"Eine gefährlich-schöne Liebesofferte"

Predigt von Bischof Joachim Wanke in der Jahresschlussandacht 2004 im Erfurter Dom

Lesungstext: Mt 25,1-13


In den weihnachtlichen Frieden dieses Jahres ist plötzlich die Naturkatastrophe in Südostasien hereingebrochen. Keiner von uns bleibt unberührt von den Bildern und Meldungen, die uns aus den betroffenen Ländern am Indischen Ozean erreichen. Obleich uns solche Unglücksmeldungen nicht fremd sind - wir können nicht fassen, wie von einem Augenblick zum anderen so viele Menschen in den Tod gerissen werden.


Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Toten, besonders auch unseren deutschen Landsleuten, die jetzt ihre Verwandten und Freunde schmerzlich vermissen. Wir empfinden mit den Verletzten und den von der Flutwelle Geschädigten, die noch Heilung und Hilfe brauchen. Zusammen mit allen Bischöfen in den deutschen Diözesen habe auch ich die Gläubigen am 1. und 2. Januar zu einer Sonderkollekte für die Menschen in den Katastrophengebieten aufgerufen.


Es sind die unterschiedlichsten Reaktionen, die Katastrophenmeldungen wie diese in uns hervorrufen. Die erfreulichste Reaktion ist die einer spontanen Solidarität und Hilfsbereitschaft - ähnlich wie vor zwei Jahren bei der Ü;berschwemmung in Sachsen. So wird es sicherlich auch jetzt sein.


Zum anderen freilich steigt in mir auch das Gefühl einer erschreckenden Hilflosigkeit auf. Trotz unserer enormen technischen Fähigkeiten - wir rechnen einfach nicht mehr mit den Urgewalten der Natur! Die Eisdecke, auf der unsere Alltagswelt sich bewegt, ist entsprechend dünn. Wir haben es in diesen Tagen gleichsam wieder einmal unter uns "knistern" hören - und das ist ein bedrängendes, unheimliches Gefühl. Es macht uns demütig und bescheiden, und zugleich auch sehr nachdenklich.


Es gibt so etwas wie einen Riss in unserem Sicherheitsgefühl, das Aufblitzen einer Ahnung, dass unsere Selbstverständlichkeiten keine Selbstverständlichkeiten sind.

Wir planen und denken voraus und wissen nicht, ob wir das Ende des Jahres 2005 noch erleben werden, so wie die Urlauber, die erwartungsvoll an die Sonnenstrände Ceylons und Thailands reisten und nun ganz woanders angekommen sind. Wir bauen und konstruieren unsere Welt, als seien wir ihr Schöpfer und Herr und könnten ihr Ewigkeit verleihen. Wir leben von Jahr zu Jahr in der Meinung, das ginge so weiter und verdrängen auf diese Weise das, was unser irdisches Leben so kostbar macht: dass es ein Raum der Entscheidung ist für etwas anderes, für den entscheidenden Ü;bergang ins Leben Gottes, der noch vor uns liegt.


"Während sie noch unterwegs waren, um das Öl zu kaufen, kam der Bräutigam - und die Tür wurde zugeschlossen." Die Bildgeschichte Jesu bringt auf den Punkt, worauf es ankommt: die Klugheit und Wachheit, mit der überraschenden Möglichkeit des Türschließens zu rechnen! Das ist es, was uns so schwer eingehen will: dass es keine unbegrenzten Wiederholungsmöglichkeiten gibt.


Unser Welt- und Lebensgefühl rechnet nicht mit geschlossenen Türen. Wir denken: Gekaufte Ware, die mir nicht passt, muss man doch umtauschen können, ein verpatztes Schuljahr muss man doch wiederholen können, - aber, wie ist das mit einem verpatzten Leben? mit einer zerstörten Beziehung? mit einer nicht ergriffenen Chance, die so niemals wiederkommt?


Da spüren wir auf einmal den ganzen Ernst unserer Lage. Es gibt ein Vorher - und ein nicht wiederaufhebbares Nachher. Es gibt ein Angebot - und es gibt die Freiheit, es anzunehmen oder abzulehnen, und zwar endgültig.


Für Jesus ist das biblische Beispiel der Sintflut in dieser Beziehung sprechend - im Blick auf die Flutkatastrophe dieser Tage übrigens von bedrängender Aktualität. Einige Sätze von unserem Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen lesen wir im Matthäus-Evangelium die Worte Jesu: "Denn wie es in den Tagen des Noach war, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein. Wie die Menschen in den Tagen vor der Flut aßen und tranken und heirateten bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging, und nichts ahnten, bis die Flut hereinbrach und alle wegraffte, so wird es auch bei der Ankunft des Menschensohnes sein. Dann wird von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, einer mitgenommen und einer zurückgelassen. Und von zwei Frauen, die mit derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen" (Mt 24,37-41).


Ist das Evangelium also doch eine Drohbotschaft - und keine Frohbotschaft? Das sei ferne! Aber es ist mit Sicherheit keine Botschaft, die uns einschläfern, die uns einlullen möchte - nach dem Motto: "Es ist ja alles nicht so schlimm! Da sorgt schon ein lieber Gott im Himmel für euch, was immer ihr auch anstellen mögt!" Wer so den christlichen Glauben und sein Christ-Sein versteht, der hat beides gründlich missverstanden. Das Evangelium bleibt eine Botschaft der Liebe - aber es ist eine Liebesofferte, die gefährlich-schön ist! Eine Hochgebirgstour ist etwas Herrliches. Stubenhocker und ängstliche Zauderer werden das nie so richtig verstehen, aber ein Wandern auf Hochgebirgspfaden ist gefährlich-schön! Dazu sind wir gerufen, zu einem aufregenden, aber verheißungsvollen Weg, zu einem Fest, das uns verwandeln will! Nicht ohne Grund wählt der Herr das Bild vom Hochzeitssaal. Auf uns wartet keine Beerdigung, sondern eine Auferstehung zu einem Leben, dessen Vorgeschmack in den besten Augenblicken dieses Lebens zu erahnen, aber wohl nie endgültig und auf Dauer zu fassen ist.


Das ist für mich die Botschaft dieses bekannten Gleichnisses Jesu von den unterschiedlichen Jungfrauen: Die Liebe wird das letzte Wort behalten. Ja - das ist sicher. Aber man darf die Liebe nicht in sein Kalkül wie eine Garantie, wie eine Versicherungspolice einsetzen. Da verdirbt man sie, da geht sie verloren, da trägt sie nicht mehr. Der heilige Gott muss ernst genommen werden. Eben das haben die "dummen Jungfrauen" nicht getan.


Liebe Schwestern und Brüder im Herrn! Der Jahreswechsel ist Anlass, wieder nach dem Öl in unserem Lebenskrug Ausschau zu halten. Die kluge Stetsbereitschaft ist eine Haltung, die einem Christenmenschen gut zu Gesicht steht. Ob ich aus heiterem Himmel von einer Flutwelle in den Tod gerissen werde oder von einer Sekunde zur anderen von einem heranrasenden Autofahrer oder einer Herzattacke getötet werde - das ist in der Sache kein wesentlicher Unterschied. Es kommt - wie es im biblischen Text heißt - auf das "Mitgenommen-werden" an. Berufen sind wir alle. Entcheidend ist, dass wir uns in unserer Berufung bewähren und bereit sind, wenn uns von Gott die Tür geöffnet wird, dass wir "hindurchschreiten" und in den Festsaal eintreten!


Ich habe zu Weihnachten eine starke Batterie-Handleuchte geschenkt bekommen, die ein erstaunliches Licht abgibt. In der Gebrauchsanweisung las ich: Es sei wichtig, die Leuchte stets an der Steckdose zu haben. Die Batterien sollten immer geladen sein und man brauche nicht zu fürchten, dass sie durch den Dauer-Anschluss ans Netz geschädigt würden. Seht: So ist das! Angeschlossen-sein ist alles. Das Gerät allein macht es nicht. Damit wir leuchten - vor allem dann, wenn es darauf ankommt -, brauchen wir den Dauerkontakt mit dem Licht, das Gott selbst ist.


Wir wissen nicht, was das neue Jahr uns bringen wird. Das eine oder andere dürfen wir als sicher annehmen, z. B. dass es nicht ohne manche Plagen und Schmerzen abgehen wird, wieder anderes dürfen wir vermuten, z. B., dass Gott uns auch Stunden der Freude bereiten wird - aber das Wichtigste, wozu wir uns heute abend vor Gottes Angesicht verpflichten sollten, ist dies: Was immer Du für mich bereithältst, Herr, lass mich mit Dir verbunden bleiben! Die Ungewissheit soll mich nicht schrecken, und mein mögliches Versagen nicht lähmen - Deine Liebe, Gott, wird das letzte Wort behalten, über mein Leben und über diese Deine rätselvolle, furchtbar-schöne und schrecklich-herrliche Welt! Amen.



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