„Vor den Augen von ganz Israel.“ Mit diesen Worten endet das 5. Buch Mose in der Tora, der Heiligen Schrift der Juden. Die letzten dieser Buchstaben werden heute Nachmittag mitten in Erfurt in die neue Tora geschrieben, bevor diese in einem Festumzug zur Neuen Synagoge der Jüdischen Landesgemeinde getragen und dort eingebracht wird.
Die feierliche Zeremonie ist der Abschluss des Projekts „Tora ist Leben“, die öffentliche Vollendung der Heiligen Schrift ein seltenes und im Freistaat bisher einzigartiges Ereignis, das Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow im Themenjahr „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ als einen besonderen Akt des Miteinanders zu würdigen weiß: „900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen zeigen, dass jüdische Kultur unser Zusammenleben seit Jahrhunderten prägt. Das Schreiben der neuen Tora für die Synagoge in Erfurt ist ein Zeichen, das weit über unser Land hinausgeht. Es ist wichtig für alle, die für das friedliche Zusammenleben der Religionen und Kulturen eintreten. Mit dem Projekt ‚Tora ist Leben‘ und seinen zahlreichen Veranstaltungen verbinden wir die Hoffnung, dass sich ein selbstbewusstes Judentum hier in Zukunft noch offener entfalten kann.“
Ramelow dankte den beiden christlichen Kirchen, „dass sie der jüdischen Landesgemeinde eine neue Tora stiften und auf diese Weise ihren Willen zu Versöhnung und Frieden bezeugen.“
Die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands und das Bistum Erfurt hatten die Tora-Rolle der Jüdischen Landesgemeinde geschenkt und auch die Kosten für den Sofer, den Schreiber, übernommen. Dafür konnte der in Berlin lebende Rabbiner Reuven Yaakobov gewonnen werden. Ein Sofer mit großer Erfahrung. Die Tora für Thüringen ist seine 31., aber die erste, die zwei christliche Kirchen einer jüdischen Gemeinde schenkten.
An den für ihn sehr bewegenden Moment als Reuven Yaakobov im Oktober 2019 die Tora zu schreiben begann, erinnert sich der evangelische Landesbischof Friedrich Kramer noch genau. Er und der Bischof des katholischen Bistums, Dr. Ulrich Neymeyr, gehörten zu den wenigen Auserwählten, die damals in der Neuen Synagoge eine Hand auf den Arm des Schreibers legen durften, als dieser die ersten der insgesamt 304.805 hebräischen Buchstaben der neuen Tora mit Feder und Tinte auf Pergament setzte. Kramer und Neymeyr nennen den Tag der Tora-Vollendung ein „starkes sichtbares Zeichen der Verbundenheit und der Solidarität von Juden und Christen“.
„Angesichts der Jahrhunderte währenden Schuldgeschichte der Kirchen gegenüber dem jüdischen Volk ist es nicht selbstverständlich, heute so zusammen zu stehen. Wir danken deshalb der Jüdischen Landesgemeinde, unsere Umkehr und unser Bekenntnis zur Schuld anzunehmen“, so Landesbischof Kramer.
Der katholische Bischof Neymeyr erinnert anlässlich des heutigen Festaktes an die Gemeinsamkeiten der Religionen. „Die Tora ist für Juden und Christen heilige Schrift. Jüdinnen und Juden sind unsere ältesten Geschwister im Glauben. Auch wir Christen verehren den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Das wollen wir mit der Übergabe der Tora-Rolle zum Ausdruck bringen“.
Für Landesrabbiner Alexander Nachama ist die neue Tora nicht nur ein großes, sondern auch ein sehr willkommenes Geschenk in seiner Gemeinde. Sie sei schließlich der zentrale Teil der Gottesdienste und werde dringend gebraucht.
Sein Dank gelte den Kirchen, aber auch allen anderen im Projekt und im Themenjahr Engagierten. Trotz der Corona-Beschränkungen hätten viele Menschen in zahlreichen Veranstaltungen und Workshops teilhaben können an der Entstehung der Heiligen Schrift. „Wissen und Begegnung sind erste wichtige Schritte für Offenheit und Toleranz gegenüber dem Judentum und gegen Antisemitismus. Dass diese Impulse von den Kirchen und zahlreichen Initiativen in ganz Thüringen sowie vom Land Thüringen, insbesondere der Thüringer Staatskanzlei ausgehen, ist ein starkes und ermutigendes Zeichen für die jüdische Landesgemeinde und dafür, dass jüdisches Leben in Thüringen willkommen ist“, so der Rabbiner der Jüdischen Landesgemeinde.
Pressemitteilung Jüdische Kulturtage Thüringen