Gott Gott sein lassen

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr am Ostersonntag 17. April 2022

Bild: Sr. M. Jutta Gehrlein; In: Pfarrbriefservice.de

Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,

die Nachrichten über den Krieg in der Ukraine erschüttern uns nachhaltig. Zusätzlich zu dem, was Menschen sich dort gegenseitig antun, erschüttert mich, dass Christen auf Christen schießen und dass die Mächtigen dies in der Absicht tun, damit christliche Traditionen und Werte zu verteidigen.

In einem erschreckenden Ausmaß wird Gott vor den Karren menschlicher Machtinteressen gespannt. Das ist mit dem Gott und Vater Jesu Christi aber nicht zu machen! Er entzieht sich all unseren menschlichen Absichten und Plänen. Er lässt sich nicht auf Geschäfte mit uns ein. Das gilt auch für unsere kleinen „deals“, die wir mit Gott versuchen: „Wenn ich die Krankheit überstehe, mache ich eine Wallfahrt nach Lourdes.“ Für viele Lourdes-Pilger ist das das Motiv ihrer Wallfahrt.

Gott aber ist größer als unsere kleine Welt, als unsere Pläne und Wünsche. Das wird sogar im Festgehalt der großen christlichen Feste erkennbar: Was ist das konkret greifbare Osterereignis? Ein leeres Grab!

Der Kirchenhistoriker Hans Freiherr von Campenhausen schrieb 1952 in einer Abhandlung über den Ablauf der Osterereignisse: „Man fand und zeigt aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich ein leeres Grab“. (1) Schon in der Bibel wird berichtet, dass es dafür auch andere Erklärungen gab: „Noch während die Frauen unterwegs waren, siehe, da kamen einige von den Wächtern in die Stadt und berichteten den Hohepriestern alles, was geschehen war. Diese fassten gemeinsam mit den Ältesten den Beschluss, die Soldaten zu bestechen. Sie gaben ihnen viel Geld und sagten: Erzählt den Leuten: Seine Jünger sind bei Nacht gekommen und haben ihn gestohlen, während wir schliefen. Falls der Statthalter davon hört, werden wir ihn beschwichtigen und dafür sorgen, dass ihr nichts zu befürchten habt. Die Soldaten nahmen das Geld und machten alles so, wie man es ihnen gesagt hatte. Und dieses Gerücht verbreitete sich bei den Juden bis heute.“ (Mt 28,11-15)

Der eigentliche Festgehalt von Ostern, die Feier der Auferstehung Christi, bleibt im Unfassbaren und Unbegreiflichen. Es übersteigt unsere menschliche Sinnenwelt und unsere menschliche Vorstellungswelt. Die Bibel beschreibt diese Welt meist mit dem Begriff  doxa, was man im Deutschen mit den Begriffen Herrlichkeit, Glanz oder Ehre wiedergeben kann; Wirklichkeiten, die zwar einen sichtbaren Niederschlag finden, die aber eigentlich nicht greifbar, die sich nicht hieb- und stichfest nachweisen lassen.

Das zeigen auch die Berichte von der Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngerinnen und Jüngern: Maria von Magdala und die Emmausjünger erkennen Jesus zunächst nicht. Er kommt in den Raum trotz verschlossener Tür. Zu Maria von Magdala sagt der Auferstandene: „Halte mich nicht fest.“ (Joh 20,17)

Auch der Festgehalt der beiden anderen höchsten christlichen Feste ist im Konkreten recht unauffällig. An Weihnachten feiern wir die Geburt eines Kindes unter schwierigen äußeren Umständen. Die himmlischen Heerscharen wurden nur von ein paar Hirten vernommen. Und der Inhalt des Pfingstfestes besteht im Wesentlichen darin, dass die Jünger Christi sich getraut haben, von der Auferstehung Christi zu erzählen und dass die Menschen ihnen zugehört haben.

Ostern und die anderen Hochfeste der Christenheit lassen Gott Gott sein und ziehen ihn nicht in unsere menschliche Sinnen- und Vorstellungwelt herunter. Auch der menschgewordene Gottessohn bleibt in der Herrlichkeit der göttlichen Dreifaltigkeit und zieht sich in seiner Himmelfahrt dorthin zurück. So müssen wir uns in unserem Denken und Beten immer der unverfügbaren Größe bewusst bleiben.

Diese Erfahrung können die Gläubigen in Lourdes machen. Einige wenige wurden tatsächlich auf wundersame Weise körperlich geheilt. Fast alle kehren seelisch geheilt und gestärkt wieder, wie sie an diesem Gnadenort erleben, dass dieser unvorstellbar große Gott sie trägt und hält, auch wenn sie ihr Schicksal nicht verstehen. Sie entdecken darin die tiefe christliche Glaubenswahrheit, dass unser Herr und Gott Jesus Christus durch seine Menschwerdung eingetaucht ist in die menschliche Geschichte.

Er behält die Wunden der Kreuzigung, die Spuren der Erlösung von unseren Sünden. Der Jesuit Friedrich Spee hat das in einem Liedtext aus dem Jahr 1623 wunderbar in dichterische Worte gefasst: „Ist das der Leib, Herr Jesu Christ, der tot im Grab gelegen ist? Kommt, kommt, ihr Christen jung und alt, schaut die verklärte Leibsgestalt! Der Leib ist klar, klar wie Kristall, Rubinen gleich die Wunden all, die Seel durchstrahlt ihn licht und rein wie tausendfacher Sonnenschein.“ (GL 331)


(1)    Hans Freiherr von Campenhausen, Der Ablauf der Osterereignisse = Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1952, 4. Abhandlung, S. 39.