Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2000

JOACHIM WANKE

Bischof von Erfurt

Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2000

Der dreifaltige Gott - unser Leben und unser Glück

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

"Ich bin gut aufgenommen worden!" - hörte ich kürzlich jemanden sagen, der eine neue Arbeitsstelle antreten musste. "Erst hatte ich große Sorge, ob ich den Wechsel packe - aber die neuen Kollegen haben es mir leicht gemacht!"

Das ist eine gute Erfahrung: willkommen sein, angenommen werden. Wer etwa durch Arbeits- und Wohnungswechsel bedingt in eine fremde Pfarrgemeinde kommt, wird sich freuen, wenn ihn Gemeindemitglieder ansprechen, ihn einladen bzw. ihn spüren lassen: "Wir freuen uns, dass Sie und Ihre Familie jetzt bei uns wohnen."

Ich knüpfe einmal an diese Erfahrungen an, um uns im Jubiläumsjahr unserer Erlösung daran zu erinnern: Wir sind beim dreifaltigen Gott willkommen. Er will uns gut "aufnehmen". Er will uns mehr und mehr in sein Leben hineinziehen, uns immer tiefer mit sich in Liebe verbinden.

I. Die Einladung hören: Bei Gott willkommen sein

Jesus hat in seiner bildhaften Sprache das kommende und jetzt schon beginnende Leben mit Gott mit einer Einladung zu einer Hochzeitsfeier verglichen: Das Fest ist bereitet, die Einladungen sind ergangen, nehmt teil an der Freude Gottes! Ihr seid bei ihm willkommen!

In diesem Bild wird das, was wir im Glauben erhoffen und erwarten, gleichsam auf den Punkt gebracht: Ziel und Erfüllung unseres Lebens ist die Teilnahme am Leben des dreifaltigen Gottes selbst, am "Fest aller Feste", das unser unersättlich lebenshungriges Herz zwar ersehnt, aber letztlich sich nicht vorstellen kann.

Wir haben in den drei vergangenen Jahren bei der Vorbereitung auf den Jahrtausendwechsel auf Jesus Christus geschaut, der uns vom Vater Kunde gebracht hat, auf den Geist Gottes, der uns zum Vater ziehen will, und auf den Vater selbst, den Schöpfer und Urgrund allen Seins. Der christliche Glaube bekennt, dass dieser dreifaltige Gott eine Gemeinschaft der Liebe ist, intensiver noch und seliger, als Menschen durch herzliche Liebe miteinander verbunden und glücklich sein können. Irgendwie sind Liebende zwar verschieden, aber sie sind doch auch eins. So unterscheiden wir zwar in Gott gleichsam drei Personen, aber diese drei sind untrennbar eins und selig in ihrer Liebe zueinander. Aber eben nicht nur zueinander.

Wir müssen sofort hinzufügen: Gott will uns in sein Leben hineinziehen. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind nicht Gemeinschaft, die andere ausschließen will. Ihre gegenseitige Liebe schafft keine Zäune und Mauern. Sie drängt dazu, alle an der Seligkeit der eigenen Liebe teilhaben zu lassen.

Ich gebrauche einmal diesen Vergleich in Anlehnung an heutige naturwissenschaftliche Erkenntnisse: Gottes Leben und seine beseligende Liebe expandieren so in die gesamte Schöpfung hinein, wie die Materie sich nach dem Urknall in unaufhörlicher Ausdehnung befindet. Das ist für meinen kleinen Verstand eine im Grunde unfassliche Vorstellung. Aber es gibt Indizien, die diese Aussage glaubhaft machen. Und ich meine: Ebenso gibt es seit Jesus von Nazareth glaubwürdige Indizien dafür, die Zielsetzung der Entwicklung des gesamten Universums als unaufhörliche Expansion der Liebe des dreifaltigen Gottes zu verstehen. Gott will mehr und mehr seiner Geschöpfe, Generation um Generation in seine Liebe einbeziehen. Er will einen Kosmos der Liebe, zu dem auch wir gehören sollen, Ihm zur Ehre und uns zum Heil und zur Seligkeit.

Ich verstehe, dass manchmal Menschen sagen: "Das kann ich nicht glauben. Die Welt, so wie sie ist, kann nicht von einem liebenden Gott erdacht und zugelassen sein. Schau doch nur auf das Elend und das Leid, über das täglich aus aller Welt berichtet wird!" Und auch uns selbst können Leid und Schmerz hart und unerbittlich packen. Ist nicht jede Krebszelle eine Widerlegung eines liebenden Gottes?

Ich habe im letzten keine Antwort auf diese notvollen Fragen. Aber im Blick auf unseren gekreuzigten Herrn und sein österliches Leben glaube ich: Gott kann und wird uns durch Leiden und Tod hindurch zum Leben führen. "Des Todes Dunkel ist erhellt", singen wir an den Gräbern unserer Lieben, auch wenn wir dabei weinen müssen.

Mich persönlich bedrängt auch diese Frage: Warum sollte der gewaltige Gott, der Urgrund allen Seins und des unfassbaren Universums, gerade an mir ein Interesse haben, scheinbar an einem Zufallsprodukt der Evolution, wie manche Wissenschaftler meinen, in milliardenfacher Kopie schon jetzt auf Erden vorhanden und so hinfällig, dass jede Herzkranzverengung mich in Sekundenschnelle zum Tode befördern kann?

Ich höre dann, belehrt durch die Glaubenserfahrung der Heiligen und das Wort der Heiligen Schrift diese Antwort: "Du hast Recht: Es gibt keine Begründung dafür, gewollt und geliebt zu sein. Es gibt vor allem kein Anrecht darauf. Die wirklich kostbaren Dinge im Leben, Freundschaft etwa, Treue oder Liebe bekommst Du ohnehin geschenkt. Du verdankst Dich selbst - möge diese Horrorvision nie Wirklichkeit werden! - keinem ehrgeizigen Biogenetiker, der Dich in der Retorte gezeugt hat. Du verdankst Dich Eltern, die Dich gewollt und angenommen haben. Warum kannst Du nicht glauben, dass Dich ein liebender Gott ins Dasein gerufen hat, der nicht nur ein lebloses Spielzeug haben wollte, sondern ein lebendiges Herz, das ihm in Freiheit auf seine Liebe antwortet?"

Ich verstehe immer besser den Apostel Paulus, wenn er im Blick auf Gottes Wesensart sagt: "Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!" (Röm 11,33). Wir wundern uns ja auch manchmal, wenn wir ein in unseren Augen recht ungleiches, scheinbar nicht zusammenpassendes Paar sehen. Wir sagen dann: "Was mag er wohl an ihr - oder sie an ihm nur finden?" Und dann fügen wir hinzu: "Die Liebe fällt eben, wohin sie will. Sie ist im Letzten unbegreiflich." "Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt", hat der große Menschenkenner Blaise Pascal einmal gesagt.

In der Tat: Gott hat seine Gründe, die unser menschlicher Verstand nicht kennt. Aber eben dies ist die Herzmitte der Botschaft Jesu, die er durch sein Leben und Sterben bezeugt hat: "Er, der Vater selbst liebt euch!" (Joh 16,27). Gott sehnt sich, menschlich gesprochen, danach, dass wir ihm durch unser Leben, Leiden und Sterben jene Antwort der Liebe geben, die der Sohn im Heiligen Geist in seiner Erdenzeit dem Vater gegeben hat und ihm in Ewigkeit gibt. Gott will "Mit-Liebende", damit er uns in sein ewiges Spiel der Liebe hineinnehmen kann, in das Fest aller Feste, das unser Vorstellen und Begreifen übersteigt.

II. Neu die Antwort geben: Sich in Gottes Liebe festmachen

Unser Herz in der Liebe Gottes tiefer verankern und auf diese Liebe sich einlassen - das ist die Einladung, die in dieser österlichen Bußzeit wieder neu an uns ergeht. Wie kann das in diesen Wochen Gestalt annehmen?

1. Freiräume sichern: für uns selbst und für Gott

Die größte Gefahr für unser Christsein geht nicht von Glaubenszweifeln aus, sondern von pausenlosem Beschäftigtsein. Ich gebe zu: Unsere Welt ist "fordernder" und "lauter" geworden. Leistungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit werden großgeschrieben - und keiner fragt, woher dafür die Kräfte kommen sollen. Wir werden mit Informationen zugeschüttet - und wissen doch oft nicht, was wirklich wichtig ist. Wir werden pausenlos unterhalten - und vergessen, wie es eigentlich in unserem Innersten aussieht.

Die Fastenzeit ist eine Chance, wieder neu einige feste Freiräume, gleichsam "Ruhezonen" in unseren Alltag einzubauen und diese streng zu sichern. Freiräume für mich selbst, für den Ehepartner und die Familie, für Gott. Wie fängt mein Tag an? Wie endet er? Gibt es die Chance, sich einmal ruhig mit den Angehörigen zu unterhalten - oder bin ich pausenlos gehetzt und entsprechend überreizt? Sichere ich mir feste Zeiten im Tages- und Wochenablauf für das Gebet, für das Lesen und Bedenken der Heiligen Schrift, für die geistliche Besinnung? Es darf durchaus auch Ablenkung und Unterhaltung in unserem Alltag geben - aber das Fernsehen beispielsweise darf nicht den Charakter einer "Besatzungs-macht" annehmen!

Leitende Manager gehen heute manchmal für einige Zeit ins Kloster und lernen, in der Stille wieder zu sich selbst zu finden. Unsere christliche Tradition kennt bewährte Wege der inneren Einkehr und Umkehr. Manche Leute bezahlen heutzutage viel Geld dafür, einmal fasten zu können. Sollten wir uns selbst nicht einmal in den kommenden Wochen eine individuelle Fastenordnung auferlegen? Es gibt Angebote, Exerzitien mitten im Alltag zu machen, begleitet von einer Gruppe, die mich dabei unterstützt. Ü;berlegt einmal in den Familien, in den Gemeinde- und Verbandsgruppen, wie wir uns gegenseitig helfen können, Freiräume zu sichern, in denen Gottes Geist in unseren Lebensalltag eindringen kann. Ohne eine solche souveräne Freiheit gegenüber dem pausenlosen Beschäftigtsein und Unterhalten-Werden kann man heute kein Christ sein.

2. Frust und Leiden positiv einklammern

Es gibt kein menschliches Leben ohne Frust und Leid: Ärger im Beruf, Spannungen mit Vorgesetzten, mit Mitmenschen, Missverständnisse zwischen den Generationen, die bittere Erfahrung, nicht gebraucht zu sein, Undankbarkeit und Lieblosigkeiten in unterschiedlichster Gestalt. Und schließlich seelische und körperliche Leiden, bis hin zu Todesängsten.

Das meiste davon können wir nicht ändern, zumindest nicht auf Dauer. Wir müssen mit solchen Erfahrungen leben. Auch Jesus ist das Leid nicht erspart worden, auch nicht den Heiligen. Wir können nur eines tun: Wie bei einer mathematischen Klammer können wir vor diese ungeliebten Wirklichkeiten unseres Lebens ein großes "Plus" setzen. Und damit meine ich: diese Lasten als Chance zu sehen, sich in der Geduld und in der Hoffnung zu bewähren. Die wahre Liebe darf am anderen nicht irre werden, auch wenn sie ihn und sein Handeln augenblicklich nicht versteht. "Mein Gott, muss das sein?" - Das gehört auch zu meinen häufigsten Stoßgebeten. Vermutlich werde ich manchmal auch selbst anderen Anlass geben, sich in Geduld üben zu müssen.

"Mein Gott, ich verstehe Dich jetzt nicht - aber ich stimme deinem Handeln zu!" Eine solche Ergebenheit in Gottes Willen wird mich nicht hindern, gegen das Leid anzugehen, das wir aus eigener Kraft beseitigen können, besonders jenes Leid, das wir uns gegenseitig zufügen. Aber es wird, bei bestem Wollen, noch eine Menge an Leid und Frustrationen übrig bleiben, die es zu tragen und zu ertragen gilt. Die Fastenzeit ist eine Möglichkeit, in dieser positiven Annahme des unabänderlichen Leides zu wachsen. Es ist uns nicht verheißen, dass wir ohne "Wunden" durchs Leben kommen. Wer liebt, gerade der macht sich oft verwundbar. Aber solche "Wunden" werden einmal kostbare Osterzeichen an unserem verklärten Leib der Herrlichkeit sein.

3. Die großen und kleinen "Gehhilfen" Gottes nutzen

Auf einem längerem und beschwerlichen Weg benutzt man gern Hilfen, Wegkarten etwa, festes Schuhwerk oder einen Stock für steiniges Gelände. Kann ich dieses Bild auf unseren Glaubensweg anwenden? Ob Gott uns einmal am Ende nicht fragen wird: Warum hast Du nicht die Mittel genutzt, die ich Dir als Hilfe gegeben habe?

In den drei Vorbereitungsjahren auf die Millenniumsfeier haben wir manches miteinander bedacht, was uns von Gott an "Wanderhilfen" für unseren Christenweg in dieser hektischen Zeit gegeben wird.

Im Christusjahr: Jesu Wort und Weisung, uns zugänglich in der Heiligen Schrift und der Lehre der Kirche, gibt klare Orientierung, auch heute.

Im Heilig-Geist-Jahr: die Gabe der Unterscheidung der Geister. Gottes Geist gibt uns "Geschmack" am Guten, einen untrüglichen Instinkt für das, was Gott gefällt.

Im Gott-Vater-Jahr: In aller Unsicherheit gegenwärtiger Umbrüche und Krisen schenkt der Vater im Himmel die Kraft, uns in seiner Vorsehung getragen und geführt zu wissen. Wir dürfen das uns Mögliche tun, im Vertrauen darauf, dass er alles, auch das, was uns nicht gelingt, einmal vollenden wird.

Ich bitte die Seelsorger, den einen oder anderen Gedanken aus meinen letzten drei Fastenhirtenbriefen in der Verkündigung und Seelsorge nochmals aufzugreifen, beispielsweise meine Hinweise auf die kleinen Gebete, die vielleicht für den einen oder anderen zum täglichen Gebetsschatz geworden sind.

Hinweisen möchte ich vor allem auf die Sakramente. In ihnen gibt uns Gott untrügliche Zeichen seiner Nähe und Liebe. Ich empfehle euch das Bußsakrament. Wir müssen gottlob nicht wie derzeit manche Politiker im Fernsehen beichten. Und was besonders wichtig ist: Uns wird in diesem Sakrament die Absolution gegeben, die von der Öffentlichkeit manchem unbarmherzig verweigert wird. Wer mit Gott und den Menschen versöhnt ist, der wird neuen Lebensmut fassen.

Und ich empfehle euch die Mitfeier der Heiligen Messe. Sie ist das kostbare "Andenken" an das Sterben und Auferstehen unseres Herrn, an jenes Geheimnis, aus dem wir alle leben. Man kann die Messe nur richtig mitfeiern, wenn man sein eigenes Leben auf dem Opferaltar mit Jesus dem Vater zur Verwandlung anbietet. Das ist durchaus anspruchsvoll. Aber dieses Absterben des alten Adam in uns selbst lässt den neuen Menschen wachsen. Allein dieser neue Mensch wird einmal an Gottes ewiger Freude teilhaben.

Wieder empfehle ich allen für die Fastenzeit ein kleines, uns aus der Heiligen Messe vertrautes Gebet als Herzensgebet im Alltag:

"Durch Christus und mit ihm und in ihm ist dir, Gott, allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes, alle Herrlichkeit und Ehre jetzt und in Ewigkeit.

Oder einfach das andächtig gebetete und den ganzen Körper einbeziehende Kreuzzeichen, damit, was jetzt im Namen des dreifaltigen Gottes geschieht, von seinem Segen begleitet wird und einmal in sein seliges Leben, in das Fest seiner Liebe einmünden kann.

Dazu segne euch jetzt der gute und allmächtige Gott - der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen



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