Familie: Brunnenstube für Lebens- und Gottvertrauen

Predigt von Bischof Joachim Wanke bei der Frauenwallfahrt zum Kerbschen Berg

Bischof Wanke bei der Frauenwallfahrt: "Dem Leben zugewandt - das heißt für mich: GOTT - dem Erfinder des Lebens zugewandt"...

Thema der Wallfahrt: Dem Leben zugewandt


Lesung: 1 Kön 17,8-16

Evangelium: Mt 14,15-21


Liebe Wallfahrerinnen!


Es wird wieder von Familie gesprochen! Sogar die Politik nimmt sich dieses Themas an. Das ist erfreulich. Es werden Bündnisse für die Familie geschmiedet, es werden Familienoffensiven gestartet. Die Kirchen werden von der Familienministerin um Mitwirkung gebeten. Es wird überlegt, wie man die Familien im Alltag des heutigen Lebens unterstützen kann - finanziell, strukturell, durch Anerkennung der Erziehungsleistung von Müttern und überhaupt: durch allgemeine öffentliche Wertschätzung. Das ist nach jahrelangem Kleinreden, ja sogar teilweiser Verunglimpfung der Familie als Lebensform in der Öffentlichkeit durchaus erstaunlich. (Hier bewahrheitet sich meine Erfahrung: Man muss nur Mut haben, etwas länger altmodisch zu sein - dann wird man wieder modern!)


Was mir in der öffentlichen Diskussion freilich zu fehlen scheint, ist die Einsicht: Familie braucht mehr als finanzielle Unterstützung und wohnungsnahe Kindergartenplätze. Was Familie zur Familie macht, sind gemeinsame Werthaltungen. Familie braucht verlässliche Beziehungen, braucht die verlässliche, eheliche Treue der Eltern zueinander, auf die Kinder elementar angewiesen sind. Und dann kommt sicher noch manches andere hinzu: Familie basiert auf gegenseitiger Liebe und Anerkennung, auf Bereitschaft zum Verzicht, auf durchhaltender Alltagssolidarität und manchen anderen Tugenden, die heute wieder gottlob viel mehr beachtet werden. Und vor allem: Jede Familie, die diesen Namen wirklich verdient, ist "dem Leben zugewandt"!


Und damit sind wir beim Thema unserer diesjährigen Wallfahrt. Natürlich: "Dem Leben zugewandt!" Was sonst?


Aber ist diese Haltung wirklich so verbreitet, wie wir spontan annehmen? Im Jahr 2005 gab es im Freistaat Thüringen 4406 registrierte Abtreibungen, in einem Land also, in dem Kinder dringlichst erwünscht wären. Das ist kein Zeichen für Lebenszugewandtheit. Das ist ein Todeszeichen - ein Hinweis darauf, dass mit unserer Gesellschaft etwas fundamental nicht stimmt. Mich macht nicht nur die hohe Zahl bestürzt, sondern mehr noch die Tatsache, dass die Öffentlichkeit das als scheinbar ganz normal hinnimmt.


Ich deute nur weitere Todeszeichen an, die mitten in der Gesellschaft nicht zu übersehen sind. Junge Leute riskieren mutwillig in jeder Disconacht auf den Strassen ihr Leben; die Suchtabhängigkeiten breiten sich aus; über die Möglichkeit der Euthanasie wird offen diskutiert, und zum Teil wird sie schon als sogenannter Sterbetourismus in die Schweiz, in die Niederlande praktiziert; menschliche Nöte und als Nervenkitzel gesuchte Grenzerfahrungen werden im Privatfernsehen vermarktet; brutale Gewalt ist zunehmend mitten unter uns gegenwärtig.


Ich mache es fest am Menschenbild unserer Werbung: Jung - gesund - stark und schön! Menschliches Leben auf der Schattenseite gerät da zunehmend unter Legitimitätsdruck: "Warum bist du nicht stark, gesund und schön? Vielleicht bist du gar selbst daran schuld?" Für manche Mitbürger wird diese Angst schon sehr konkret, nicht mehr erwünscht, nicht mehr daseinsberechtigt zu sein. "Dem Leben zugewandt?"


Gottlob - das sieht in unseren Familien doch anders aus. Die Mutter bleibt die Mutter, auch wenn sie hinfällig und schwach wird. Und das eigene Kind bleibt das eigene Kind, auch wenn es mit einer Behinderung leben muss. Wo lernt man solche Achtung vor dem Menschen? Wo ist der Quellgrund für solche bleibende, unangreifbare Wertschätzung des Lebens? Ich meine: in der Familie.


Diese beiden Punkte möchte ich in meiner Predigt vermitteln: Die Familie ist die Brunnenstube für Lebensvertrauen und für Gottvertrauen.



I.

In der Familie lernt man, dem Leben zu vertrauen.


Eine der wichtigsten Aufgaben des Menschen ist es, sich selbst, das eigene Leben anzunehmen - und zwar so wie man ist, mit seinen Gaben und Grenzen, mit seinen Licht- und Schattenseiten. Freilich: Es gehört zu den Geheimnissen der Schöpfung, dass Gott beim Menschen diese Selbstannahme an die Annahme durch andere gekoppelt hat.


In der frühesten Kindheit ist es für das Kind entscheidend, die Annahme durch gute Eltern zu erfahren, gegebenenfalls auch durch andere Bezugspersonen, nicht zuletzt auch Großeltern. Man kann nie genug darauf hinweisen: Die Urerfahrung des Kleinstkindes angenommen, gewollt und geliebt zu sein, ermöglicht das eigene Selbstwertgefühl, lockt es hervor, hilft dem sich entwickelnden jungen Menschen, eine Persönlichkeit zu werden. Und wenn wir ehrlich sind - brauchen wir das nicht auch als Erwachsene?


Liebe Wallfahrerinnen!

Ihr dient dem Leben - übrigens auch dem eigenen Leben, wenn ihr euch dem Leben anderer zuwendet. Solche Zuwendung kann sehr unterschiedlich aussehen. Es kann die elementare Hinwendung sein, die eine Mutter ihrem Kinde, eine Großmutter ihren Enkelkind schenkt, aber es kann auch sein die Zuwendung zu einem Menschen, der mir ferner steht. Aufmerksamkeit, Fürsorge, Beachtung, Interesse am anderen, Mitfreude, Mitleiden - das sind Ausdrucksweisen eines Lebensdienstes, der Angst überwindet, der Zukunft eröffnet, der Freude stiftet. Ich werde nicht müde, diesen Satz zu wiederholen, ihn gleichsam tief in unserem Innern zu verankern: dass wir einander haben ist wichtiger, als dass wir viele Dinge haben.


Natürlich haben wir gern auch schöne Dinge. Aber alles Materielle, alle Konsumartikel verlieren ihren Glanz, wenn es niemanden gibt, der sich mit mir darüber freuen kann. Und Verlusterfahrungen, Nöte und Lebenshärten, die keinem erspart bleiben, werden wirklich unerträglich, wenn es niemanden gibt, der mit mir klagen und trauern kann.


Darum schätzt diesen Lebensdienst nicht gering, den jeder von euch leistet, manchmal ganz still und verborgen.

In der Familie haben wir das selbst von unseren Eltern und von Menschen, die es gut mit uns meinten, erfahren. Diese Erfahrung geben wir gleichsam an andere weiter: Dass wir einander annehmen und tragen, hilft uns gegenseitig, die Lebenstapferkeit zu bewahren, das Lebensvertrauen nicht zu verlieren.


Denkt heute einmal bewusst daran: Wem wende ich mich zu? Wen trage ich, manchmal auch: ertrage ich ein Stück weit? Und wer ist für mich Stütze und Halt, für die ich nur dankbar sein kann?



II.

Und damit geht der Gedanke meiner Predigt ganz von allein zu dem, der uns alle trägt und stützt, mehr als Menschen das können: Gott unser Herr, der uns in Jesus Christus sein Herz aufgetan hat. Ich meine: Auch dieses Gottvertrauen kommt aus der Brunnenstube der Familie. Es ist grundgelegt durch gläubige Menschen, die uns durch ihr eigenes Leben Mut gegeben haben, ebenso wie sie auf Gott zu setzen - im Leben und im Sterben.


Ich bin sehr dankbar, dass gerade hier auf dem Kerbschen Berg regelmäßig junge Mütter mit ihren kleinen Kindern zusammenkommen, um diesen Geist eines tiefen Gottvertrauens in sich aufzunehmen. Danke allen, die dieses Familienzentrum durch ihren Einsatz ermöglichen!


Dem Leben zugewandt - das heißt für mich: GOTT - der Quelle des Lebens, dem Erfinder des Lebens zugewandt.


Wie hieß es im Evangelium? Die Jünger wollten die Menschen wegschicken. Sie sollten sich selbst etwas zu Essen besorgen. Jesus aber sagt: "Sie brauchen nicht wegzugehen!" Ein solcher Satz ist für mich Gottesoffenbarung. In Jesu Verhalten leuchtet auf, wie Gott zu uns steht: "Ihr braucht nicht weggehen, um euch selbst euren Lebenshunger fern von mir zu stillen." Das Wunder der Brotvermehrung ist das bleibende und auch uns einschließende Wunder der Liebe Gottes zu seiner lebenshungrigen Kreatur. Nicht von den Broten, sondern von der Liebe des Vaters im Himmel gilt, was im Evangeliumstext berichtet wird: "Und alle aßen und wurden satt."


Das ist auch die innere Zielrichtung der alten Geschichte vom Propheten Elija und der Witwe von Sarepta. Jesus selbst verweist in seiner "Antrittsrede" in Nazareth neben dem heidnischen Syrer Naaman auf diese Frau als große Gestalt des Glaubens. Diese Witwe in ihrer elementaren Not machte ihre Hoffnung nicht an dem fest, was sie im Topf hatte, sondern an Gott, der mehr geben kann als nur zu essen. Denkt an das Eichsfeldlied, wo es in einer Strophe so schön heißt: "(Das) Haus, wo noch der Herrgott gilt, und nicht nur was den Magen stillt; wo felsenfester Glaube die Blicke hebt vom Staube."


Es ist ja nicht so, als ob Jesus nicht die elementaren Lebensnöte kennen würde. In einer Belehrung der Jünger, wo es um das rechte Maß der Sorge geht, nennt er sie: "Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen?" Heute würde Jesus vielleicht so formulieren: "Wo werde ich Arbeit finden? Wie werde ich das Haus, die Wohnung halten können? Kann ich mir im Alter noch einen Heimplatz leisten?"


Ihr kennt die Antwort Jesu, eine für unsere Ohren harte, schwer erträgliche Antwort: "Um all das geht es den Heiden!" Aber Jesus fügt, um gleichsam unser Erschrecken zu dämpfen, die tröstenden Worte hinzu: "Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht." Und dann kommt der Aufruf Jesu zur entscheidenden Sorge, die uns umtreiben soll: mitten in dieser notvollen Welt Anwärter auf Gottes Reich zu werden.


Liebe Wallfahrerinnen!

Gott kennt auch unsere heutigen Lebensnöte. Manche - lasst mich das aber auch einmal sagen - sind eingebildet, wie etwa diese heute grassierende Zukunftsangst, die so manchem unnötig das Leben verdüstert. Solchen Leuten würde ich manchmal wünschen, einige Tage mit den Frauen und Müttern zu tauschen, die nach dem Kriege gleichsam aus Trümmern, aus dem Nichts für sich und die Ihren einen Neuanfang geschaffen haben. Wer hat da gefragt nach Erziehungsgeld und Urlaubsplätzen? Es ist manchmal sehr heilsam, das Heute mit dem Gestern zu vergleichen.


Natürlich: Das Heute hat seine eigene Plage, wie übrigens auch im Evangelium zu lesen ist. Es gibt harte Nöte und berechtigte Sorgen, besonders dort, wo menschliche Schuld mit hineinspielt. Jesus war kein Phantast, kein Träumer. Aber unser Glaube mahnt uns, die rechten Relationen in unseren Sorgen zu wahren.



Lasst mich, aus gegebenem Anlass auch eine Sorge ansprechen, die manche Gemeindemitglieder umtreibt: Wegen des Pfarrermangels würde es demnächst in unseren katholischen Dörfern keine Sonntagsmessen mehr geben. Es ist richtig: Wir müssen in den Eichsfeldorten zusammenrücken und uns auch gegebenenfalls von lieb geworden Zeiten und Gewohnheiten trennen. Aber kein wirklich aus dem Glauben lebender katholischer Christ wird auch in Zukunft ohne den Beistand der Sakramente und ohne die Hl. Messe leben müssen. Wer die Hl. Messe am Sonntag wirklich an die erste Stelle rückt, wird die Messe auch mitfeiern können. Aber wer eine schnelle Entschuldigung fürs Fernbleiben sucht oder bei Kasualfeiern zuerst den Gastwirt nach der besten Zeit fragt und dann den Pfarrer, dem ist nicht zu helfen. Hier wird sich - wie auch früher in DDR-Zeiten - bald wieder die Spreu vom Weizen trennen.


Also: Ohne Zweifel gibt es Sorgen, etwa um den mangelnden Priester- und Ordensnachwuchs aus unseren Gemeinden. Aber diese meine Sorgen würden sich reduzieren, wenn ich wüsste, dass wir im Kern unserer Gemeinden wirklich Gottes Reich und seine Gerechtigkeit suchen - und nicht nur das bisher Gewohnte und Vertraute.


Liebe Wallfahrerinnen!

Dem Leben zugewandt - das heißt, aus einem Vertrauen leben, dass sich nicht nur von dieser Welt her begründet.


Manchmal muss ich im Stillen über die Bemühungen lächeln, mit der heute durch Gesetze und Vorschriften versucht wird, die Gesellschaft humaner zu machen. Ob Antidiskriminierungsgesetze wirklich helfen, Benachteiligungen zu beseitigen? Wer Behinderte, Ausländer und Kinder nicht leiden mag, wird sich auch an solchen Gesetzen vorbeidrücken.


Ich denke manchmal: Wirkliche Humanität muss aus dem Herzen erwachsen, alles andere bleibt ein Notbehelf. Man kann ja auch nicht gesetzlich anordnen, sich morgens als Nachbarn zu grüßen. Wahre Menschlichkeit erwächst aus dem Wissen, dass wir von Gott geachtet werden, dass wir seine geliebten Geschöpfe sind. Darum hängt beides eng zusammen: Lebensvertrauen und Gottvertrauen.


"Ich bin guter Hoffnung" - das ist ein wunderschönes Wort im Mund einer Schwangeren. Auch Maria hat diese Worte gesprochen und dabei das Magnifikat gesungen. Weil sie guter Hoffnung war, dürfen wir alle guter Hoffnung sein, denn sie hat uns Jesus geboren, unseren Erlöser und Heiland.


Und so dürfen auch andere diese Worte wiederholen, auch Männer, auch Bischöfe: Ich bin guter Hoffnung! - weil ich euch in den Händen des guten Gottes weiß. Lasst uns das jetzt in Freude feiern und dafür danken. Amen.



Kerbscher Berg bei Dingelstädt, 21. Mai 2006



Pressemitteilung: "Dem Leben zugewandt"