Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
in diesem Jahr werden an Silvester viele Menschen an den Silvestertag 1989 denken. Die Erinnerungen waren frisch: Die Mauer war gefallen, die Grenzen waren geöffnet und die friedliche Revolution war erfolgreich. Der Rückblick auf das vergangene Jahr 1989 stand unter einem großen positiven Vorzeichen. Aber es gab auch schmerzliche Erinnerungen. Durch die Flucht in den Westen waren viele Familien zerrissen worden. Noch im Jahre 1989 haben drei Menschen bei Fluchtversuchen ihr Leben verloren. So gab es 1989 nicht nur befreiende, sondern auch beklemmende Erinnerungen.
Beim diesjährigen Jahreswechsel ergeht es uns nicht anders. Im privaten und familiären Leben gibt es frohe und traurige Ereignisse. Das gilt auch für Ereignisse in unserem Land und in unserer Kirche. In unserem Bistum haben wir das 25-jährige Jubiläum gefeiert. Die Bistumswallfahrt am 15. September war ein großartiger Höhepunkt. Zugleich gibt es beklemmende Berichte von Opfern sexuellen Missbrauchs Minderjähriger auch in unserem Bistum.
An Silvester 1989 richteten sich die Blicke und Gedanken aber wohl eher in die Zukunft. Was würde werden? Würde die DDR in veränderter Form weiter bestehen? Würde es eine Vereinigung mit der Bundesrepublik geben? Was würde das für die Menschen in der DDR bedeuten? Für 16 Millionen Deutsche in der DDR war die Zukunft völlig ungewiss. Wir gehen zwar immer in die Zukunft ohne zu wissen, was sie bringen wird. Aber sowohl im gesellschaftlichen als auch im privaten Leben gibt es Faktoren, die uns eine gewisse Sicherheit geben, weil wir davon ausgehen, dass sie bestehen bleiben. Das war 1989 nicht so. Sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft als Ganze war es völlig offen, was kommen würde.
Es ist eine Situation, wie ich sie zurzeit auch in unserer Kirche wahrnehme. Wird sich alles ändern? Wird es noch Priester geben, die die Heilige Messe feiern und die Sakramente spenden? Wird es noch katholische Christen in Thüringen geben? Ein sehr engagierter Diaspora-Katholik sagte mir in diesem Jahr bei einem Gespräch mit Pfarrei- und Kirchorträten, das derzeitige Verhalten der Bischöfe erinnere ihn an das Verhalten des Politbüros in den letzten Monaten der DDR. An den synodalen Weg, den die katholische Kirche in Deutschland beschreitet, knüpfen sich große Hoffnungen, aber auch große Befürchtungen.
Auch im persönlichen Leben wird manch einer von Ihnen mit großen Sorgen und Befürchtungen in das neue Jahr gehen. Vielleicht hat auch schon 1989 ein Trostwort Dietrich Bonhoeffers manch einem Christen Hoffnung und Zuversicht gegeben. Es ist ein bekanntes Lied geworden, das manchmal gesungen wird, um allgemeines Wohlbefinden zu verbreiten. Der Hintergrund dieses Liedes ist allerdings ein sehr ernster und tiefgründiger. Dietrich Bonhoeffer hat dieses Gedicht heute vor 75 Jahren in Gestapo-Haft geschrieben:
Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last,
ach, Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen
das Heil, für das Du uns bereitet hast.
Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus Deiner guten und geliebten Hand.
Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört Dir unser Leben ganz.
Lass warm und still die Kerzen heute flammen,
die Du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht.