisherige Stellung und auch die Beziehung zu ihrem Gatten Ludwig zu riskieren und in eine Krise zu bringen. Das Loslassen des eigenen Vorteilsdenkens gehört wesentlich zur Fähigkeit dazu, den anderen zu besuchen. Ich tue es um des Nächsten willen und ausschließlich um seinetwillen.
Beeindruckend wurde kürzlich in einem amerikanischen Film mit dem Titel "Hinter dem Horizont" beschrieben, wie ein Mann, der im Himmel sein durfte, seine Frau erlösen möchte, die sich aus Gram wegen des Todes des Mannes und ihrer Kinder das Leben genommen hatte. Sie war in die Hölle gekommen. Ihr Mann wollte es sich nicht darauf beruhen lassen, sondern suchte einen Weg zur Erlösung. Er entschied sich dafür, den Himmel aus Liebe zu verlassen, um bei seiner Frau zu sein. Diese Entscheidung ermöglichte ihm und seiner Frau den Himmel. Eine phantastische Geschichte, die 1999 verfilmt wurde. Das Loslassenkönnen ermöglichte den besuch in der Hölle und damit die Erlösung. Für mich auch ein besonderes Bild für den Karsamstag - den Tag, an dem wir den Abstieg Jesu in das Reich des Todes feiern.
1.2. Der Besuch der Freunde bei Ijob (Ijob 2, 11- 31, 40)
Die Nachricht vom schweren Schicksalsschlag des Ijob erreicht seine Freunde. Die Heilige Schrift erzählt:
Die drei Freunde hörten von all dem Bösen, das über ihn gekommen war. Und sie kamen: ein jeder aus seiner Heimat: Elifas aus Teman, Bilodad aus Schuach und Zofar aus Naama. Sie vereinbarten hinzugehen, um ihm ihre Teilnahme zu bezeigen und um ihn zu trösten.
Als sie von fern aufblickten, erkannten sie ihn nicht; sie schrieen auf und weinten. Jeder zerriss sein Gewand; sie streuten Asche über ihr Haupt gegen den Himmel. Sie saßen bei ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte, keiner sprach ein Wort zu ihm. Denn sie sahen, dass ein Schmerz sehr groß war.
a) Der Aufschrei
Der Besuch beginnt mit dem Aufschrei der Freunde, denen die ganze Größe der Not jetzt erst bewusst wird. Sie lassen ihren Schmerz heraus. Sie protestieren damit gegen das Leid, wenn sie auch wissen, dass es nicht zu ändern ist - es sei denn durch ein Wunder. Darum schließt sich dem Aufschrei das Schweigen an. Das scheint der Situation gemäßer zu sein.
b) Schweigende Anteilnahme
Bisweilen sind Worte sinnlos. Sie können keine Veränderung bewirken. Sie sind überflüssig - im Augenblick. Die drei Freunde sind betroffen vom Schicksal des Ijob und finden zunächst keine Worte. So ist es legitim und der Situation angemessen, sich hinzusetzen und zu schweigen. Das bewahrt den Leidtragenden vor Kurzschlussreaktionen und vor dem Gedanken, mit allen Sorgen alleingelassen zu werden. Problemlösungen sind bisweilen nicht das erste Thema in einer Notsituation. Die schweigende Anteilnahme hilft zu Klärung der eigenen Situation, weil der Notleidende eine äußere Stabilisierung durch die Anwesenheit der Freunde erfährt. Der Notleidende kann sich auf sein eigentliches Problem konzentrieren. Jegliche äußere Aktivität würde ihn von der Klärung seiner Situation ablenken. Ich denke an Situationen der Trauerarbeit. Sicherlich kann sich der Trauernde in alle möglichen Formen der Aktivität stürzen, um der Ursache der Trauer zu entfliehen, aber einen inhaltlichen Fortschritt bringt es nicht. Das Schweigen ist situationsbezogen und hilfreich. Ein Signal zum Brechen des Schweigens muss vom Gegenüber kommen.
c) Zuhören und Reflektieren
Ijob geht dann in eine Klage über und zählt alle Not auf, die ihn an den Rand des Todes bringt. Weil er nun das Wort benutzt, können seine Freunde gleichfalls antworten. Sie versuchen, die Schuld des Ijob herauszufinden, die zu diesem Unglück geführt hat. Immer wieder betont Ijob aber seine Unschuld. Wie ein großes Gelübde ist seine Unschuldsbeteuerung im 31. Kapitel. Alles endet mit der Erkenntnis der Größe des Schöpfergottes, der alles regiert und erhält und mit der Zusage neuen Heiles für Ijob. Die drei Freunde werden durch ihren Besuch bekehrt. Von Gott erhalten sie den Auftrag, ein Sühnopfer für ihre falsches Denken über Gott darzubringen. Sie haben sich im Zuhören und Reflektieren verändert. Der Kontakt wirkt sich wie bei Abraham auch hier heilbringend aus, jedoch für diejenigen, die einander besuchen und nicht darüber hinaus - es sei denn, man rechnet die neuen Kinder des Ijob als Segen, der sich nach Außen auswirkt.
1.3. Der Besuch Marias bei Elisabeth (Lk 1, 39-56)
Zahlreiche Gedanken und Erfahrungen aus dem Alten Testament finden wir im Neuen Testament wieder. Zu den besonderen Besuchserfahrungen zwischen den Menschen gehört wohl der Besuch Marias bei Elisabeth, nachdem Maria durch den Engel erfahren hat, dass sie die Mutter des Messias werden soll und ihre Verwandte Elisabeth jetzt schon im 6. Monat ist, obwohl diese als unfruchtbar galt.
a) Wahrnehmen des Heiles
Als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabeth vom Heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? In dem Augenblick, als ich deinen Gruß vernahm, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib.
Die Kindsbewegungen werden von Elisabeth als Zeichen der Erkenntnis des Johannes gedeutet. Er erkennt seinen Herrn und Meister Jesus Christus. Man kann darüber streiten, ob es richtig ist, so über die Kindsbewegungen zu urteilen und ihnen einen tieferen Sinn zuzuschreiben. Für Elisabeth war es ein Zeichen der Nähe zwischen ihrem Kind und dem Kind Marias. In der Begegnung spürt Elisabeth die Nähe des Heiles für sich und alle Menschen. Sie weiß um die Bedeutung des Messias und kann darum so große Worte riskieren. Sie ist dabei mutig, denn sie ist wohl die erste Glaubende in Israel, die damit erkennt, dass die Geburt des Messias bevorsteht und die Zeit erfüllt ist. Ich vermute sogar, dass sie damit den Glauben Mariens gestärkt hat, der bisher sehr zaghaft und noch verborgen vorhanden war. Mir erscheint ihr Weg nach El Karim zu Elisabeth wie der Versuch, Gewissheit über den Wahrheitsgehalt der Worte des Erzengels Gabriel zu bekommen. Wir können nicht sagen, dass Maria ungläubig gewesen wäre, sondern sie sah in ihrem Besuch einen Weg, das wunderbare und unfassbare Geheimnis der Menschwerdung tiefer zu erfassen und damit auch leichter anzunehmen.
b) Lobpreis der Größe Gottes
Das Magnifikat ist Höhepunkt des Besuchs von Maria bei Elisabeth. Die Erkenntnis der Menschwerdung Gottes in ihrem Schoß bringt sie zum Jubeln. Sie denkt nicht zuerst an alle Fragen und Probleme, die sich für sie daraus ergeben. Sie erkennt zuerst Gottes gnädiges Handeln an ihr und an seinem Volk. Durch den Besuch klärt sich für sie die Bedeutung ihres Kindes für das Volk Israel. Sie verändert sich damit während des Besuchs: Aus der fragenden, hoffenden und stillen Maria wird die mutige, zielstrebige und singende Maria. Der Besuch führt nicht nur zu einer Veränderung in ihr, sondern hat auch Konsequenzen für ihr Volk, wobei es ihr sicherlich noch nicht klar ist, wie sie diese Konsequenzen bekannt machen und verstehbar machen soll. Das wird dann wohl die Aufgabe Jesu selbst sein. Sie trägt aber schon mit, was Jesus Christus an guter Nachricht für sein Volk zu sagen hat.
1.4. Zusammenfassung
Sicherlich ließen sich noch andere Beispiele für Besuche in der Heiligten Schrift nennen, aber ich denke, dass sie alle die schon genannten Aspekte in irgendeiner Art verstärken oder ergänzen.
Ich möchte diese zusammenfassen mit den Stichworten:
- Unverhoffte Begegnung
- Kontaktnahme
- Beziehungen
- Loslassenkönnen/Loslassenmüssen
- Schweigende Anteilnahme
- Zuhören und Reflektieren
- Wahrnehmen des Heils
- Lobpreis der Größe Gottes.
Damit zeigt sich die doppelte Zielrichtung des Besuchs: Er dient dem Besuchten und er dient dem Besuchenden. Er hat Auswirkungen für das Heil auf beiden Seiten. Es schwingt die göttliche Dimension der menschlichen Existenz mit - ob man es wahrhaben will oder nicht. "Der Besuch kommt von Gott" - heißt es in einem russischen Sprichwort. Er kommt nicht nur von Gott, sondern bringt mich auch mit Gott in Beziehung.
2. Besuchsdienst in pastoraltheologischer Sicht
2.1. Die theologische Definition
Interessant ist es sicherlich, einen Pastoraltheologen zum Thema "Besuch" zu hören. Die Theologie versucht, das biblische Wissen und die kirchliche Tradition auf den Begriff zu bringen. Der Mainzer Theologe Richard Hartmann schreibt unter dem Stichwort "Besuchsdienst" im Lexikon für Theologie und Kirche:
Besuchsdienst ist der Dienst ehrenamtlicher Mitarbeiter(innen) in Pfarrgemeinden und Verbänden. Alle oder bestimmte ihrer Mitglieder sollen dadurch regelmäßig oder einmal besucht werden. Es geht dabei um Kontakt in einem Kommunikationsprozess, bei dem ein Besucher mit einem Besuchten über ein Thema (z.B. Leben/Glaube/Kirche) unter einer bestimmten Zielvorstellung (Glaubenshilfe als Lebenshilfe; Gewinnung für das gemeindliche Leben; Bestätigung der Mitgliedschaft) kommuniziert. Als Form des Laienapostolates gibt es in beiden großen Konfessionen Besuchsdienst seit Beginn der zwanziger Jahre. Er entstand als Form der Pastoral der Großstadt und als missionarischer Dienst gegen die Anonymität der Großgemeinden und den damit verbundenen Religionsverlust und die Entfremdung von der Kirche. Auftrieb erhielt der Besuchsdienst im Rahmen der Volksmissionen zwischen 1950 und 1970. Später wurde der Besuchsdienst als diakonischer Dienst mit dem Interesse, der konkreten Not der Menschen abzuhelfen, neu konzipiert vor allem durch pfarrliche Caritas-, Wohnviertel-, Apostolats-Gruppen. Zielbestimmung und Mitarbeiterbegleitung lassen eine Bewertung dieser Pastoralstrategie zu. (2)
Diese Definition schränkt den Vorgang des Besuchs auf das gemeindliche Tun ein. Hier wurde vermutlich der Begriff geprägt und erhielt eine besondere Bedeutung. Diese Definition schließt natürlich nicht aus, dass es auch außerhalb des gemeindlichen Besuches Besuche geben kann und soll. Deutlich wird dabei, dass damit ein Kommunikationsprozess angestoßen werden soll, der mit dem Besuch gestartet, weitergeführt oder wieder neu aufgenommen wird. Dieser Kommunikationsprozess hat ein Ziel - nämlich die weitere Integration in die Gemeinschaft oder Gesellschaft. Besuche ohne tiefere Absicht werden hier nicht genannt oder bedacht. Bei der engen Definition ist es - auf den ersten Blick - auch berechtigt, so eng den Sinn des Besuchsdienstes zu sehen und zu beschreiben. Auch der Hinweis auf die Arbeit des Laienapostolates verdeutlicht die Absicht beim Besuch, den Glauben zu stärken, neu zu entfachen oder wenigstens darüber zu sprechen. Der Besuchsdienst wurde organisiert, weil er aufgrund persönlicher Beziehungen nicht mehr selbstverständlich war, d.h. es bestanden keine persönlichen Beziehungen zum Besuchten, die einen Besuch angezeigt lassen schienen. So tritt nun die Gemeinde oder Gesellschaft an die Stelle der Familienmitglieder und organisiert den Besuch, der natürlich nicht die Integration in die eigene Familie zum Ziel hat, sondern die Integration in die Gemeinde und den Verband, der in vieler Hinsicht die Aufgabe der Familie übernehmen möchte und soll. Der Artikel erwähnt am Ende die Tatsache, dass konkreter Not Abhilfe geschaffen werden sollte - auch der Not, die mit seelischer Not nichts zu tun hat und im sozialen Engagement im Blick ist.
Konrad Baumgartner, Professor für Praktische Theologie an der Universität Regensburg, beschreibt unter der Ü;berschrift "Der Krankenbesuch als ehrenamtliche Aufgabe in Gemeinde und Krankenhaus" (3) die "vielfältige Hilfe, Zuwendung und Sorge" (4), der ein Mensch besonders bei schwerer Krankheit bedarf. Er bezieht sich dabei auf ein Schaubild von Anna Karl-Rott, das den Kranken in Beziehung zur ärztlichen, seelsorglichen, pflegerischen, psychosozialen und hauswirtschaftlichen Hilfe zeigt. Alle Hilfen werden im einzelnen genannt und aufgegliedert:
Die ärztliche Hilfe besteht aus vorbeugender Schmerzlinderung und Linderung der Symptome. Die seelsorgliche Hilfe besteht aus religiöser Begleitung, Krankenbesuch und liturgisch/sakramentalen Feiern. Die pflegerische Hilfe besteht aus Zuwendungspflege, Fachpflege und Anleitung der Familie. Die psychosoziale Hilfe besteht aus soziale und seelische Entlastung durch Gespräche, durch Kontaktbesuche, durch Trauerarbeit und Krisen- bzw. Sterbebegleitung. Die hauswirtschaftliche Hilfe besteht aus Entlastung im Haushalt, Einkaufsdienst, Kinderbetreuung, Wäsche und materieller Hilfe (5). Näherin wird dann durch Baumgartner ausgeführt, dass allein überzeugte und überzeugende Christen und Christinnen zum Besuchsdienst befähigt sind. Der Krankenhausseelsorger kann den Kreis der Helfer beim Besuch der Kranken aus dem Kreis der Gemeindemitglieder erweitern. Baumgartner sieht als Pastoraltheologe zuerst den Christen als Helfer beim Besuchsdienst. Der Christ baut in seinem Besuchsdienst auf das christliche Menschenbild. Gemeinsam mit dem Krankenhausseelsorger bespricht er die konkreten Situationen am Krankenbett und berät sich mit ihm über die passenden Antworten auf konkrete Fragen der Patienten.
Da der Autor ein Buch über die christliche Gemeindearbeit schreiben wollte, ist diese Sicht des Besuchsdienstes zu akzeptieren. Es steht natürlich dabei auch die Frage an, ob am Krankenbett auch nichtchristliche oder anderesreligiöse Grundwerte vermittelt werden können, die zum Leben helfen. Für mich ist es immer wieder eine besondere Frage, ob hier auch atheistische Gedanken oder der Agnostizismus zur Antwort und zum Gespräch fähig sind. Konkrete Beispiele sind selten und haben die Öffentlichkeit kaum erreicht. Lediglich eine Berichterstattung über die Tätigkeit eines Philosophen neben dem Theologen in einem Krankenhaus wurde kürzlich in einer Fernsehdokumentation vorgestellt.
Interessante Gedanken finden sich bei Baumgartner unter der Ü;berschrift "Voraussetzungen, Gründe und Ziele für den Besuchsdienst"(6). Er spricht hierbei von "wertvollen Charismen, die es durch die hauptamtlichen Seelsorger zu entdecken, zu fördern und zu begleiten gilt"(7). Dabei zählt erwartet er von den "Mitchristen",
- dass sie Einfühlsam sind, d.h. von ihren eigenen Gefühlen wissen und die Gefühle der Besuchten wahrnehmen, was dazu führt, zu wissen, was wann und wie gesagt werden kann;
- dass sie zuhören können, d.h. den anderen ausreden lassen und nicht gleich mit Ratschlägen oder eigenen Erlebnissen daher kommen; dass pausen ausgehalten werden;
- dass sie echt sind, d.h. sie selbst sind und nicht nur eine Fassade zeigen;
- dass sie tolerant sind, d.h. das Andersdenken akzeptieren, ohne es immer gutheißen zu müssen und dabei den anderen nicht für die eigenen Gedanken vereinnahmen;
- dass sie verschwiegen sind, d.h. das Anvertraute für sich behalten und sorgsam mit der Weitergabe von Informationen umgehen;
- dass sie sich partnerschaftlich verhalten, d.h. die Führung des Gesprächs nicht an sich reißen wollen, sondern den Partner immer auch den Inhalt und die Intensität des Gesprächs mitbestimmen lassen;
- dass sie ein gutes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz haben. Zitat:
- weiterhin dass die Besuchenden ihre eigenen Grenzen sehen und annehmen können, d.h. Schwächen und Fehler werden auf beiden Seiten anerkannt und bekannt. Es besteht die Bereitschaft zur Veränderung auf beiden Seiten und es besteht die Offenheit, durch andere Personen oder Gruppen eine Hilfe bei der Bewältigung der Probleme zu finden;
- letztlich dass die Besuchenden durch ihr verhalten durchlässig sind für die Liebe Gottes, d.h. von der Liebe Gottes als Urgrund des Lebens wissen und auch ggf. darüber reden können.
"Diese Menschen nehmen durch viele Formen der Nähe (einfühlendes Gespräch, Händedruck, Streicheln über den Kopf und Schultern, liebevoller Blick) am Schicksal des Gegenüber teil, ohne jedoch ein Teil von ihm zu werden. Sie können gleichzeitig in der Welt des anderen stehen und sie doch auch von außen sehen und daneben ihre eigene Welt haben." (8)
Baumgartner schließt diese Aufzählung mit einem Zitat von A. Schmitt-Habersack: "Dies sind ideale Vorstellungen und Wünsche. Keiner kann sie voll erfüllen. Wichtig ist jedoch die Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen und daran zu arbeiten. Dies wird eine Aufgabe für das ganze Leben sein." (9)
Baumgartner spricht am Schluss dieser Gedanken noch das Thema des Besuchs bei den Fernstehenden an, die beim Krankenbesuch aber auch bei anderen Gelegenheiten begegnen. Er schreibt:
"Es geht beim Krankenbesuchsdienst nicht darum, distanzierte Christen zu missionieren oder bekehren zu wollen, außer diese äußern selbst den Wunsch dazu. Es geht um einen selbstlosen, nicht vereinnahmenden Dienst und nicht um eine angstmachende oder gar verurteilende Konfrontation. Auch eine selbstbewusst-wissende Belehrung über den Sinn des Leidens und der Krankheit steht dem Besucher nicht zu. Vielmehr geht es um ein Anteilnehmen an dem, was den Kranken bewegt, um ein äußeres und vor allem inneres Zuhören und Einfühlen, um das Aufrichten und Trösten mit wahrhaftigen und echten Impulsen der Hoffnung, auch aus dem Glauben." (10)
Im Unterschied zur Definition von Hartmann wird hier das Ziel des Besuchs mit großer Sensibilität benannt. Der Besuchende kommt zwar von einer christlichen Pfarrgemeinde, die ein bestimmtes Bekenntnis hat, das sie gern weitergeben möchte, aber er hat auch die Größe, von diesem Bekenntnis verbal erst dann Gebrauch zu machen, wenn danach verlangt wird. Es geht also nicht in erster Linie um das Gewinnen oder Zurückgewinnen von neuen Gesinnungsgenossen oder Brüdern und Schwestern Christi, sondern um die Annahme des Gesprächspartners in seiner konkreten menschlichen Situation aus christlichem Geist, der jederzeit bezeugt werden kann. Es ist das Interesse am Gesprächspartner zu spüren, aber besonders auch die Ehrfurcht vor seiner inneren, seelischen Situation, die vielleicht für die Frage nach Gott offen ist, aber noch einer Klärung und Erhellung bedarf.
2.2. Besuchsdienste in den Gemeinden
"Elisabethfrauen", "Caritashelferinnen" oder auch "Mitarbeiter der Caritas" heißen die Frauen, die in den Gemeinden Besuch machen. Mehrheitlich sind es die Frauen, die sich für den Dienst bereit erklären. Es erscheint vielfach dieser Dienst als eine Unterstützung der Arbeit des Pfarrers, denn der Pfarrer hat sich bei seiner Priesterweihe verpflichtet, die Armen und Notleidenden zu unterstützen und benötigt dazu Helfer. Aber auch alle Getauften sind als Glieder der Kirche zur Caritas verpflichtet, da sich hier die Liebe Gottes am besten zeigt, von der in der Verkündigung gesprochen wird. Besuchsdienst bedeutet: Mit Respekt die Meinung des Gegenüber zu akzeptieren und behutsam zu signalisieren, dass sich der Mensch dem Mitmenschen und "Sinnesverwandten" anvertrauen kann und somit entlastet und frei wird.
Es ist der Besuch mehrheitlich eine Einladung in die Gemeinde und in eine neue Gemeinsamkeit, die vielleicht durch Alter oder Krankheit unterbrochen wurde oder die bisher aufgrund des Zuzugs noch nicht am Ort bestand. Besuchen bedeutet hier auch: sich wieder verabschieden und zurückgehen. Damit gebe ich wieder den Raum frei für eigenes Tun und Denken. Das ist ein Zeichen der Hochschätzung des mitmenschlichen Lebens. Glaube ist gemeinschaftsstiftend.
2.3. Ein weiteres Beispiel: Gefängnisseelsorge
Das Leporello, mit dem die "Sieben Werke der Barmherzigkeit für Thüringen heute" bekannt gemacht werden, zählt hinter dem genannten Werk des Besuches Zielgruppen auf, die den Gemeinden wichtig sein sollten: "Einsame, Fallengelassene, die ?Fortschrittsverlierer?" (11). Im März 2006 hat die Deutsche Bischofskonferenz ein Dokument unter dem Titel veröffentlicht: "Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen" (Hebr 13,3) - Der Auftrag der Kirche im Gefängnis (12). Unter der Ü;berschrift "Träger der Gefängnisseelsorge" wird in einem eigenen Abschnitt die "Verantwortung der Pfarrgemeinde" (13) genannt. Nach einleitenden Gedanken über die Notwendigkeit der Vorbereitung von Gemeindemitgliedern auf diesen Dienst werden verschiedene Tätigkeitsfelder genannt, die in dieser Kontaktnahme möglich wären und von einzelnen Gemeindemitgliedern ausgefüllt werden könnten. Im Einzelnen wird unter anderem genannt:
- Verbindung mit den Gefangenen durch Briefwechsel oder Besuch,
- Betreuung und Beratung der Angehörigen durch die entsprechenden Dienst der Caritas,
- Hilfe zur Bereinigung von Spannungen zwischen dem Gefangenen und seinen Angehörigen, Hilfe zur Aussöhnung in ihren Familien,
- Hilfe nach der Entlassung durch Hausbesuche und Beratung bei auftretenden Schwierigkeiten. (14)
Eingangs werden diese konkreten Handlungen der Gemeinde in einen größeren Kontext gestellt. Dabei heißt es wörtlich: Anteil am Geschick des Menschen zu nehmen, ihn ernst zu nehmen, ist die erste Aufgabe der Seelsorge. (15)
Danach zitiert die Schrift aus der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils:
Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen einen Widerhall fände." (16)
Hiermit wird eingeladen, die gute Nachricht des Evangeliums den Menschen zukommen zu lassen, die in Not sind. Der Besuch hat damit ein einfaches Ziel: Dem Mitmenschen soll geholfen werden. Die Hilfe beschränkt sich jedoch nicht auf das irdische Leben, sondern hat auch noch ein weiteres Ziel: die Ewigkeit. Der Christ und seine Gemeinde sieht sich zum missionarischen Tun veranlasst, weil er nicht stumm wird angesichts der Not des Mitmenschen, denn er hat ja eine Botschaft, die dem Leben aufhilft. Der Besuch soll den Horizont weiten, das Herz öffnen und mit guten Gaben erfüllen. Christen sind der Ü;berzeugung, dass ein Besuch bei den Mitmenschen ihnen aufhilft, ihnen nützt und das Leben bereichert. Darum gehen die Christen mit einem demütigen Selbstbewusstsein (17) auf die Mitmenschen zu und bieten sich selbst und ihre Dienste an, die das Leben lebenswert machen können. Caritative Zentren der Kirche - besonders die Beratungsdienste - sind nicht nur Orte, an denen die leibliche Not gelindert wird, sondern sind darüber hinaus auch Orte, an denen Christen von ihrer Verbundenheit mit Christus Zeugnis geben. Wenn der Christ besucht wird oder wenn er einen Besuch macht, dann besteht für den Gegenüberstehenden die Chance, neuen Lebensmut zu empfangen, weil eine Horizonterweiterung stattgefunden hat. Es ist offensichtlich, dass Not den Menschen einengt und unsicher macht. Das Gespräch, die Anteilnahme an seinem Schicksal, verändert die konkrete Not. So besteht die Aufgabe der Kirche im Leben des Glaubens und in der Verkündigung der Frohbotschaft. Ü;ber dieses heilsnotwendige Tun der Kirche gibt das Schreiben der Deutschen Bischöfe vom November 2000 Auskunft: "Zeit zur Aussaat."
3. Der Inhalt des Besuches
3.1. Zeugnis des Lebens
Das Schreiben der Deutschen Bischöfe lädt zunächst zum "Zeugnis des Lebens" ein (18). Diese Haltung prägt das missionarische Tun und verleiht im einen liebvollen und ansprechenden Charakter. Zitat:
Wenn Menschen aus dem Glauben leben und dadurch erkennen lassen, wie ernst der Glaube im Leben genommen wird, dann weckt dieses "Zeugnis ohne Worte" den Wunsch, mehr von diesem Glauben erfahren zu dürfen... Denn der erste Schritt zum Christwerden gründet in der Erfahrung, Menschen kennen gelernt zu haben, die als überzeugte Christen leben. (19)
Der Nichtchrist tritt in das Leben der Christen ein, er besucht sie in ihren Räumen und lernt zugleich ihre Innenräume kennen. Das sind oft Erfahrungen, die mit Verwunderung, Staunen und Begeisterung einher gehen. Wir Christen sind uns oft nicht bewusst, welche Bedeutung der Lebensstil des Christen hat. Wir werden genau beobachtet. Die ersten Kontakte zwischen Jesus Christus und den Jüngern Andreas und seinem Freund, dessen Namen wir hier nicht erfahren, bestehen darin, den Wohnraum Jesu aufzusuchen. "Kommt und seht" (20) ist seine Einladung. Der Besuch bei Jesus Christus hat ihr Leben verändert.
Die Gastfreundschaft wird als besondere Tugend er Christen vorgestellt. Ein Kirchenlehrer des 3. Jahrhunderts wird zitiert, der auf die Frage, wie jemand Christ werden könne, geantwortet hat: "Ich nehme ihn ein Jahr als Gast in mein Haus auf." (21) "Ich geben dir die Chance, mich zu besuchen" ist hier der Anfang des Glaubens. Der Besuch beschränkt sich nicht darauf, dass der Christ sich besuchen lässt, sondern dass der Christ zugleich mit seinem Glauben den Nichtchristen besucht, ihn in sich einlässt mit seinen neuen Gedanken und einen Raum der Begegnung schafft. In diesem Raum muss dann das Wort gesprochen werden, das aufhilft und sich der Hilfesuchende nicht selbst zusagen kann.
3.2. Zeugnis des Wortes
Eingangs wird die missionarische Haltung gekennzeichnet mit der Empfehlung, eine "Zurückhaltung im Sprechen, eine Art Feinfühligkeit" (22) zu üben. Sicherlich gilt diese Empfehlung zur Feinfühligkeit nicht nur den Worten mit religiösem Inhalt, sondern hat auch schon mit den Fragen des Lebens zu tun wie Gesundheit, Finanzen und familiäre Beziehungen. Wenn ich einen Mitmenschen aufsuche, darf ich einerseits nicht mit Ü;berheblichkeit kommen, sondern muss mit der Haltung der Liebe ihm begegnen, damit meine Worte auf Verständnis stoßen. Die Zurückhaltung darf jedoch anderseits nicht dazu führen, dass ich alles verschweige, was mir lieb und wert ist. Die Bereitschaft zum Zeugnis, Auskunftsfähigkeit und Sprachfähigkeit wird vom Christen erwartet (23). An den "Orten der Verkündigung" - besonders am Ort der Eucharistiefeier - besteht die Chance zum "Besuch der Frohen Botschaft", die von konkreten Christen weitergegeben wird. Darüber hinaus wird der Familienkreis, Bibelkreis und die Familie selbst als Ort der Glaubensweitergabe genannt. (24) Weiterhin gelten Katechese und Religionsunterricht als Räume des Glaubens, in denen Gäste willkommen sind, die nach Weitung des Lebenshorizontes verlangen. (25)
Schließlich soll der Raum der Medien eigens hervorgehoben werden als ein Raum der möglichen Begegnung, als ein Raum des Besuchs, der zur gegenseitigen Bereicherung führt. "Ich besuche dich" kann hier bedeuten: Ich bringe dir eine gute Nachricht am Morgen und Abend in einer Andacht und auch bei der Ü;bertragung eines Rundfunkgottesdienstes oder mit einem Bericht über den Weltjugendtag oder über den Besuch des Papstes in Bayern. Mit solchen Sendungen dringt der Glaubende in die Wohnungen der Mitmenschen ein. Sie haben - wie bei einem Besuch an der Wohnungstür - die Möglichkeit, zu öffnen oder sich zu verschließen. Ich kann das Radio oder den Fernseher anschalten oder abschalten. Der Besuch lässt dem Besuchten alle Chancen zur Selbstbestimmung. Die eingangs genannten Kriterien für einen Besuch müssen auch hier Berücksichtigung finden: Hochachtung vor der persönlichen Entscheidung der Mitmenschen - bis hin zum Respekt vor der Ablehnung.
4. "Ich besuche dich" - eine große Chance und Herausforderung
Die biblischen Beispiele haben uns den Horizont aufgezeigt, der durch den Besuch eröffnet wird. Hier waren die Kriterien genannt:
- Unverhoffte Begegnung
- Kontaktnahme
- Beziehungen
- Loslassenkönnen/Loslassenmüssen
- Schweigende Anteilnahme
- Zuhören und Reflektieren
- Wahrnehmen des Heils
- Lobpreis der Größe Gottes.
Die konkreten Beispiele scheinen mir die biblischen Kriterien widerzuspiegeln, abzubilden, zu konkretisieren und das Defizit aufzuzeigen, das wir Menschen dabei haben. Die heilige Elisabeth von Thüringen hat nach unserem Wissen in ihrer caritativen Tätigkeit in höchster Vollkommenheit das biblische Vorbild beachtet. Besonders die Selbstlosigkeit war ihre Tugend und hat sie in ihrem Streben nach Christusähnlichkeit uns allen zum Vorbild werden lassen. Die Selbstlosigkeit zeigte sich in ihrer Fähigkeit, loslassen zu können, schweigend Anteil zu nehmen am Leid der Mitmenschen und dabei nicht tatenlos zu sein. Sie zeigte sich auch in der Fähigkeit, die Gegenwart Gottes nicht im eigenen guten Werk, sondern in den Armen und Kranken zu sehen, um die sie sich sorgen wollte. Sie wurden nicht erst zum Christusbild, weil sie sich um sie gesorgt hat, sondern sie waren es schon und Elisabeth hat sie in diesem neuen Licht und mit den neuen Augen des Glaubens gesehen.
Das Elisabethjahr veranlasst viele Einzelpersonen und Institutionen zu Aktivitäten, die geplant und durchgeführt werden. Gremien beraten über die Effektivität der Aktionen. Die unverhoffte Begegnung mit den Engeln hatte Abraham die Nähe zu Gott gebracht. Er hatte sich dieser plötzlichen Situation gestellt und situationsgerecht gehandelt. So ermutigt auch Elisabeth dazu, spontan und vielleicht auch unüberlegt Gutes zu handeln. Die Nachhaltigkeit, die heute bei Aktivitäten eine große Rolle spielt, war für sie nicht das erste Kriterium für eine Tat der Liebe. So ist es wohl auch für mich ein Grund, bisweilen ohne die Frage nach der Nachhaltigkeit Gutes zu tun, wenn ich auch alle unterstützen will, die konstruktiv handeln und Hilfe anbieten wollen, die das Leben grundsätzlich stützt.
Es ist hilfreich, in diesem Jubeljahr alle Tugenden der heiligen Elisabeth zu studieren, um den Mut zu finden, selbst Christus präsent zu machen. Die Erfahrungen des Besuchs mit seinen Wechselwirkungen und Horizonterweiterungen sollen dabei eine Kostbarkeit werden, die uns das Elisabethjahr 2007 schenkt.
Anmerkungen
(1) R. Hartmann, Art. Besuchsdienst, in: LThK II, Freiburg (Sonderausgabe) 20063, 329.
(2) K. Baumgartner, Diakonie im Geist, in: Ders. (Hrsg.) Gemeinde gestalten, Regensburg 1999, 35-67, hier 56-67.
(3) Ebs. 56.
(4) Vgl. das Schaubild ebd. 57.
(5) Ebd. 59f.
(6) Ebd. 59.
(7) Ebd. 60.
(8) Ebd. 60, zitiert aus: A. Schmitt-Habersack, Besuchsdienst im Krankenhaus. Ein Ehrenamt für die Frau? in: M. B. Merz/J. Müller (Hrsg.), Auftrag und Praxis des Pfarrgemeinderates, München 1991, 86-92, hier 91f.
(9) Ebd. 61.
(10) Vgl. Seelsorgeamt Erfurt (Hrsg.), Leporello "Sei barmherzig wie der Vater im Himmel", Erfurt 2006.
(11) Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die Deutschen Bischöfe Nr. 84, Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen" (Hebr. 13,3). Der Auftrag der Kirche im Gefängnis, Bonn 2006.
(12) Ebd. 44-46.
(13) Ebd. 45.
(14) Ebd. 39.
(15) Ebd. 39 zitiert aus: Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes", Nr. 1, in: Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg 1966, 449.
(16) Vgl. die Aussagen über das "Demütige Selbstbewusstsein" in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die Deutschen Bischöfe Nr. 68. "Zeit zur Aussaat". Missionarisch Kirche sein, Bonn 2000, 13f.
(17) Ebd. 16f.
(18) Ebd. 16.
(19) Joh 1, 39.
(20) Vgl. ebd. 17.
(21) Ebd. 17.
(22) Vgl. ebd. 18-20.
(23) Vgl. ebd. 20.
(24) Vgl. ebd. 21.