Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
die Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums ist ein Teil der Weltliteratur. Viele Menschen kennen die Geschichte. Sie ist unendlich oft nachgespielt und mit Liedern umrahmt worden. Die künstlerischen Darstellungen von Weihnachtskrippen sind unzählbar. Es gibt dabei aber Unterschiede, die zeigen, dass die Erzählung des Lukas von der Geburt Jesu nicht so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Wo stand die Krippe, in die Maria das in Windeln gewickelte Jesuskind legte? Im Lukasevangelium heißt es nur: „Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.“ (Lk 2,7). Die Krippe war ein Futtertrog für das Vieh, die wir heute als Raufe bezeichnen. War diese Krippe direkt bei der Herberge oder war sie außerhalb Bethlehems auf den Feldern in einem Stall? Beides kann man in künstlerischen Darstellungen der Weihnachtskrippe sehen und auch manche Krippenspiele gehen davon aus, dass die Krippe direkt hinter der Herberge stand. Es ist auch möglich, dass dieser Futtertrog innerhalb dieser Herberge stand. Im antiken Palästina lebten die Menschen häufig mit dem Vieh unter einem Dach. Archäologische Funde belegen, dass der Wohnraum der Menschen nur durch eine kleine Erhöhung vom Platz für die Tiere abgetrennt war. In dem Bereich, der für die Tiere vorgesehen war, befand sich natürlich auch der Futtertrog. Archäologen haben herausgefunden, dass auch Herbergen mit solch einem Viehstall direkt verbunden waren.
Wenn man das Lukasevangelium genau liest, scheint auch Lukas davon auszugehen, dass die Krippe mit dem Jesuskind nicht auf freiem Feld stand, sondern in Bethlehem. Die Hirten hören von den Engeln die Worte: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren. Er ist der Messias, der Herr.“ (Lk 2,11). Die Hirten sagten dann zueinander: „Kommt, wir gehen nach Bethlehem, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden ließ. So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag.“ (Lk 2,15f). Das würde bedeuten, dass Jesus mitten im Trubel der Stadt Bethlehem zur Welt gekommen ist und dort in einen Futtertrog gelegt wurde. Das könnte bedeuten, dass die Wirklichkeit Gottes in die konkrete Lebenswirklichkeit der Menschen einbrechen möchte und nicht in abgelegene Sonderbezirke. Die Kirchengebäude mitten in den Städten und Dörfern können dafür heute ein Ausdruck sein. Im Jesuskind begibt sich Gott außerhalb des komfortablen Wohnbereiches, wo es nicht so sauber ist und die Nase mit unangenehmen Gerüchen konfrontiert wird. Das lässt uns hoffen, dass Gott auch in dieser Zeit seine Kirche nicht verlässt, in der wir so viel Schreckliches über den Missbrauch an Kindern und Jugendlichen im Raum der Kirche erfahren müssen.
Allerdings hat der Trubel, die Hektik und der Lärm der Stadt auch einen bedeutenden Nachteil: Die Menschen haben das große himmlische Engelheer weder gesehen noch gehört. Der Lärm der Stadt, die Hektik, alle unter zu bringen und zu versorgen und die vielen Begegnungen mit Bekannten, die auch zur Volkszählung nach Hause gekommen waren, haben sie gehörlos gemacht für die Welt Gottes. Für das himmlische Heer der Engel war es so, als trügen alle Kopfhörer und als würde keiner nach oben schauen. Wir kennen diese Situation der Menschen in Bethlehem. Die Uhr treibt uns voran. Uns schwirrt im Kopf herum, was noch zu erledigen ist. Nicht nur durch direkte Gespräche, sondern auch durch Online-Kontakte stehen wir im ständigen Kontakt mit vielen Menschen und keine aktuelle Nachricht darf uns verpassen. Da können wir neidisch auf die Hirten schauen, die sich ganz auf die Sorge um ihre Schafe konzentrieren können und in der Ruhe der Felder Bethlehems die himmlischen Heerscharen sehen und hören können. Wir brauchen den Ausstieg aus der lärmenden hektischen Alltagswelt. Kirchen sind solche Zufluchtsorte. Nicht nur während der Gottesdienste. Es ist bedauerlich, dass Kirchen häufig geschlossen sein müssen. Es ist nicht nur bedauerlich, weil man Sorge vor Vandalismus haben muss, sondern es ist fast noch bedauerlicher, dass niemand die Kirche als Rückzugsort nutzt. Können die beiden Weihnachtsfeiertage solche Rückzugszeiten sein? Es müsste ja alles besorgt und erledigt sein. Kann man zwei Tage offline sein? Offline für elektronische Geräte und offen für Menschen, die die Tage mit uns verbringen und offen für Gott, der in unsere Welt gekommen ist? Die Hirten haben dabei Großartiges entdeckt, nämlich: „Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag.“ (Lk 2,16).