Eichsfeldtage 2000: Aus der Predigt von Bischof Wanke

Aus der Predigt beim Festhochamt am Sonntag, 10. September, in Leinefelde

"Taube hören und Stumme sprechen" (Predigt zum Evangelium Mk 7,31-37)

Das Evangelium des heutigen Sonntags lässt die Volksmenge angesichts des Wirkens Jesu an den Kranken ausrufen: "Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen" (Mk 7.37). Solche Wunder an Tauben und Stummen wünschte ich mir auch heutzutage! Natürlich - wir haben heute Ohrenärzte und Logopäden, auch Psychotherapeuten und viele andere, die in Konflikten für Leib und Seele den Menschen beistehen. Ich bin überzeugt, dass durch sie auch Gottes Geist Wunder der Heilung wirken kann. Und doch - es gibt leider immer noch viele, die in einem noch tieferen Sinn nicht hören und nicht sprechen können.

1. Unsere Welt ist sehr laut geworden. Ärzte warnen, dass junge Leute durch allzu heftigen "walkman"-Gebrauch bleibende Hörschäden erleiden können. Die vielen Nachrichten, Informationen, Unterhaltungs- und Bildungsangebote überschütten uns. Manchmal sage ich mir selbst: Du musst einfach wieder einmal abschalten - das ist ja alles nicht zum aushalten! Unsere Hörfähigkeit kommt langsam an die Grenzen. Wir hören - und hören doch nicht. Zumindest nicht mehr die leisen Töne. Und die sind bekanntlich manchmal das Wichtigere: der Hilferuf des Nächsten, das Zeichen der Zuneigung und Liebe, die Botschaften, die das Herz aussendet und die keine gewaltigen Phonstärken vertragen. Und dann verstummen auch die möglichen Antworten. Menschen haben sich nichts mehr zu sagen. Das Gespräch zwischen Kindern und Eltern verstummt. Eheleute schweigen sich gegenseitig an. Die Generationen verstehen sich nicht mehr untereinander.

2. Hören und Reden - das sind wesentliche Eigenschaften des Menschen. Unser Ohr, das fähig ist mehr als Klangwellen aufzunehmen, und die Sprache, die Alltägliches, aber auch Worte der Liebe vermitteln kann, beides macht uns zu humanen Wesen. Hörfähig und dialogfähig werden und bleiben - das ist ein wichtiges Erziehungsziel, ja ein unentbehrliches Grundmuster gesellschaftlicher Kultur.

3. Der heutige Festtag der "Eichsfelder Vereine" lebt von Menschen, die hörfähig und dialogfähig sind. "Gesellig" in engerem und weiterem Sinn kann man nur werden und bleiben, wenn wir das Ohr, das Herz und den Mund auftun und Freude haben an echter menschlicher Gemeinschaft. Wo kann man dies lernen?

- Gottlob, noch weithin in unseren Familien. Das Eichsfeld kann stolz sein auf seine traditionsbewussten Familien. Freilich, auch im Eichsfeld "knabbern" die neuen Lebens- und Arbeitsverhältnisse am Zusammenhalt unserer Ehen und Familien. Ich danke allen Frauen und Müttern, die in der Annahme von Kindern und in der zeitaufwendigen Zuwendung zu ihnen eine wertvolle Aufgabe sehen, auch wenn diese manchmal nicht hinreichend von der Gesellschaft gewürdigt wird. Ich danke allen Vätern, die sich um ihre Familien sorgen, oft verbunden mit vielen Ängsten um Arbeitsplatz und Arbeitserhalt. Es gibt keine wichtigere Aufgabe für unseren Staat und für alle, die die öffentliche Meinung beeinflussen können, als diese, unsere Ehen und Familien zu schützen und zu stärken.

Niemand soll diskriminiert werden, wenn er nach seiner eigenen Fasson (etwa in gleichgeschlechtlichen Verbindungen) leben will. Wirklich homosexuelle Menschen sind zu achten und zu respektieren. Aber es geht nicht an, den besonderen Schutz von Ehe und Familie, wie ihn das Grundgesetz vorschreibt, durch eine falsche Gleichstellung mit solchen Lebenspartnerschaften auszuhöhlen. Hier mögen, um bestehende Ungerechtigkeiten zu beseitigen, andere Regelungen des Rechts angewendet werden, aber nicht das Ehe- und Familienrecht. Ich rufe alle Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft auf, sich dieser vermeintlichen Liberalisierung, die m.E. keine ist, zu widersetzen.

Wirkliche Freiheit setzt Mut zur Bindung voraus. Unsere Zukunft liegt nicht darin, dass jeder tun und lassen kann, was er will, sondern dass wir unsere Verantwortung füreinander und die Zukunft erkennen und bejahen. Wir brauchen einen neuen Mut zu Ehe und Familie - und eine öffentliche Meinung, angesichts derer Politiker es wagen können, auch finanziell mehr als bisher für die Familien zu tun.

- Wir lernen "Hör- und Sprachfähigkeit" aber auch durch das Geschenk der Heimat. Mancher mag sagen: Was ist es schon Besonderes, eine Heimat zu haben. Ich sage dennoch: Wer wirklich seine Heimat hochhält und liebt, der wird dafür um ein Vielfaches reich beschenkt.

An diesem Tag wird sicher so manches Lied, so manches Gedicht im Eichsfelder Platt erklingen. Es soll ja sogar junge Leute geben, die wieder das heimatliche Platt sprechen können. Hochdeutsch ist an sich eine "Kunstsprache". Wenn der Mensch reden möchte, wie ihm der "Schnabel gewachsen" ist, gebraucht er gern den heimatlichen Dialekt.

Unsere Vereine pflegen das heimatliche Erbe. Und die bunten Trachten sind nicht nur ein schöner Schmuck von Tanz- und Spielgruppen, sondern auch Ausdruck einer kulturellen Identität, die uns den Alltag unseres Lebens besser bestehen lässt. Zum Eichsfelder gehört nicht nur seine Sprache, sein Brauchtum, sein "Feldkieker", zu ihm gehört auch dieses, gleichsam wie ein unverwechselbarer Charakter: Freude an der Heimat, ihren Dörfern und Städten, ihren Feldern und Auen, ihrer Geschichte und ihrem Wohlergehen. Zum Eichsfelder gehört ein Gespür für die Schönheit der Natur, gehört die Freude am gelungenen Werk, der Zusammenhalt der Nachbarn ebenso wie die Freude am Feiern und der echter Geselligkeit. Und - das füge ich hinzu: Es gehört zu ihm der christliche Glaube, denn der Eichsfelder lebt in dem "Haus, wo noch der Herrgott gilt, und nicht nur, was den Magen stillt". Ich freue mich jedesmal, wenn mir Gemeindemitglieder voll Stolz zeigen, wie sie in ihrer Feldflur ein Keuz oder eine Mariengrotte errichtet oder erneuert haben. Und zu unserem Eichsfeld gehört auch das freundschaftliche Miteinander evangelischer und katholischer Christen. Wir hören gemeinsam auf den, der unser Ohr für sein Wort, das Wort des Lebens geöffnet hat. Und wir antworten ihm im Lobpreis des Herzens und im öffentlichen Gottesdienst. Helft mit, dass dies nicht nur fromme Wünsche des Bischofs bleiben. Helft mit, dass sich am Sonntag vormittags zur Gottesdienstzeit nicht die Sportvereine auf dem Eichsfeld breit machen und an Karfreitagen nicht Preisskat-Turniere ausgetragen werden! Lasst euch nicht das nehmen, worauf ihr zu recht stolz sein könnt: Eine Insel des christlichen Glaubens zu sein und zu bleiben - komme, was da kommen mag.

Mein Dank und meine Anerkennung gilt allen, die zu diesem Eichsfeldtag, auch zu diesem festlichen Gottesdienst etwas beigetragen haben. Solche Tage sind in ihrem Gelingen nicht nur abhängig vom Bereitsstellen von Geldern und der Vorsorge einer Stadt, die umsichtig einen solchen Tag vorbereitet hat. Solche Tage leben davon, dass wir intakte Familien haben - und miteinander unserer Heimat ihre "Seele" erhalten, ja ihr immer neu geben. Möge heute vieles von dieser "Seele" des Eichsfelder Landes zu verspüren sein!



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